27. Januar 1992

Ansprache anlässlich eines Treffens der Chefs der Generalstäbe der WEU-Staaten im Bundeskanzleramt in Bonn

 

Herr Generalsekretär, Generale, Admirale, meine Herren!

[...] Es ist für mich ein gutes Zeichen für unseren gemeinsamen Willen, auf dem Weg zur Europäischen Politischen Union voranzuschreiten, dass Sie, die Generalstabschefs der Mitgliedsstaaten der Westeuropäischen Union, bereits wenige Wochen nach Maastricht zu dieser Konferenz zusammenkommen. Sie unternehmen damit den ersten Schritt, die dort gefassten Beschlüsse zügig umzusetzen. Ich danke General Naumann, dass er - unter dem Dach der gegenwärtigen deutschen Präsidentschaft - mit seiner Einladung an Sie die Initiative zu diesem Treffen ergriffen hat.

Das Jahr 1991 ist mit zwei wichtigen Gipfelkonferenzen zu Ende gegangen, deren Beschlüsse für Europa von weitreichender Bedeutung sind: Rom und Maastricht. Auf dem NATO-Gipfel in Rom im November hat das Bündnis seine Kraft unter Beweis gestellt, Politik und Strategie neu zu gestalten. Das Fazit von Rom lautet: Die NATO bleibt das unverzichtbare Fundament für Frieden in Freiheit auf unserem Kontinent. Sie spielt eine Schlüsselrolle beim Aufbau einer neuen dauerhaften Friedensordnung für ganz Europa. Mit dem Nordatlantischen Kooperationsrat stehen wir am Anfang einer vielversprechenden sicherheitspolitischen Zusammenarbeit mit den Reformstaaten Mittel-, Südost- und Osteuropas. Sie soll auch die neuen Partner östlich des Urals einbeziehen.

In Rom wurde aber auch die Brücke zu den Beschlüssen von Maastricht geschlagen. Alle Bündnispartner haben sich zur Weiterentwicklung einer europäischen Sicherheitsidentität und zum Ausbau des europäischen Pfeilers im Bündnis bekannt. Die Europäer müssen und werden - im Sinne einer Lastenteilung - stärker zu ihrer eigenen Verantwortung stehen, so wie es auch unsere transatlantischen Partner seit langem fordern. Es geht nicht um ein „Entweder-Oder", sondern um ein „Sowohl-Als auch".

Mit den Beschlüssen von Maastricht ist der Weg zur Europäischen Union vorgezeichnet. Dieser Weg ist unumkehrbar! Die Mitgliedsstaaten der Europäischen Gemeinschaft sind jetzt und für die Zukunft in einer Weise miteinander verbunden, die einen Rückfall in überlebtes nationalstaatliches Denken, unter dem Europa so lange gelitten hat, unmöglich macht.

Unser gemeinsamer Wille ist es, die Europäische Gemeinschaft besser für die schwierigen Herausforderungen der Zukunft zu rüsten. Dies wird nur gelingen, wenn wir europäische Politik aus einem Guss konzipieren und durchführen.

Die Europäische Gemeinschaft muss, will sie ihre Rolle auf unserem Kontinent und weltweit glaubwürdig ausfüllen, mit einer Stimme sprechen und als Einheit handeln. Wir dürfen nicht länger zulassen, dass die großen Integrationsfortschritte, die wir auf wirtschaftlichem und sozialem Gebiet, beim großen Binnenmarkt und auch in der kulturellen Dimension erreicht haben, durch Meinungsverschiedenheiten und Widersprüche auf dem Gebiet der Außen- und Sicherheitspolitik überschattet werden.

Die jüngsten Erfahrungen in Jugoslawien sind eine Lehre, welch großer Anstrengungen es bedarf, um nationale Politiken, die sich aus unterschiedlicher geschichtlicher Erfahrung herleiten, unter einen Hut - den europäischen Hut - zu bringen. Jugoslawien ist auch ein Beispiel dafür, wie sehr der Blick zurück - auf die Zeit vor dem Ersten oder vor dem Zweiten Weltkrieg - den Blick nach vorn - auf das Zusammenwachsen Europas - verstellen kann.

Für uns im wiedervereinigten Deutschland gilt unverändert der Auftrag unseres Grundgesetzes, „als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden in der Welt zu dienen". Absage an nationalistische Sonderwege und Bereitschaft zu weitreichender Integration in Gemeinschaft mit unseren Partnern - dies war, ist und bleibt Grundlinie deutscher Politik.

Wenn es dazu je eines Beweises bedurfte - in Maastricht haben wir ihn erbracht, und zwar sowohl bei der Wirtschafts- und Währungsunion als auch bei der Politischen Union. Wir haben in Maastricht maßgeblich daran mitgewirkt, auf dem Weg zur Europäischen Union einen neuen Marktstein zu setzen: Dort wurde der Grund gelegt für eine gemeinsame Sicherheitspolitik, die in ihrer Endstufe eine gemeinsame Verteidigung einschließen wird.

Der Europäische Rat hat dabei zugleich der Westeuropäischen Union eine entscheidende Funktion zugewiesen:

  • als integraler Bestandteil der Europäischen Union und
  • als Brücke zwischen der Atlantischen Allianz und der Europäischen Union.

Die Westeuropäische Union wird die gemeinsame europäische Verteidigungspolitik erarbeiten und durchführen: Sie wird zur Verteidigungskomponente der Europäischen Politischen Union!

Wir sollten uns jetzt zügig an die Arbeit machen, um die vereinbarten Schritte auf politischem und auf militärischem Gebiet umzusetzen. Beiden Aspekten messe ich gleich großes Gewicht bei!

Im politischen Bereich geht es beispielsweise darum, schon bald die Voraussetzungen für ein Verfahren zu schaffen, um für die anstehenden Entscheidungen im Atlantischen Bündnis verstärkt gemeinsame und einheitliche Positionen der WEU-Mitglieder zu entwickeln. Auch sollten wir noch in diesem Jahr die Überlegungen voranbringen, in der WEU eine Planungskapazität schaffen und ihre in Maastricht vorgezeichnete Querverbindung zur NATO und zur Politischen Union konkret ausgestalten.

Präsident Mitterrand und ich haben uns in unserer gemeinsamen Initiative vom 14. Oktober 1991 darauf verständigt, die deutsch-französische militärische Zusammenarbeit über die bestehende Brigade hinaus in Richtung auf ein gemeinsames Korps auszubauen. Dieser deutsch-französische Großverband könnte den Kern für ein europäisches Korps bilden, das für die Streitkräfte aller Mitgliedsstaaten der WEU offensteht. Ich appelliere an Sie, diese Einladung aufzugreifen.

Europa steht heute vor schwierigen Herausforderungen. Es gilt vor allem, die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in Mittel- und Südosteuropa, aber auch in den Nachfolgestaaten der Sowjetunion zu stabilisieren. Dies ist Sicherheitspolitik in einem weiteren Sinn. Sie ist das Gebot der Stunde, denn auch wir können uns nur sicher fühlen, wenn unseren Partnerländern die Probleme nicht über den Kopf wachsen. So gilt es, den Menschen in Russland und den anderen neuen Republiken zu helfen, über die schweren Versorgungsmängel dieses Winters hinwegzukommen. Gleichzeitig muss der Grund für eine wirtschaftlich-soziale Aufwärtsentwicklung gelegt werden. Unsere Unterstützung ist auch unerlässlich, wenn es um den friedlichen Aufbau demokratischer, marktwirtschaftlicher und rechtsstaatlicher Strukturen geht.

Wir haben vor unserer Anerkennung von den neuen Republiken die Zusage erhalten, dass sie sich zu Demokratie und Rechtsstaatlichkeit, zur Achtung der Menschenrechte und zum Schutz der Minderheiten bekennen. Alle bestehenden Verträge müssen nach Geist und Buchstaben erfüllt werden. Dies gilt insbesondere für die Verträge über Abrüstung und Rüstungskontrolle, aber auch für alle Abmachungen im Zusammenhang mit dem Abzug der Westgruppe der Streitkräfte aus Deutschland.

Ich erwarte, dass der Vertrag über die konventionelle Abrüstung in Europa von den neuen Republiken bald ratifiziert wird und in Kraft tritt. Verhandlungen über Personalstärken müssen so schnell wie möglich folgen.

In engem Zusammenhang damit steht die Frage nach den künftigen Streitkräftestrukturen in den neuen Republiken. Es macht für mich keinen Sinn, wenn wir ihnen auf der einen Seite humanitäre Hilfe leisten und zum wirtschaftlichen Aufbau beitragen; wenn dort zugleich aber neue Streitkräfte in Größenordnungen erörtert werden, die das europäische Gleichgewicht berühren und finanzielle und technische Mittel binden, welche an anderer Stelle sinnvoller eingesetzt wären.

Besondere Sorgen bereiten uns die Sicherheit der atomaren und chemischen Waffen und die Gefahr des Transfers dieser Waffen oder des Know-how zu ihrer Herstellung. Daher liegt die vollständige Abschaffung der taktischen Nuklearwaffen in der früheren Sowjetunion in unserem besonderen Interesse. Wir sind für zügige Ratifizierung und Umsetzung des START-Vertrags. Wir wollen 1992 auch endlich die weltweite Ächtung chemischer Waffen durchsetzen.

Die große Zahl der Rüstungswissenschaftler und -experten in der ehemaligen Sowjetunion erhöht die Gefahr der nuklearen Proliferation. Gezielte westliche Hilfe zu ihrer Weiterbeschäftigung, zum Beispiel bei der Sicherung ziviler Kernkraftwerke und bei der Bewältigung der nuklearen Abrüstung, liegt deshalb in unserem ureigenen Interesse.

Gerade die Entwicklung in der ehemaligen Sowjetunion schärft unseren Blick, dass Sicherheit und Stabilität sowohl politische, wirtschaftliche, soziale und umweltpolitische Rahmenbedingungen als auch die unverzichtbare Verteidigungsdimension umfassen. Diese Erkenntnis muss Grundlage unserer Zusammenarbeit mit den neuen Partnern im Osten sein. Wir werden die Fülle dieser Aufgaben nur lösen können, wenn wir die bewährten europäischen und transatlantischen Organisationen stärken und wenn wir sie zum Bau einer neuen und stabilen europäischen Sicherheitsarchitektur nutzen:

  • die KSZE mit ihren neuen Institutionen,
  • den Europarat mit seiner menschenrechtlichen und kulturellen Dimension.
  • die NATO mit dem Nordatlantischen Kooperationsrat,
  • die Europäische Gemeinschaft mit maßgeschneiderten Ostverträgen und nicht zuletzt
  • die WEU,

wobei ich auch auf Vorschläge aus Ihrem Kreise zähle.

Das Europa der Zwölf ist zum Leuchtfeuer der Hoffnung für viele Menschen auf unserem Kontinent geworden - vor allem für unsere Östlichen Nachbarn. Mit ihnen zusammen wollen wir eine gerechte und dauerhafte europäische Friedensordnung bauen - eine Friedensordnung, die endlich allen Europäern eine Zukunft in Freiheit und Gerechtigkeit sichert. Diesem Ziel näherzukommen, dient auch Ihre Arbeit. Dafür wünsche ich Ihnen Kraft, Weitblick und den verdienten Erfolg.

Quelle: Bulletin des Presse- und Informationsamts der Bundesregierung Nr. 11 (31. Januar 1992).