Der Evangelische Arbeitskreis der CDU/CSU feiert in diesem Jahr sein 40jähriges Bestehen. Auch im Blick auf dieses Jubiläum habe ich Ihre Einladung zu dieser Bundestagung besonders gerne angenommen. Auf seinen Tagungen setzt sich der Evangelische Arbeitskreis stets nachdenklich mit Fragen von grundsätzlicher Bedeutung für die Unionsparteien und für unser Land auseinander. Vor allem im nächsten Jahr, wenn sich die ganze CDU mit ihrem Grundsatzprogramm beschäftigt, wird Ihren Beiträgen großes Gewicht zukommen.
Ein weiterer wichtiger Grund, weshalb ich gerne hierhergekommen bin, ist das Thema Ihrer Tagung. Europa war für mich nie nur eine Frage der Ökonomie und des Geldes. Es ist gut, wenn wir Christen uns immer wieder klarmachen, dass zu den Fundamenten des geeinten Europa tiefe gemeinsame religiöse und kulturelle Wurzeln der Völker unseres Kontinents gehören.
Wittenberg ist für ein Zusammentreffen des Evangelischen Arbeitskreises der CDU/CSU besonders gut geeignet. Hier in Sachsen-Anhalt befinden wir uns im Kerngebiet der deutschen Reformation. Wittenberg war eine der Hauptwirkungsstatten Martin Luthers. Hier hat er seinen eigenen, seinen inneren Glaubenskampf ausgekämpft. Sein Ziel war keineswegs die Spaltung der Kirche. Aber im Verlauf der theologischen Auseinandersetzung stellte sich heraus, wie tief der Graben war, der sich zwischen seinem Verständnis der Schrift und der kirchlichen Praxis seiner Zeit gebildet hatte. Am Ende der Entwicklung standen sich in Deutschland christliche Konfessionen in verschiedenen Kirchen gegenüber. Dies war die erste Teilung des deutschen Volkes - die wohl folgenreichste in seiner Geschichte. Bis in unser Jahrhundert hat die gegenseitige Ablehnung der Konfessionen das politische und geistige Klima unseres Landes schwer belastet.
Erst vor dem Hintergrund des gemeinsamen Leids, das der Nationalsozialismus auch den Christen beider Konfessionen zufügte, und vor dem Hintergrund der gemeinsamen Bedrohung durch einen nihilistischen Atheismus wurde eine Annäherung erreicht. Die Wurzeln der Union reichen tief in den deutschen Widerstand gegen die nationalsozialistische Diktatur hinein. Ihre Gründung erfolgte in dem festen Willen, in Deutschland nie wieder Diktatur und Krieg zuzulassen. Fast alle der 35 Unterzeichner des Berliner Gründungsaufrufs vom 26. Juni 1945 waren Verfolgte des Naziregimes, allein 15 von ihnen waren Beteiligte, Eingeweihte und dann auch Verfolgte im Zusammenhang mit dem Attentatsversuch gegen Hitler vom 20.Juli 1944.
Aus der Erfahrung des gemeinsamen Widerstands gründeten evangelische und katholische Christen nach dem Krieg die Christlich-Demokratische und die Christlich-Soziale Union. Sie trugen wesentlich dazu bei, dass konfessionell bedingte Gegensätze in Deutschland überwunden werden konnten. Gerade auch der Evangelische Arbeitskreis der CDU/ CSU steht für die Überwindung der konfessionellen Gegensätze in Deutschland. Seit jeher fühlen sie sich dem ökumenischen Dialog verpflichtet. Große Persönlichkeiten des EAK - wie beispielsweise Hermann Ehlers - bleiben dabei Leit- und Vorbild.
Leit- und Vorbild sind uns aber auch jene evangelischen und katholischen Christen in der ehemaligen DDR, die mit großer Wahrhaftigkeit, mutig und unerschrocken die Unterstützung des SED-Regimes verweigert haben. Sie sind dem Grundsatz treu geblieben, dass man Gott mehr gehorchen muss als den Menschen.
Luther ist nicht mehr ein Symbol der Spaltung. Im Gegenteil: In gewisser Weise war er im geteilten Deutschland ein Symbol der Einheit. Protestanten und Katholiken, aber auch Nichtchristen haben 1983 in beiden Teilen Deutschlands bei der Feier seines fünfhundertsten Geburtstags seine Bedeutung gewürdigt. Die Teilung Deutschlands und Europas ist mittlerweile überwunden. Die Mauer durch Berlin steht nicht mehr. Die mit Stacheldraht, Minen und Schusswaffen verbarrikadierte Grenze durch Deutschland gehört der Vergangenheit an. Deutschland hat seine Einheit in Freiheit wiedererlangt.
Dennoch ist manches Trennende geblieben, die Einheit im Inneren noch nicht erreicht. Wir haben manche Schwierigkeiten unterschätzt, die der Vollendung der inneren Einheit entgegenstehen. Ich habe jedoch auch die Bereitschaft der Menschen «Verschätzt, aufeinander zuzugehen. Über 56Jahre Diktatur, über vier Jahrzehnte sozialistisch-kommunistischer Herrschaft und zentralistischer Planwirtschaft im Osten unseres Landes und über vierzig Jahre der Teilung haben in den Herzen der Menschen Wunden geschlagen, die nur langsam verheilen. Damit sie es tun, ist ein offener und ehrlicher Umgang mit der Vergangenheit unentbehrlich. Hier sind alle Deutschen gefordert - auch im Westen, wo doch viele den Gedanken an die deutsche Einheit bis zum Jahre 1989 längst aufgegeben hatten.
Den Menschen in Ostdeutschland wird durch den tiefgreifenden Wandel binnen kurzer Zeit ein ungewöhnlich hohes Maß an Umstellungsbereitschaft abverlangt - im privaten wie auch im öffentlichen Bereich. Auch hier muss sich jeder im Westen nachdenklich fragen, wie er selbst und wie seine Umgebung auf diese Umstellungen reagieren würden. Ich habe sehr viel Verständnis für die Menschen, die sich in dieser Phase des Umbruchs vor allem um ihren Arbeitsplatz sorgen. Es ist bewundernswert, auf welche Weise viele ihr neues Schicksal mutig in die Hand nehmen und nicht in Resignation und Mutlosigkeit verfallen. Die meisten von ihnen schauen bei allen gegenwärtigen Sorgen mit Zuversicht in die Zukunft.
Dafür gibt es auch gute Gründe. Wir haben in den vergangenen 24 Monaten schon viel erreicht. In den neuen Bundesländern gibt es gewaltige Fortschritte: Die Menschen leben in Freiheit. Der Rechtsstaat sichert die Achtung ihrer Würde. Die Einkommen und Renten, die soziale Sicherung der Bevölkerung und ihr Lebensstandard sind trotz aller Sorgen um Arbeitsplätze und Zukunft gestiegen. Der Aufbau von Infrastruktur und modernen Unternehmen in Handwerk und Handel, Mittelstand und Industrie kommt voran. Aber viele Aufgaben, die sich uns heute stellen, waren 1990 nicht absehbar. Viele Erwartungen haben sich nicht so bestätigt, wie wir und andere damals angenommen hatten. Niemand hatte das ungeheure Ausmaß der Manipulation und die durch das SED-Regime vorgetäuschte Leistungskraft der DDR-Wirtschaft richtig eingeschätzt. Niemand konnte den nahezu vollständigen Zusammenbruch des Osthandels absehen. Noch Anfang 1991 waren das Ende der Sowjetunion und ihr wirtschaftlicher Zusammenbruch nicht erkennbar.
Im Sommer vergangenen Jahres habe ich noch mit Michail Gorbatschow über Warenlieferungen aus den neuen Bundesländern im Wert von 25 Milliarden D-Mark gesprochen. Für die Betriebe, die zuvor nahezu vollständig auf die Belieferung der Sowjetunion ausgerichtet waren, hatten und haben die dortigen Ereignisse in der zweiten Jahreshälfte 1991 dramatische Konsequenzen. Heute wären wir sehr froh, wenn wir statt der 25 Milliarden bis Ende dieses Jahres eine Größenordnung von fünf Milliarden D-Mark erreichen würden.
Wir müssen uns aber auch selbstkritisch fragen, ob beispielsweise die sofortige Übernahme des komplizierten Bau- und Planungsrechts der alten Bundesländer nicht ein Fehler war. Die Erfahrung zeigt, dass der in den alten Bundesländern mit Recht beklagte Perfektionismus in Rechtsordnung und Verwaltung auf die Erfordernisse der neuen Bundesländer erst recht nicht passt. Zwei Jahre Deutsche Einheit sind ein Lernprozess für alle Beteiligten gewesen. Im nachhinein würde jeder von uns manches anders machen.
Die Haushaltsdebatte vor zwei Wochen hat gezeigt, in welcher Weise solche Ehrlichkeit vom politischen Gegner und von manchen Medien aufgegriffen wird. Daher ist es wichtig, immer wieder auch darauf hinzuweisen, dass die SPD sich in der entscheidenden Frage - nämlich im Blick auf die Einheit der Nation - geirrt hat. Wir, CDU und CSU, hatten demgegenüber das große Ziel der Einheit Deutschlands in freier Selbstbestimmung nie aus den Augen verloren. Wir haben bei den Grundentscheidungen im Blick auf das Erreichen und die Gestaltung der deutschen Einheit die Weichen richtig gestellt, und es ist Beachtliches erreicht worden. Die öffentlichen Hilfen zur Unterstützung des Aufbaus in den neuen Ländern sind das größte Wirtschaftsprogramm in der Geschichte Deutschlands. Für einen längeren Zeitraum werden wir jährlich vier bis fünf Prozent des Bruttosozialprodukts, also rund 140 Milliarden D-Mark für den Aufbau bereitstellen.
Unsere Nachbarn im Osten beneiden die Menschen in den neuen Bundesländern um Startchancen, von denen sie selber nur träumen können. Und unsere Nachbarn im Westen sehen im Gegensatz zu den Miesmachern hierzulande sehr deutlich, dass wir uns auf Erfolgskurs befinden. Das bekomme ich von ausländischen Besuchern und Gesprächspartnern fast täglich zu hören. Der schnelle Ausbau etwa des Straßen- und Schienennetzes, des Telefonsystems sowie die Modernisierung beispielsweise von Schulen, Krankenhäusern und Einrichtungen der Altenpflege vor Ort werden mit enormen Beträgen unterstützt. Die öffentlichen Investitionen in den neuen Bundesländern liegen pro Bürger mehr als ein Drittel über dem Vergleichswert für die alten Bundesländer.
Für private Investoren sind besonders günstige Förderbedingungen geschaffen worden. Das Entstehen privater Unternehmen in den neuen Ländern ist von entscheidender Bedeutung. Die öffentlichen Förderprogramme haben eine beeindruckende Gründungswelle in Gang gesetzt. Die Zahl der Gewerbeanmeldungen hat seit Anfang 1990 eine halbe Million erreicht. Die Vernichtung des Mittelstandes war eine der schlimmsten Hinterlassenschaften des SED-Regimes. Die Schaffung eines neuen Mittelstandes ist eines unserer vordringlichsten Ziele. Es geht uns vor allem darum, die Möglichkeiten für die Menschen aus Ostdeutschland zu verbessern, einen eigenen Betrieb aufzubauen.
Ich weiß, dass die Umstrukturierung in den neuen Bundesländern für viele Menschen große persönliche Belastungen, ja auch Härten mit sich bringt und dass viele Familien mit Sorge in die Zukunft blicken. Diese Mitbürger brauchen unser aller Verständnis und unsere Unterstützung. Niemand hilft ihnen, indem er sie entmutigt. Ich bin mir bewusst, wie sehr auch der vorübergehende Verlust des Arbeitsplatzes das Leben jedes Betroffenen verändert. Ein Schwerpunkt unserer Maßnahmen liegt deshalb auf der Arbeitsmarktpolitik. Vor allem sind jedoch zukunftsgerichtete Investitionen eine wichtige Voraussetzung für neue, wettbewerbsfähige Arbeitsplätze. Deshalb ist es ein besonderes Anliegen der Bundesregierung, die neuen Länder als Produktionsstandort noch attraktiver zu machen.
Eine der größten Schwierigkeiten für den Aufbau in den neuen Bundesländern ist erst nach dem 3. Oktober 1990 entstanden: In den vergangenen zwei Jahren sind wirtschaftliche Leistungsfähigkeit und Lohne in den neuen Bundesländern weit auseinandergelaufen. Die dadurch entstandene Situation ist bei allem Verständnis für den Wunsch nach rascher Lohnangleichung eine erhebliche Gefahr für viele Arbeitsplätze. Es ist deshalb notwendig, dass die Tarifpartner zu gemeinsamen, maßgeschneiderten Regelungen kommen, die insbesondere der Lage gefährdeter Betriebe Rechnung tragen. Sicherheit und Zukunft von Arbeitsplätzen müssen Maßstab des Handelns der Tarifpartner sein.
Genauso wichtig ist unser gemeinsamer Einsatz für genügend Lehrstellen. Heute können wir davon ausgehen, dass auch in diesem Ausbildungsjahr praktisch allen Bewerbern aus den neuen Bundesländern eine Lehrstelle angeboten werden kann.
Wir können die innere Einheit nur vollenden, wenn wir gemeinsam den begonnenen Prozess mit Vernunft, Ausdauer und Konsequenz voranbringen und über alle Auffassungsunterschiede in Einzelfragen hinweg zu einem engeren Dialog zwischen allen Beteiligten kommen. Ich habe daher Vertreter der Bundesländer und der kommunalen Spitzenverbände, Repräsentanten von Wirtschaft und Gewerkschaften sowie die Führungen der Koalitionsparteien und der Opposition eingeladen, um einen Solidarpakt für Deutschland herbeizuführen. Ziel muss es sein, gemeinsam konkrete Lösungen für die anstehenden zentralen Herausforderungen zu erarbeiten. Alle Beteiligten sind aufgefordert, hierzu ihren Beitrag zu leisten.
Wenn wir Deutschen uns in diesen Jahren der gemeinsamen Aufgabe des Neuaufbaus stellen, dann folgen wir als Christen dabei unserem Auftrag, die Welt zu gestalten und am Werk des Schöpfers mitzuarbeiten. Religion ist eben nicht „Opium für das Volk", wie es Marxisten immer wieder behauptet haben. Im Gegenteil: Sie ist der eigentliche Ursprung der Verantwortung, die den Christen in der Welt und für die Welt auferlegt ist.
Deswegen bleibt es auch dabei: Wir stellen uns in der Politik unserer christlichen Verantwortung. Wir bleiben Christliche Demokraten, auch wenn in Deutschland heute nur noch zwei Drittel der Menschen einer Kirche angehören. Das „C" hat nie bedeutet - Hermann Ehlers hat dies mehr als einmal betont -, dass Politik aus christlicher Verantwortung ausschließlich bei der CDU angesiedelt sei. Für mich bleibt das „C" Anspruch in erster Linie an uns selbst: Wir gestalten Politik aus unserem Verständnis vom Menschen, wohl wissend, dass wir diesem Anspruch nicht immer gerecht werden können. Es bleibt gültig, was in unserem Grundsatzprogramm steht: ,Jeder Mensch ist Irrtum und Schuld ausgesetzt. Diese Einsicht bewahrt uns vor der Gefahr, Politik zu ideologisieren."
Das „C" bedeutet daher auch nicht den überheblichen Anspruch des moralisch Höherstehenden. Gerade das „C" verlangt von uns vielmehr, das Gebot der Demut und Bescheidenheit auch in der Politik zu beachten. Wenn wir uns als Christliche Demokraten zu unserer Verantwortung vor Gott bekennen, dann heißt das ja nicht, dass wir das Evangelium als politisches Programm verstehen wollten. Schon Martin Luther hat solches als verhängnisvollen Irrtum angesehen. Von ihm stammt der Vergleich: „Ein ganzes Land oder die Welt mit dem Evangelium zu regieren sich zu unterfangen, das ist ebenso, als wenn ein Hirte in einem Stall Wölfe, Löwen, Adler, Schafe zusammentäte und ein jegliches frei nebeneinander laufen ließe und sagte, da weidet und seid rechtschaffen."
So heißt es aus gutem Grund auch in unserem Grundsatzprogramm: „Aus christlichem Glauben lässt sich kein bestimmtes politisches Programm ableiten. Aber er gibt uns mit seinem Verständnis vom Menschen eine ethische Grundlage für verantwortliche Politik. Auf dieser Grundlage ist gemeinsames Handeln von Christen und Nichtchristen möglich." Vor den grundlegend gewandelten Verhältnissen in unserer heutigen säkularisierten Gesellschaft gewinnt für die CDU die Frage der Offenheit der Partei für Nichtchristen an Bedeutung. Die CDU ist offen für die Mitarbeit von Nichtchristen.
Das heißt aber nicht, dass wir nicht auch in Zukunft in besonderer Weise mit den Kirchen verbunden bleiben. Für uns Christen sind sie unsere Glaubensheimat. Der EAK hat sich von Anfang an der Aufgabe gestellt, den Dialog zwischen der Union und der evangelischen Kirche zu fördern. Auch in Zukunft werden wir angewiesen sein auf diesen wichtigen Beitrag von evangelischen Christen in der CDU und in der CSU. Mit den Kirchen gemeinsam stehen auch wir als Partei heute vor einer wichtigen Aufgabe. In weiten Teilen Europas sind die Menschen dem Christentum heute entfremdet. Ihnen auf der Suche nach dem Sinn des Daseins neue Orientierung zu geben, ist eine originär kirchliche Aufgabe. Sie ist aber auch von eminent politischer Bedeutung: In das geistige Vakuum, das der Kommunismus hinterlassen hat, dürfen keine neuen totalitären Heilslehren einströmen.
Nicht zuletzt deshalb messe ich der Diskussion um die Fortschreibung des CDU-Grundsatzprogramms so große Bedeutung zu. Dabei ist es aus meiner Sicht entscheidend, dass es uns gelingt, in den Diskussionsprozess des Jahres 1993 möglichst die gesamte CDU einzubinden. Die Fortschreibung unseres Ludwigshafener Grundsatzprogramms von 1978 bedeutet nicht, dass es schlecht gewesen wäre. Das Gegenteil ist richtig. Dennoch müssen wir uns der Notwendigkeit stellen, unser Grundsatzprogramm fortzuschreiben. Es stammt aus der Zeit der deutschen Teilung. Die inzwischen erreichten Fortschritte bei der europäischen Einigung haben die Anforderungen an unser Grundsatzprogramm ebenfalls verändert. Erziehungsgeld und Erziehungsurlaub zum Beispiel oder die rentensteigernde Berücksichtigung von Erziehungs- und Pflegezeiten, wie wir sie in Ludwigshafen noch als Ziel formuliert haben, sind durchgesetzt und eingeführt. Gerade solche Punkte, die eine Fortschreibung notwendig machen, zeigen, wie sehr sich das Ludwigshafener Programm bewährt hat. Es ist eine in seinen Grundsätzen auch heute noch gültige Standortbestimmung christlich-demokratischer Politik.
In den letzten vierzehn Jahren ist bei uns allen das Bewusstsein um unsere Verantwortung für die Bewahrung der Schöpfung gewachsen. Das Ozonloch über der Antarktis oder die Vernichtung der tropischen Regenwälder rührt an den Lebensnerv aller Völker. In vielen Jahren habe ich mich dafür eingesetzt, das Thema „Umwelt und Entwicklung" auf die Tagesordnung der internationalen Politik zu setzen. Die UN-Konferenz in Rio de Janeiro im Juni dieses Jahres hat uns hierbei ein gutes Stück vorangebracht. Von dieser Konferenz ist eine wichtige Botschaft ausgegangen - die Botschaft der Solidarität, der gleichberechtigten Partnerschaft und der gemeinsamen Verantwortung für die eine Welt. Ich trete daher dafür ein, dass wir unsere Ludwigshafener Formulierungen zum christlichen Menschenbild ergänzen durch unser -mit allen großen Weltreligionen gemeinsames - christliches Verständnis von der verantwortlichen Stellung des Menschen in der Schöpfung. Die Aussagen von 1978 zum christlichen Menschenbild aber bleiben gültig.
Wir bekennen uns zur Würde des Menschen. Für unsere Politik ist unser Verständnis vom Menschen Grundlage und Maßstab zugleich. Ich sage das auch im Hinblick auf unser Zusammenleben mit Ausländern in Deutschland. Bis auf wenige Ausnahmen leben die Deutschen friedlich und nachbarschaftlich mit den hier ansässigen Ausländern zusammen. Es ist Unrecht, den Bürgern unseres Landes - egal ob im Osten oder im Westen - pauschal Fremdenfeindlichkeit zu unterstellen. Mit den allermeisten Menschen in unserem Lande verurteile ich Ausschreitungen, wie sie insbesondere in den letzten Wochen gegenüber bei uns lebenden Ausländern und Asylbewerbern, aber auch gegenüber der Polizei vorgekommen sind, auf das schärfste. Solche Übergriffe verletzen die Menschenwürde und sind Anschläge auf unseren Rechtsstaat. Sie sind eine Schande für unser Land, und sie schaden Deutschlands Ansehen in der Welt. Wer das Leben von Menschen gefährdet, wer Ausländerhass schürt, wer die gewalttätige Auseinandersetzung mit Recht und Gesetz sucht, dem muss der Rechtsstaat entschlossen entgegentreten.
Deutschland wird auch in Zukunft politisch, rassisch oder religiös Verfolgten selbstverständlich Schutz und Asyl gewähren. Die Väter und Mütter unserer Verfassung haben nicht zuletzt aufgrund der bitteren Erfahrungen unter der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft das Asylrecht als elementares Gebot der Menschlichkeit betrachtet. Dies ist und bleibt auch meine Überzeugung. Dies ist auch die Meinung der allermeisten Deutschen.
Zu Recht machen sich aber viele Menschen in unserem Land Sorgen wegen des anwachsenden, massenhaften Zustroms von Asylbewerbern, die in ihrer Heimat nicht aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen verfolgt sind. Der Zustrom von Asylbewerbern steigt von Jahr zu Jahr. Allein für 1992 müssen wir mit einem Zustrom von über 400 000 Asylbewerbern rechnen. Nur rund 5 Prozent von ihnen werden als Verfolgte anerkannt. Die anderen kommen vorwiegend aus wirtschaftlich-sozialen Gründen.
Der anhaltende Zustrom führt zu unhaltbaren Zuständen in unseren Städten und Gemeinden. Bei den Kommunen, aber auch bei den zuständigen Behörden von Bund und Ländern ist die Grenze der Belastbarkeit erreicht, wenn nicht gar überschritten. Der Missbrauch des Asylrechts geht auch zu Lasten jener Menschen, die als Bürgerkriegsflüchtlinge vorübergehend bei uns Zuflucht suchen. Wir Deutschen verschließen nicht die Augen vor dem Elend dieser Menschen. Es darf nicht dazu kommen, dass unsere Möglichkeiten, sie aufzunehmen, und die Hilfsbereitschaft unserer Bevölkerung durch den Missbrauch des Asylrechts beeinträchtigt werden. Bisher hat die SPD sich einer vernünftigen Losung verweigert, obwohl auch aus ihren Reihen zahlreiche Kommunal- und Landespolitiker immer häufiger mit dramatischen Appellen auf die Unhaltbarkeit der Situation hinweisen. Ich erwarte, dass die SPD jetzt endlich den Weg freimacht für eine Verständigung auf die nötigen Änderungen - auch des Grundgesetzes.
Innerhalb der Europäischen Gemeinschaft kommen rund 60 Prozent aller Asylbewerber nach Deutschland. Es liegt auf der Hand, dass die Probleme dieses massenhaften Zustroms nur in einer gemeinsamen europäischen Anstrengung gelöst werden können. Allen Beteiligten ist klar, dass diese europäische Lösung nur zu erreichen ist, wenn es uns zuvor gelingt, das Grundgesetz den unabweisbaren Erfordernissen unserer Zeit anzupassen.
Auf dem Weg zu einem geeinten und versöhnten Europa ist der Beitrag der Christen unentbehrlich. Es waren vor allem in ihrem Glauben tief verwurzelte Christen, die nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges daran gingen, im freien Teil unseres Kontinents die Europäische Gemeinschaft aufzubauen. Sie handelten im vollen Bewusstsein der geistig-kulturellen Traditionen, die die Völker Europas miteinander verbinden. Es gibt für uns heute keine vernünftige Alternative zu einer Politik, die auf den immer engeren Zusammenschluss der europäischen Völker und Nationen setzt. Auf sich allein gestellt ist schon heute kein europäischer Staat mehr in der Lage, die großen Herausforderungen an der Schwelle zum 21.Jahrhundert zu bestehen - politisch und ökonomisch. Wir haben es heute in der Hand, das geeinte Europa zu vollenden. Nach der Überwindung von Ost-West-Konflikt und kaltem Krieg bietet sich die Chance, mit allen Völkern und Nationen Europas eine dauerhafte europäische Friedensordnung zu schaffen, die auf Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit basiert. Wichtigster Baustein muss die Europäische Union sein, die wir mit dem Vertrag von Maastricht schaffen wollen.
Unser Ja zu Europa ist zugleich eine Absage an jegliche Form von Chauvinismus und Nationalismus. Zu Recht empfinden wir es heute als absurd, dass in vielen europäischen Bruderkriegen jede Nation davon überzeugt war, ein Gott wohlgefälliges Werk zu vollbringen. Dennoch kann auch heute kein europäisches Land von sich behaupten, es sei völlig immun gegen den Virus des Nationalismus. Für Christen jedenfalls bezeichnet Patriotismus die Haltung nicht nur zum eigenen Vaterland, denn Patriotismus bedeutet immer auch Achtung vor der Vaterlandsliebe des Nachbarn und damit die Ablehnung jeder Form nationaler Überheblichkeit. Überall in Europa muss die Liebe zum eigenen Vaterland untrennbar verknüpft sein mit der Liebe zur Freiheit und mit der Achtung vor der Würde des Nachbarn. Dies ist das Fundament eines „Hauses der Freiheit für alle Europäer", wie es Konrad Adenauer im Jahre 1961 so weitsichtig ausgedrückt hat.
Dass die heutige EG nicht das ganze Europa sein kann, ist unbestritten. Wir befürworten deshalb nachdrücklich einen Beitritt von EFTA-Ländern zur Europäischen Union, wie er im Laufe dieses Jahrzehnts erfolgen kann. Auch für Ungarn, Tschechen, Slowaken und Polen oder später auch für die Staaten des Baltikums muss auf Dauer die Zugehörigkeit zur Union möglich sein, wenn sie dies wünschen und wenn sie die notwendigen politischen und Ökonomischen Voraussetzungen erfüllen. Vertiefung der Integration und Erweiterung der Gemeinschaft müssen Hand in Hand gehen. Es gibt hier kein „Entweder-Oder" sondern nur ein „Sowohl-als-auch". Deshalb haben wir in Maastricht den Grundstein zu einer immer stärker demokratisch legitimierten Europäischen Union gelegt. Nach der Zustimmung einer Mehrheit der französischen Bevölkerung zum Vertrag von Maastricht wollen auch wir unseren Teil dazu tun, damit der Vertrag wie geplant zum 1.Januar 1993 in Kraft treten kann. Deutschland wird an dem vorgesehenen Zeitplan für die Ratifizierung festhalten.
Wir wollen eine Europäische Union vollenden, mit der sich unsere Bürger identifizieren können. Gerade unsere föderale Struktur bietet hervorragende Chancen dafür, dass regionale Probleme und Besonderheiten auch in einer Europäischen Union wirkungsvoll zur Sprache gebracht werden. Denn das bundesstaatliche Prinzip gewährleistet eine größere Bürgernähe als zentralistische Strukturen. Deshalb sind unser Verständnis von Föderalismus und das Prinzip der Subsidiarität im Vertrag von Maastricht verankert. Dieses Prinzip verlangt nicht nur, dass politische Entscheidungen auf der möglichst niedrigen Ebene angesiedelt sind. Es verlangt darüber hinaus, dass der Staat dem Bürger eigene Initiative und verantwortliche Selbsthilfe im Rahmen des Möglichen erleichtert und abfordert. Erst so kann wahre Solidarität in der Gesellschaft gedeihen. Solidarität beinhaltet die persönliche Zuwendung von Mensch zu Mensch. In einer Zeit, in der Armut viel seltener finanzielle Not bedeutet als vielmehr Mangel an Gemeinschaft, gewinnt diese persönlich geleistete Hilfe an Bedeutung. Wenn wir beim Bau der Europäischen Union das Prinzip der Subsidiarität verwirklichen, dann bauen wir auch unter dem europäischen Dach an der Gesellschaft mit menschlichem Gesicht.
Es wäre ein historisches Versagen der Europäischen Gemeinschaft, wenn wir in diesem Augenblick, wo sich die Hoffnungen unserer Nachbarn in Mittel-, Ost- und Südosteuropa auf uns richten, den Weg zur künftigen Europäischen Union verlangsamen oder gar abbrechen würden - einen Weg, der uns bis heute Frieden, Freiheit und Wohlstand ermöglicht hat. Öffnung Europas bedeutet nicht nur Ausrichtung der Europäischen Gemeinschaft auf die angestrebte Europäische Union, sie bedeutet auch - wie Vaclav Havel es ausdrückte - „Heimkehr" der mittel-, ost- und südosteuropäischen Staaten nach Europa. Gerade in diesen Ländern ist in den über vierzig Jahren der Teilung unseres Kontinents das Bewusstsein für die tiefen Wurzeln gemeinsamer kultureller, geistiger und religiöser Traditionen in Europa lebendig geblieben.
Nach Jahrzehnten kommunistischer Herrschaft geht es jetzt darum, die wieder gewonnene Freiheit fest zu verankern. Dem Aufbau des demokratischen Rechtsstaates kommt dabei eine ganz besondere Bedeutung zu. Unrecht erzeugt Unfrieden, im Innern wie nach außen. Heute erkennen viele, die dieser Aussage noch vor wenigen Jahren skeptisch gegenüberstanden, dass die Bibel doch recht hat. Bei Jesaja heißt es in Kapitel 32, Vers 17 in der Lutherschen Übersetzung: „Der Gerechtigkeit Frucht wird Frieden sein." Abrüstung und Rüstungskontrolle allein garantieren keinen dauerhaften und wirklichen Frieden. Erst Gerechtigkeit schafft Frieden, denn sie allein führt zum Abbau von politischen Spannungsursachen.
Viele haben unter den verschiedenen Diktaturen dieses Jahrhunderts ihre Freiheit dafür geopfert und ihr Leben dafür eingesetzt, dass alle Europäer die Chance erhalten, in gemeinsamer Freiheit zusammenzuleben. Wenn wir uns das Gefühl der Dankbarkeit bewahren, dann werden wir auch die Kraft finden, das große Werk des Friedens zu vollenden, zu dem jetzt die Fundamente gelegt sind. Dabei werden wir Mut und Solidarität brauchen. Der größte Fehler wäre es aber, angesichts der Größe der Aufgabe zu resignieren. Wir dürfen nicht auf die Propheten des Niedergangs hören.
Wenn wir auf das Leid zurückblicken, das die Kriege und die Diktaturen dieses Jahrhunderts über so viele Menschen gebracht haben, dann empfinde ich es als eine großartige Chance, dass die heute lebenden Generationen, vor allem die junge Generation, die Aussicht auf ein ganzes Leben in Frieden und Freiheit haben.
Quelle: Redemanuskript, Bundesgeschäftsstelle der CDU.