27. Mai 1991

Vortrag anlässlich des 21. St. Galler Management-Gesprächs in St. Gallen

Investitionen und Initiativen für den Aufbau der neuen Bundesländer

 

Das St. Galler Internationale Management-Gespräch steht traditionell im Zeichen der Offenheit Ihrer Hochschule und der „Stiftung für internationale Studien" für Fragen der europäischen Einigung und globalen Verantwortung unseres Kontinents. Die hohe Zahl von Studenten und Vertretern der Wirtschaft aus der ganzen Welt dokumentiert dies ebenso eindrucksvoll wie das Spektrum der Referatsthemen.

Ihr diesjähriges Symposium findet in einer Zeit des Wandels im Zeichen der Freiheit und der Rückbesinnung auf die verbindenden Werte des Alten Kontinents statt - einer Rückbesinnung auf unsere gemeinsame Zivilisation und die kulturellen Fundamente Europas. Dieser Prozess ist verbunden mit der Hinwendung jener Länder Europas zu Freiheit, Menschenrechten und Demokratie, denen sie bisher durch das totalitäre System des Kommunismus versagt waren. [...]

Als Teilnehmer und Zeugen des Aufbruchs auf unserem Kontinent erleben und gestalten wir in diesen Jahren die Rückkehr Europas zu seiner ursprünglichen Einheit. Der Präsident der CSFR, Vaclav Havel, hat diesen Prozess anlässlich der Verleihung des Internationalen Karlspreises der Stadt Aachen vor wenigen Wochen aus der Sicht seines Landes so beschrieben: „Es geht nicht um die Faszination durch eine andere Welt. Es geht im Gegenteil um das Sehnen, nach Jahrzehnten unnatürlicher Abweichung wieder auf den Weg zurückzukehren, der einst der unsere war."

Am Ende eines Jahrhunderts, in dem gerade auch von Deutschland aus großes Leid über Menschen und Volker gekommen ist, in dem unser Land mehr als 40 Jahre lang besonders schmerzhaft unter der Spaltung Europas zu leiden hatte, haben wir Europäer jetzt die Chance auf Einheit durch Selbstbestimmung. Diese Chance gilt es beherzt und zugleich besonnen zu nutzen!

Sichtbarster Ausdruck und besonders menschenverachtendes Symbol der Teilung Europas war die Berliner Mauer, waren Todesstreifen und Stacheldraht mitten durch Deutschland und Europa. Die friedliche Revolution der Menschen in der ehemaligen DDR hat Mauer und Stacheldraht niedergerissen. Sie hat der Freiheit zum Sieg verholfen.

Ohne den Einsatz und die Hilfe unserer Partner und Freunde in der Welt hätten wir die staatliche Einheit unseres Volkes nicht wiedererlangen können. Unvergessen ist für uns Deutsche die Rolle der Regierung Ungarns und seiner Bürger. Die mutige Öffnung der ungarischösterreichischen Grenze hat gleichsam den ersten Stein aus der Mauer geschlagen und damit den Eisernen Vorhang zerrissen.

Unter dem Joch des Sozialismus haben die Menschen in Mittel-, Ost- und Südosteuropa schwer gelitten. Friedrich August von Hayek hat das sozialistische Verhängnis schon 1944 als „Weg zur Knechtschaft" beschrieben. Heute ist die Diktatur des Kommunismus endgültig gebrochen, seine Verführungskraft ist überwunden.

Bei der „Heimkehr nach Europa" sind insbesondere Polen, Ungarn und die CSFR bereits ein erhebliches Stück vorangekommen. Gewiss: Auf ihrem weiteren Weg in die Zukunft werden auch schwierige Etappen und große Herausforderungen auf die Menschen zukommen. Aber vor allem eröffnen sich ihnen lohnende Perspektiven - neue Lebens- und Berufschancen, die Aussicht auf ein Leben in Freiheit und Frieden und nicht zuletzt im Einklang mit Natur und Schöpfung.

Dafür sind die Voraussetzungen in der Mitte und im Osten unseres Kontinents nirgendwo besser als im östlichen Teil Deutschlands, also in den neuen Bundesländern. Von dort kann und muss nicht zuletzt ein deutliches Signal der Hoffnung an die Länder Mittel-, Südost- und Osteuropas ausgehen. Es geht darum, zu beweisen, dass der Übergang von dem sozialistischen Zwangssystem zur Sozialen Marktwirtschaft zu schaffen ist.

In einem zusammenwachsenden Europa haben die neuen Bundesländer Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen und der Ostteil Berlins alle Chancen, schon in wenigen Jahren zu den attraktivsten Standorten in Europa zu zählen. Daran arbeiten wir mit großem Engagement, mit Realismus und zugleich mit begründetem Optimismus!

Zum Realismus gehört, die bedrückende Erblast der sozialistischen Vergangenheit beim Namen zu nennen: den schlimmen Zustand von Natur und Umwelt, die desolate Infrastruktur, den Verfall von Häusern, Dörfern und Städten und den Substanzverzehr in vielen Betrieben.

Zu Optimismus gibt der beachtliche Wille der Menschen zum Neubeginn Anlass, aber auch die vielen Initiativen, die bereits jetzt -erst elf Monate nach Beginn der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion und gerade acht Monate nach Vollendung der deutschen Einheit - in Gang gekommen sind:

Ich nenne den Aufbau eines breiten Mittelstandes. Eine hohe Zahl leistungsfähiger mittelständischer Betriebe in Handwerk und Handel, Dienstleistungen und Industrie ist besonders typisch für die erfolgreiche Entwicklung der Wirtschaft in der bisherigen Bundesrepublik Deutschland.

In der früheren DDR dagegen hatten die Machthaber kleine und mittlere Betriebe systematisch bekämpft und zerstört. Jetzt sind seit Anfang 1990 bereits über 360000 Betriebe neu gegründet worden. Dies ist ein beachtliches unternehmerisches Potential und Garant für Investitionen, Arbeitsplätze und Einkommen.

Ich nenne weiterhin die Verbesserungen in einem wichtigen Infrastrukturbereich, dem Telefonverkehr. Hier investiert die Deutsche Bundespost alleine in diesem Jahr weit über 6 Mrd. DM und bis 1997 insgesamt 55 Mrd. DM. Schon im Laufe dieses Jahres werdenso über eine halbe Million neue Anschlüsse verlegt. Die Zahl der Telefonleitungen zwischen alten und neuen Bundesländern steigt bereits in diesem Jahr von 1500 auf über 30000.

Ausdrücklich würdigen möchte ich die Arbeit der staatlichen Treuhandanstalt. Mit nahezu 9000 ehemals staatlichen Betrieben hat die Treuhandanstalt ein besonders schwieriges Erbe angetreten. Praktisch aus dem Nichts muss eine wirkungsvolle Organisation aufgebaut werden.

Wie rasch dies gelingt, zeigt die wachsende Zahl von Privatisierungen. Allein im April sind 340 Industriebetriebe in private Hand überfuhrt worden. Insgesamt wurden bis jetzt schon 1600 Betriebe privatisiert. Damit verbunden sind Investitionszusagen der Erwerber von 57 Mrd. DM und eine gesicherte Zukunft von über 410 000 Arbeitnehmern.

Zahlreiche Firmen sind auch von Unternehmen aus dem Ausland - darunter einige von Investoren aus der Schweiz - erworben worden. Ich wiederhole meine herzliche Einladung an Unternehmer und Investoren aus aller Welt, sich noch stärker als bisher in den östlichen deutschen Bundesländern zu engagieren. Ihnen stehen selbstverständlich dieselben großzügigen Fördermöglichkeiten offen wie inländischen Unternehmen.

Beim Eigentumserwerb für gewerbliche Zwecke haben wir eine klare Vorfahrtregelung eingeführt. Sie schafft jetzt die Voraussetzungen für den Vorrang von arbeitsplatzschaffenden Investitionen vor der Rückübertragung an vormalige Eigentümer. Die Investitionsbedingungen in den neuen Bundesländern sind ausgezeichnet. Seit Beginn der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion Mitte vergangenen Jahres bis Ende 1991 unterstützt die Bundesregierung den Aufbau in den neuen Bundesländern mit über 100 Mrd. DM. Diese Summe entspricht annähernd den gesamten Ausgaben der schweizerischen Kommunen, der Kantone und der Konföderation für das laufende Jahr. Eine so große Kraftanstrengung dürfte wohl einmalig in der Geschichte sein!

Worauf es jetzt besonders ankommt, ist ein breiter Schub privater und öffentlicher Investitionen. Zugleich geht es um den Aufbau leistungsfähiger Verwaltungen - insbesondere in den bisher vom zentralistischen sozialistischen System sträflich vernachlässigten Kommunen und in den neuen Bundesländern. Unternehmensinvestitionen, funktionsfähige Verwaltungen und ein Ausbau der Infrastruktur sind wesentliche Voraussetzungen für wirtschaftliche Dynamik und damit für rentable Arbeitsplätze, mehr Einkommen und Beschäftigung.

Gerade dem wichtigsten Verkehrsbereich, dem Bau von Straßen, Eisenbahnstrecken und Wasserwegen trägt die Bundesregierung durch eine drastische Verkürzung von Planungs- und Genehmigungsverfahren Rechnung.

Bei der Fülle an Infrastrukturaufgaben - angefangen von Wasserversorgung und -entsorgung im kommunalen Bereich bis hin zu gesamtstaatlichen Projekten wie dem Autobahnbau - müssen alle Möglichkeiten für rasche Fortschritte einbezogen werden. Dazu gehört auch der verstärkte Einsatz privaten Kapitals. Nicht nur im schlimmen Zustand der Infrastruktur spiegelt sich das ungeheure Ausmaß sozialistischer Verantwortungslosigkeit wider.

Gerade auf dem Arbeitsmarkt tritt das volle Ausmaß der sozialistischen Misswirtschaft im offenen marktwirtschaftlichen Wettbewerb jetzt voll zu Tage. Experten hatten den Anteil verdeckter Arbeitslosigkeit in den Betrieben und Verwaltungen der ehemaligen DDR auf bis zu ein Drittel aller Beschäftigten geschätzt. Jetzt müssen wir die damit verbundenen ineffizienten Strukturen so schnell wie möglich überwinden.

Für die Betroffenen ist dies mit schmerzlichen Belastungen verbunden. Ich verstehe daher die Sorgen und die Ängste jener, die jetzt ihren Arbeitsplatz verlieren und deren bisherige Lebensplanung durchkreuzt wird. Manchem fällt es noch schwer, die Chancen und Perspektiven zu erkennen, die sich hinter der jetzigen Durststrecke eröffnen. Letztlich liegt es aber auch im Interesse der Betroffenen, den Neuanfang in der Sozialen Marktwirtschaft nicht mit dem Selbstbetrug verdeckter Arbeitslosigkeit zu belasten.

Unzweifelhaft ist es deshalb, gemeinsame Aufgabe von Staat, Wirtschaft und Tarifpartnern, Phasen von Kurzarbeit und Arbeitslosigkeit für die Betroffenen so kurz und so sozial verträglich wie eben möglich zu halten. Mit dem „Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost" - einem nationalen Aufbauwerk ähnlich dem Marshall-Plan von 1948 - haben wir wichtige Weichen gestellt. Entscheidend ist, dass die vielfältigen Möglichkeiten von Arbeitsbeschaffung, Umschulung und Qualifizierung rasch genutzt werden. Hierfür ist auch und gerade die Eigeninitiative der Menschen von herausragender Bedeutung.

Die neuen Bundesländer durchlaufen derzeit eine schwierige Wegstrecke. Aber es bestehen gute Chancen, dass der Übergang zu einer leistungsfähigen Sozialen Marktwirtschaft innerhalb weniger Jahre gelingt. Die wirtschaftliche Stabilität und die hohe konjunkturelle Dynamik in den bisherigen Bundesländern bieten hierfür beste Voraussetzungen. Ich will dies mit wenigen Beispielen verdeutlichen:

In der bisherigen Bundesrepublik Deutschland setzt sich nunmehr im neunten Jahr eine stetige Aufwärtsentwicklung fort. Das Wirtschaftswachstum lag allein im vergangenen Jahr bei 4,5 Prozent.

Investitionen und Beschäftigung erreichen Rekordwerte. Die Zahl der Arbeitsplätze ist in den vergangenen Monaten so schnell gestiegen wie zuvor nur in den fünfziger Jahren, also in der Zeit des Aufbaus nach dem Zweiten Weltkrieg.

Auch international nimmt die bisherige Bundesrepublik Deutschland eine anerkannte Position ein. Im vergangenen Jahr war die deutsche Wirtschaft erneut der weltgrößte Exporteur. Die Deutsche Mark zählt - ebenso wie der Schweizer Franken - zu den international stabilsten und anerkanntesten Währungen.

Die gute Verfassung der Wirtschaft in der bisherigen Bundesrepublik Deutschland erleichtert nicht nur den Aufbau in den neuen Bundesländern. Zugleich fördert die hohe Nachfrage aus Deutschland die wirtschaftliche Entwicklung ganz Europas. In diesen engen wirtschaftlichen Wechselwirkungen zwischen Deutschland und Europa kommt ein eminent wichtiger Zusammenhang zum Ausdruck:

Der Zusammenhang zwischen deutscher Einheit und dem Zusammenwachsen Europas. Diese Verknüpfung hatten die Väter und Mütter des Grundgesetzes bereits 1949 in dessen Präambel festgehalten. Dort hatten sie das deutsche Volk beauftragt, seine Einheit zu vollenden und „in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen". Der zweite Auftrag behält auch nach der Wiedervereinigung Deutschlands am 3. Oktober 1990 seine volle Gültigkeit.

Jetzt ist es unsere Chance, Aufgabe und Herausforderung, vor allem aber Auftrag an die junge Generation, als deutsche Europäer und europäische Deutsche unseren Beitrag zur Einigung Europas zu leisten. Auf dem Weg zur Einheit Europas fallt der Europäischen Gemeinschaft eine zentrale Rolle zu. Sie muss sich auch weiterhin als Kristallisationspunkt für die Einigung Europas bewähren. Unser Ziel ist das, was Winston Churchill in seiner berühmten Züricher Rede von 1946 einmal „die Vereinigten Staaten von Europa" genannt hat. Als britischer Staatsmann hat er damals einen bemerkenswerten Satz hinzugefügt: „Der erste Schritt bei der Neugründung der Europäischen Familie muss eine Partnerschaft zwischen Frankreich und Deutschland sein". Diese Partnerschaft ist inzwischen über Jahrzehnte bewährt. Gemeinsam mit Frankreich wollen wir Motor Europas sein und bleiben.

Mit dem Europäischen Binnenmarkt Ende 1992 und den Regierungskonferenzen über die Wirtschafts- und Währungsunion sowie über die Politische Union ist der weitere Weg der Gemeinschaft vorgezeichnet. Zwischen der Wirtschafts- und Währungsunion und der Politischen Union besteht für uns ein untrennbarer Zusammenhang. Unser Leitbild für die Wirtschafts- und Währungsunion ist klar: Eine europäische Währung muss ebenso stabil sein wie unsere D-Mark.

Wenn wir dieses Ziel erreichen wollen, brauchen wir verstärkte und dauerhafte Fortschritte bei der wirtschaftlichen Konvergenz aller Mitgliedstaaten sowie die Haushaltsdisziplin seitens aller Regierungen der Gemeinschaft.

Damit eine Europäische Zentralbank ihre Aufgabe erfolgreich erfüllen kann, muss sie unabhängig und der Geldwertstabilität verpflichtet sein. Niemand weiß den Wert einer stabilen Währung und einer unabhängigen Zentralbank so gut zu würdigen wie Sie hier in der Schweiz. In der Europäischen Gemeinschaft wollen wir jetzt einen vergleichbar hohen Standard erreichen.

Wirkliche Fortschritte im Europa der Zwölf erfordern parallel zum Bereich von Währung und Wirtschaft auch einen Ausbau der Politischen Union. Diese darf nicht hinter der Wirtschafts- und Währungsunion zurückbleiben. Das heißt insbesondere:

  • Die Rechte des Europäischen Parlaments müssen gestärkt werden.
  • Die Europäische Gemeinschaft muss eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik entwickeln. Gerade die zurückliegenden Monate - die Unfähigkeit der Europäer, angesichts von Krieg und Krise am Golf mit einer Stimme zu sprechen - haben deutlich gemacht, wie wichtig Fortschritte auf diesem Gebiet sind.

Vertiefte Zusammenarbeit innerhalb der Europäischen Gemeinschaft ist das eine. Aber zugleich ist uns bewusst: Die Europäische Gemeinschaft ist nicht das ganze Europa! Seit jeher verbinden uns mit den Ländern der EFTA freundschaftliche und enge Beziehungen. Einige Mitgliedstaaten der EFTA unternehmen derzeit konkrete Schritte auf die Europäische Gemeinschaft zu. Ich nenne nur Österreich und Schweden. Mit den EFTA-Staaten will die Europäische Gemeinschaft parallel zum Europäischen Binnenmarkt einen gemeinsamen europäischen Wirtschaftsraum bilden. Ich hoffe sehr, dass Ende Juni in Salzburg die hierfür notwendigen Verträge unterzeichnet werden können.

Mit Polen, Ungarn und der CSFR steht die Europäische Gemeinschaft in Verhandlungen mit dem Ziel baldiger Assoziierungsabkommen. Darüber hinaus setze ich mich dafür ein, dass die EG diesen Staaten die Tür nicht verschließt, wenn und sobald diese die wirtschaftlichen und politischen Voraussetzungen für eine Mitgliedschaft erfüllen.

Über eines bin ich mir völlig im klaren: Unsere Hilfe für die Reformstaaten des Ostens - und ich betone, es geht um die Hilfe der gesamten westlichen Welt - ist unerlässlich. Es geht hier um Investitionen in unser gemeinsames Europa von morgen. Es geht darüber hinaus um Investitionen in die Zukunft einer friedlicheren und stabileren Welt. Die entscheidenden Anstrengungen auf dem Weg zu Sozialer Marktwirtschaft und Demokratie müssen allerdings in den Ländern Mittel-, Ost- und Südosteuropas selbst unternommen werden. Hilfe von außen kann den notwendigen Wandel im Inneren unterstützen, aber niemals ersetzen. Dies gilt auch und gerade für die Sowjetunion. Auch sie muss erkennen, dass sich das Recht auf Selbstbestimmung durchsetzen wird.

Ich wünsche der Sowjetunion auf ihrem schwierigen Weg Erfolg im Sinne der Politik der Perestroika von Präsident Gorbatschow. Ich setze darauf, dass Präsident Gorbatschow - ungeachtet aller Schwierigkeiten - wirklich auf diesem Weg bleibt. Ganz sicher geben jene den falschen Rat, die angesichts des gigantischen Veränderungsprozesses in der Sowjetunion empfehlen, ungerührt zuzuschauen, was dort passiert.

Es kann nicht unser Ziel sein - und es wäre töricht, unsere Politik darauf auszurichten -, zu einer Auflösung der Sowjetunion im Ganzen beizutragen. Eine solche Politik würde die Chancen auf wirkliche Abrüstung und dauerhaften Frieden zerstören und fände nicht meine Zustimmung. Wir sind gut beraten - wir Europäer und auch unsere amerikanischen Freunde -, wenn wir im Rahmen unserer Möglichkeiten Hilfe zur Selbsthilfe leisten. Auf dem bevorstehenden Wirtschaftsgipfel in London wird dies eines der zentralen Themen der dort versammelten Staats- und Regierungschefs sein.

Unsere Verantwortung in der Welt reicht über die Fragen der Europäischen Einigung weit hinaus. Als große Welthandelsnation haben wir Deutschen, aber ebenso auch alle Industrieländer, ein herausragendes Interesse an offenem Welthandel. Wir wollen und werden daher die laufende GATT-Runde zum Erfolg fuhren. Dabei müssen wir alle unseren Beitrag zu einem angemessenen Ausgleich wirtschafts- und handelspolitischer Interessen leisten.

Keiner könnte den erreichten Grad weltwirtschaftlicher Verflechtung ohne hohes eigenes Risiko in Frage stellen. Ein Erfolg der GATT-Verhandlungen liegt nicht nur im Eigeninteresse der Industrieländer. Zugleich verschafft er auch den Entwicklungsländern verbesserte Möglichkeiten für den Zugang zu den Märkten des Westens. Nur so sind die Länder der Dritten Welt in der Lage, dringend benötigte Devisen für den Aufbau ihrer Wirtschaft und Betriebe aus eigener Kraft zu verdienen.

Dem Ausgleich zwischen Ost und West muss nun auch die Verständigung zwischen Nord und Süd folgen. Gerade den ärmsten und schwächsten Ländern und Völkern müssen wir mit einer Entwicklungspolitik zur Seite stehen, die ihnen vor allem hilft, sich selbst zu helfen.

Unsere Verantwortung für die drängenden Probleme der Welt schließt die Herausforderungen beim weltweiten Schutz unserer natürlichen Lebensgrundlagen ein. Längst ist Umweltschutz eine Aufgabe, die sich nicht nur im nationalen Rahmen stellt, sondern die die gesamte Völkergemeinschaft fordert. Wir sitzen hier buchstäblich alle in einem Boot. Daher sind wir auf globale Zusammenarbeit angewiesen, wenn wir die drohenden Gefahren - etwa für das Weltklima -abwenden wollen. Ich nenne hier unsere eigenen Bemühungen zum Schutz der Regenwälder. Auf dem bevorstehenden Wirtschaftsgipfel in London werde ich erneut darauf drängen, in der Kooperation mit Brasilien zu entscheidenden Fortschritten zu kommen.

Einen weiteren Ansatz, durch Zusammenarbeit zwischen Industrie- und Entwicklungsländern die Umwelt wirksam zu schützen, sehe ich im Verknüpfen von Umwelt- und Schuldenfragen. So sollten Schuldenerlasse für Länder der Dritten Welt auch davon abhängig gemacht werden, dass freiwerdende Mittel möglichst für konkrete Umweltschutzmaßnahmen eingesetzt werden.

Wir stehen vor drängenden Herausforderungen in Europa und weltweit. Aber erstmals in diesem Jahrhundert haben wir gerade in Europa allen Grund, mit Optimismus und Vertrauen auf eine Zukunft in Frieden und Freiheit zu setzen. Lassen Sie uns daran gemeinsam arbeiten!

Quelle: Bulletin des Presse- und Informationsamts der Bundesregierung Nr. 59 (29. Mai 1991).