27. November 1996

Rede vor dem Deutschen Bundestag anlässlich der Aussprache über den Bundeshaushalt 1997

 

Herr Präsident,

meine sehr verehrten Damen und Herren,

ich bin schon schwer getroffen von den Schlägen, die ich eben noch einmal erfahren habe. Wenn man sich vor Augen führt, woher der geschätzte Kollege nicht nur geographisch, sondern auch politisch kommt, muß man sich immer nur wundern, welch eine Keßheit dazu gehört, hier an diesem Pult solche Reden zu führen.

Aber das ist trotzdem in Ordnung; denn es gehört zur parlamentarischen Demokratie, daß in der Generaldiskussion zum Etat des Bundeskanzlers alle nur denkbaren Perspektiven der Politik angesprochen werden können. Als Bundeskanzler, als Regierung und auch als Regierungskoalition kann man nicht damit rechnen, daß die Opposition Lobpreis spendet. Das haben wir früher auch nie getan. Auch wir haben seinerzeit gelegentlich die Farben kräftig aufgetragen und gesagt, daß es nicht mehr weitergehe und daß die Regierung unmittelbar vor dem Zusammenbruch stehe.

Bis jetzt habe ich nur noch nicht gehört - meine Freunde aus der CSU mögen es mir nachsehen -, daß das Wort Sonthofen hier gefallen ist. Das habe ich alles schon einmal gehört; bloß hat es zu nichts geführt. Warum lernen Sie eigentlich nicht aus unseren Fehlern? Das wäre doch naheliegend, denn dies war doch nun gar kein Rezept, das uns in die Regierung gebracht hätte. Vielmehr kann man nur an die Regierung kommen, wenn die Bürger das Gefühl haben, die Politiker machen zwar diesen oder jenen Fehler, verdienen aber insgesamt Vertrauen. Deswegen sind wir auch immer gewählt worden.

Die Stimmbürgerin und der Stimmbürger verstehen Politik auch - das ist ja im Sinne unserer demokratischen Überzeugung - als Kampf und Auseinandersetzung um den besseren, den besten Weg in die Zukunft. Da werden Konzepte einander gegenübergestellt, die wechselseitig nicht akzeptiert werden; auch das gehört dazu. Dann hat der Wähler das letzte Wort. Das ist auch gut so.

Wir haben uns immer wieder den Wählern zu stellen. Hier war die Rede von einer düsteren Perspektive für die Koalitionsparteien und die Bundesregierung. Aber ich erkenne überhaupt keinen Grund, verzagt zu sein. Wenn ich im SPD-Präsidium gesessen hätte - Gott sei Dank war ich dort nicht; aber stellen Sie sich das einmal vor -, dann wäre dort vielleicht eine einheitliche Meinung herausgekommen. Was glauben Sie, Herr Kollege - Sie haben mich gerade angesprochen -, was die Leute in Ihrem Unterbezirk oder in Ihrem Ortsverein gesagt hätten? Vielleicht hätten sie gesagt: Endlich wissen wir einmal, was die in Bonn wollen!

Ich kann mich Ihnen nicht andienen; so weit kann das nicht gehen. Ich will aber wenigstens gesagt haben, daß das Bild von Deutschland, das Sie hier entworfen haben, mit der Wirklichkeit gar nichts zu tun hat. Das wissen Sie so gut wie ich.

Und fügen Sie nicht noch einen Schuß Klassenkampf hinzu! Herr Verheugen ist aufgestanden und hat das pur dargeboten. Herr Verheugen, wenn ich Parteivorsitzender der SPD wäre, würde ich Ihre Ratschläge prinzipiell nicht annehmen. Sie haben schon einmal einer Partei falsche Ratschläge gegeben.

Natürlich kann man sich irren. Daß Sie jetzt aber so in den Klassenkampf verfallen, ist schon eine ganz ungewöhnliche Mutation. Ich habe Sie doch noch von früher in Erinnerung!

Ich sage es noch einmal: Die Menschen im Land wissen sehr genau, daß wir umdenken müssen, daß es nicht möglich ist zu sagen: Wir machen so weiter!, wie wir es früher auch gesagt haben. Die Menschen wissen, daß jetzt weltweit, also auch in Deutschland und in Europa, eine Entwicklung eingetreten ist, aus der wir Konsequenzen ziehen müssen. Ich glaube nicht, daß wir in Wahrheit in dieser Grundposition weit voneinander entfernt sind.

Deswegen: Lassen Sie uns streiten; die Wähler sollen dann entscheiden. Ich finde es bloß nicht sehr überzeugend, daß Sie in diesen Tagen als Hauptslogan den Ruf aus Köln erklingen ließen - hier haben Sie ja geschwiegen; die Parlamentarischen Geschäftsführer haben für Ruhe gesorgt -: Der Kohl muß weg. Das können Sie ja rufen, aber er ist da. Das ist so eine Art Beschwörung: Sie hat aber keine politischen Inhalte.

Ich habe Ihren geschätzten Partner auf dem Weg in die Zukunft - so glauben Sie es ja - beobachtet, auch die ganze Führungselite der Grünen: Sie war mehr betroffen, wie man vorhin sehen konnte. Lassen Sie uns also kräftig miteinander kämpfen und auseinandersetzen! Die Wähler fällen dann die Entscheidung. Sie werden auch beurteilen, was wir, Koalition und Regierung, geleistet beziehungsweise nicht geleistet haben und was Sie an Angeboten unterbreitet oder zu machen unterlassen haben.

(Zuruf des Abg. Freimut Duve [SPD])

- Das können Sie nicht verändern; das ist so.

Da Sie den Zwischenruf gemacht haben: Eigentlich hätte ich von Ihnen erwartet, daß Sie in Stuttgart etwas klüger operiert hätten. - Damit meine ich jetzt konkret die SPD.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU -Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er läßt nichts aus! - Abg. Freimut Duve [SPD] meldet sich zu einer Zwischenfrage)

- Entschuldigung, ich nehme das zurück. Ich habe Sie verwechselt. Sie in Hamburg haben den Fehler noch vor sich.

Vizepräsident Hans-Ulrich Klose:

Herr Bundeskanzler, gestatten Sie eine Zwischenfrage?

Dr. Helmut Kohl, Bundeskanzler: Nein.

Bevor ich zu dem komme, was ich in die Debatte einzubringen mir vorgenommen habe, will ich kurz etwas zu der Auseinandersetzung über Lehrstellen sagen.

Meine Damen und Herren von der SPD, ich streite jetzt nicht darüber, wie Sie diese Ausarbeitung bezeichnen. Ich habe eben noch einmal nachgelesen und festgestellt, daß dieses eine Wort in der Ausarbeitung nicht vorkommt. Das will ich ausdrücklich festhalten. Sie haben eine ganze Menge Vorschläge gemacht, die aber am Ende alle zum gleichen Ergebnis führen, nämlich dazu, daß es sich um eine Abgabe handelt.

Es muß doch wenigstens erlaubt sein, hier darauf hinzuweisen, daß zwei namhafte Mitglieder der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands bei Ihrer Debatte auftraten, die, wie immer in einer solchen Situation, nicht freundlich aufgenommen wurden, nämlich der zukünftige Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, Herr Clement, und Ihr wirtschaftspolitischer Sprecher und Ministerpräsident von Niedersachsen, Herr Schröder. Sie haben davor gewarnt, diesen Beschluß zu fassen.

Sie haben im übrigen darauf hingewiesen - das ist doch in dieser Woche so gewesen -, daß dieser Beschluß nicht zu mehr Lehrstellen führt, sondern die Bereitstellung von mehr Lehrstellen vereitelt. Das ist dort wörtlich gesagt worden. Nicht mehr und nicht weniger hat Wolfgang Schäuble zu diesem Thema gesagt.

Wie ist die Bilanz, und wie ist die Situation? Das ist - jedenfalls für mich - eines der zentralen Themen der deutschen Politik: Wie sehen die Zukunftschancen junger Leute aus, in diesem Fall vor allem im Arbeitnehmerbereich, im Bereich des dualen Ausbildungssystems?

Die Lehrstellenbilanz in Deutschland ist auch in diesem Jahr ausgeglichen.

(Zuruf von der PDS)

- Hören Sie doch erst mal zu, bevor Sie wieder Zwischenrufe machen! Ende September gab es noch 43000 freie Stellen gegenüber 38000 Nicht-Vermittelten. Im Oktober sind weitere 10000 Vermittlungen hinzugekommen, so daß die Zahl, die wir uns im Frühjahr als Ziel gesetzt hatten, erreicht wurde. Dies ist die statistische Größe. Sie ist objektiv richtig - wie früher übrigens auch.

Das Problem, das wir haben, ist, daß diese Zahlen zunächst noch nichts über die regionale Situation aussagen. Die regionalen Unterschiede waren immer gravierend. Sie sind in den letzten Jahren - natürlich vor allem auch in den neuen Ländern - noch gravierender geworden. Das Problem, das wir haben, liegt nicht primär in der absoluten Zahl, sondern in der Tatsache begründet, daß wir in bestimmten Regionen Deutschlands bei dem Angebot von und der Nachfrage nach Lehrstellen ganz unterschiedliche Entwicklungen haben.

Sie sehen das an einem Beispiel, das sehr bedrückend ist. Die Situation im Ruhrgebiet stellt sich in diesem Zusammenhang als besonders schwierig dar. Das hat etwas mit den gewaltigen Veränderungen der industriellen Struktur in dieser Region zu tun, übrigens auch im Bereich des Steinkohlebergbaus, um ein Beispiel zu nennen. Klugerweise muß man ganz einfach sagen: Wir müssen in solchen Regionen - das gilt natürlich in besonderem Maße für die neuen Länder - mit neuen Überlegungen ansetzen, um das Ganze zu sichern.

Es gibt auch andere Gründe, die hier zu nennen sind, die es übrigens zum Teil schon immer gab. Es gab immer, und zwar in jeder Ausbildungsgeneration, Trends zu bestimmten Berufen. Es gab immer Berufe, die sich als "Modeberufe" - und das meine ich nicht abwertend - verstanden haben, bei denen man gesagt hat: Diesen Beruf will ich ergreifen. Es gab aber immer auch andere Berufe, die von denen, die einen Ausbildungsplatz gesucht haben, als weniger akzeptabel empfunden wurden.

Das heißt also, wir müssen uns jetzt - und das werden wir tun - gemeinsam mit allen Betroffenen - ich denke in diesem Zusammenhang an die Arbeitgeber, ich denke vor allem an die Kammern, ich denke nicht zuletzt auch an die Gewerkschaften -, so haben wir es vereinbart, gleich im Januar - nicht abwartend - eine Fülle von Maßnahmen überlegen, um die Entwicklung im nächsten Jahr und in den folgenden Jahren einigermaßen vernünftig gestalten zu können.

Denn es ist wahr: Zwischen 1995 und 2005 werden die starken Jahrgänge - wir werden uns mit Wehmut an diese Zeit erinnern, wenn sie vorbei ist - Ausbildungsplätze suchen. Das wichtige Ziel deutscher Politik, ich sage lieber: deutscher Gesellschaft muß sein, daß junge Leute, die aus der Schule kommen und den ersten Schritt in die Welt der Erwachsenen tun, einen Ausbildungsplatz finden. Das muß Vorrang vor vielem anderen haben. Wir sind davon überzeugt - ich habe mich sicher mehr bemüht als viele andere, gerade in diesem Jahr -, daß wir das auf der Basis der Vereinbarung schaffen können.

Aber wir müssen fairerweise auch fragen, was zusätzlich geschehen muß, um die Akzeptanz nicht nur bei den Lehrlingen, sondern auch bei denen, die als Arbeitgeber, als Lehrherren in Frage kommen, zu verbessern. Da haben wir eine Menge auf den Weg gebracht. Das ist aber nicht ausreichend.

Ich will nur noch ein paar Beispiele nennen. Wir müssen unbedingt - da sind wir auf einem guten Weg - die Ausbildereignung weiter flexibilisieren. Wir müssen auch das Moment der langjährigen beruflichen Erfahrung vor der rein prüfungsmäßigen Voraussetzung wieder stärker in Betracht ziehen. Ich bin ganz sicher, daß auf diesem Weg Gutes erreicht werden kann.

Wir müssen uns darüber im klaren sein, daß das Tempo bei der Schaffung neuer Berufsbilder zunehmen muß. Ich sage das ohne Vorwurf, es sind alle daran beteiligt: ob das die Landes- oder die Bundesministerien sind, ob das die Gewerkschaften sind, ob das die Wirtschaft ist. Das Ganze ist in vielen Jahren viel zu schleppend gelaufen. Bei der Schaffung neuer Berufsbilder mit hoher Qualität muß schneller vorangegangen werden.

Wir haben es jetzt geschafft, die Zeitspanne für die Einführung neuer Berufsbilder von fünf Jahren auf zwei Jahre zu verkürzen. Ich halte das nicht für ein Ruhmesblatt, sondern für das Mindeste, was man tun kann und tun muß. Ich könnte mir vorstellen, daß hier noch mehr geschehen kann.

Meine Damen und Herren, wir müssen vor allen Dingen die veränderten Verhältnisse bedenken. Ich finde es besonders seltsam, daß dieser Aspekt in der gesamten Diskussion nicht auftaucht. Dabei wäre erstens die Tatsache zu nennen, daß heute rund 70 Prozent aller Auszubildenden, die noch nach der Berufsschule im Betrieb besser ausgebildet werden können, gar keine Jugendlichen im Sinne des Jugendarbeitsschutzgesetzes sind, sondern Erwachsene, daß sie beispielsweise Wähler sind. Damit besteht eine völlig andere Situation als noch vor 30 oder 40 Jahren, als unter dem Begriff "Lehrling" und später "Auszubildender" ein bestimmter Lebensabschnitt verstanden wurde. Das ist heute anders. Wir müssen überprüfen, was das für Konsequenzen hat.

Zweitens scheint mir folgender Sachverhalt entscheidend zu sein. Herr Scharping, bei dieser Frage würde ich Sie bitten, im Kreise Ihrer Freunde dafür zu werben, ebenso und vor allem auch Sie, Herr Ministerpräsident Lafontaine; ich tue das gleiche auch auf seiten der CDU: Bei meinen Gesprächen in diesem Jahr ist es für mich mit am alarmierendsten gewesen, von allen Seiten die Sorge zu hören, daß die Zahl derjenigen Anwärter für eine Ausbildung in einem Lehrberuf gewachsen ist - sie macht ungefähr zehn Prozent aus -, die die Voraussetzungen für eine Ausbildung nicht mitbringen. Die Schule war nicht in der Lage, das notwendige Wissen zu vermitteln.

Herr Abgeordneter Scharping, Sie sprachen von den Lohnnebenkosten; Sie sprachen auch davon, welche Leistungen zwecks Entlastung nicht mehr durch die Bundesanstalt finanziert werden sollen, um die Beiträge zur Arbeitslosenversicherung zu senken. Unsere Auffassungen liegen da nicht so weit auseinander. Die Frage wird sein, woher wir das Geld bekommen; da gehen unsere Ansichten auseinander.

Sie können in die Reihe Ihrer Beispiele für das, was Sie ändern wollen, mit aufnehmen, daß die Nürnberger Bundesanstalt Jahr für Jahr rund eine halbe Milliarde D-Mark für Grundausbildungs- und Förderlehrgänge ausgeben muß, damit Jugendliche überhaupt ausbildungsreif sind. Das hat etwas mit der Schule zu tun. Ich klage auch hier nicht an, ich sage nicht, das machen die Länder gut oder schlecht. Ich denke auch nicht daran, die Lehrer anzuklagen. Das alles wäre ziemlich kurzsichtig und töricht.

Aber wahr ist, meine Damen und Herren, daß der Zustand der Schulen nicht in Ordnung sein kann, wenn ein so hoher Prozentsatz der Jugendlichen im Anschluß an die Schule in einem Ausbildungsberuf nicht ausbildungsfähig ist. Das ist doch ein Punkt, der uns beschäftigen muß. Wir werden sicherlich seitens der Bundesregierung im Kreise der Ministerpräsidenten bald darüber sprechen. Deswegen halte ich es für wichtig, daß wir nicht nur Programme aufstellen, sondern den Dingen auf den Grund gehen.

Für mich bleibt es eine der zentralen Aufgaben der deutschen Gesellschaft, erstens für eine erstklassige Ausbildung der jungen Generation zu sorgen - in diesem Falle derjenigen, die im dualen System ausgebildet werden - und zweitens alle Voraussetzungen für die Ausbildung im dualen System zu verbessern. Es gilt zu Recht immer noch weltweit als das beste Ausbildungssystem.

Meine Damen und Herren, dazu gehört dann natürlich auch, daß wir die einzelnen Voraussetzungen schaffen. Ich bestreite nicht die gute Absicht hinter Ihren Vorschlägen, die Sie in der konkreten Situation umzusetzen versuchen. Ich sage Ihnen aber wie Clement und Schröder auch voraus: Eine solche Vorlage, zum Gesetz erhoben, wird zu einer breiten Ausbildungsverweigerung führen. Die Ausbildungsbetriebe werden sich freikaufen, wie wir das in anderen Bereichen auch erlebt haben.

Bedenken Sie bitte bei Ihrem Vorschlag, daß er eine weit über das Finanzielle hinausgehende Wirkung haben wird: Die Kontinuität in der Ausbildung, die nicht zuletzt im Handwerk immer noch besteht und den Ruf des dualen Systems über Generationen hinweg geschaffen und gefestigt hat, geht mit Sicherheit verloren. Deswegen sage ich Ihnen klar: Wir werden solche Vorschläge nicht akzeptieren.

Aber ich will Sie gern einladen, an der Diskussion in bezug auf das, was wir im neuen Jahr beginnen wollen, teilzunehmen; denn je mehr Gemeinsamkeit wir herstellen können, desto besser ist es für die jungen Leute. Das ist unser eigentlicher Auftrag.

Meine Damen und Herren, diese Debatte um den Etat 1997 findet - das ist überall erkennbar - in einem Augenblick der dramatischen Veränderung in der Welt, in Europa und in Deutschland statt. Wenn Sie sich die Situation allein in den Ländern der Europäischen Union anschauen, werden Sie überall den gleichen Eindruck bekommen, nämlich daß überall um den richtigen Weg in die Zukunft gerungen wird, daß heftige Auseinandersetzungen stattfinden und daß man überall begriffen hat: Es ist jetzt, gut drei Jahre vor dem Ende dieses Jahrhunderts, der Zeitpunkt gekommen, um die Weichen für die Zukunft zu stellen.

Wenn dies für alle richtig ist, dann ist es auch für Deutschland richtig. Deutschland ist nach den USA und noch vor Japan die zweitgrößte Exportnation der Welt. Wir können noch soviel miteinander streiten und diskutieren: Wir werden den Wohlstand und die soziale Stabilität, die ganze Generationen in den letzten 50 Jahren in Deutschland geschaffen haben, nicht halten können, und wir werden auch die sozialen Probleme, die es ja gibt und die gelöst werden müssen - ich komme gleich darauf zu sprechen -, nicht in den Griff bekommen können, wenn wir diese weltweite Entwicklung nicht auch unter der Perspektive betrachten, welche Hausaufgaben wir selbst dabei zu machen haben.

Insofern ist das Denken in globalen Kategorien keine Ausrede, die wir hier zu Hause gebrauchen würden; es ist die ganz einfache Voraussetzung dafür, die Zukunft zu begreifen. Denn die Märkte wachsen immer weiter zusammen; die Arbeitsplätze wandern zu den Standorten, die besonders attraktiv sind. Wahr ist ebenfalls, daß manch einer diese Standortbetrachtung zu kurzsichtig betreibt und daß er die Vorteile des Standortes Deutschland, von denen ich ebenfalls reden will, viel zu gering einschätzt.

(Zuruf von der SPD: Nebulös!)

- Wenn das für Sie nebulös ist, verstehen Sie nichts von der Wirklichkeit. Aber das verwundert mich bei Ihnen nicht.

Wer aus dem Nebel heraustritt und die Entwicklung der ostasiatischen Märkte betrachtet, wer sieht, wie sehr sich die Konkurrenten dort bemerkbar machen, wer beispielsweise sieht, wie in diesem Augenblick eine Weltmacht wie die Vereinigten Staaten von Amerika Positionen etwa im Verhältnis zur Volksrepublik China teilweise revidieren muß, der weiß, daß hierbei auch wirtschaftliche Gegebenheiten wirksam sind.

Wir können doch nicht so tun, als ginge uns das alles nichts an. Der Anteil der ostasiatischen Schwellenländer am Welthandel hat sich seit 1970 von zweieinhalb Prozent auf mehr als zehn Prozent vervierfacht. Die für uns viel wichtigere Zahl ist: Der deutsche Anteil hat sich im gleichen Zeitraum von fast zwölf Prozent auf neun Prozent reduziert. Sie brauchen diese Zahlen ja nicht absolut zu nehmen. Aber in ihrer Tendenz zeigen sie einen Abstieg an. Er muß gestoppt werden.

(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP - Ministerpräsident Oskar Lafontaine [Saarland]:Das liegt an der Bevölkerungsentwicklung!)

- Das ist nicht nur die Bevölkerungsentwicklung, verehrter Herr Ministerpräsident. Ich komme gleich noch darauf zu sprechen; dann sind wir bei der Sozialpolitik. Ich bin sehr gespannt, was Sie darauf anschließend replizieren werden.

Seit einigen Jahren kommt zu der klassischen Konkurrenz aus dem Fernen Osten die Konkurrenz aus unserer unmittelbaren Nachbarschaft hinzu. Lassen Sie mich das Folgende auch einmal in der aktuellen deutschen Diskussion sagen: Ich finde es ziemlich schäbig, daß viele mit kurzsichtigen Neidgefühlen auf unsere Nachbarn, etwa in Tschechien, Ungarn oder bis hin nach Rußland, schauen. Wir wollten doch eigentlich immer, daß der Kommunismus verschwindet; wir wollten doch, daß diese Länder zu Reform, zu Freiheit, zu sozialer Stabilität und zum Rechtsstaat, auch zu wirtschaftlicher Öffnung finden. Wenn sie jetzt diesen Weg beschreiten, werden sie natürlich unsere Konkurrenten. Damit muß man nicht nur leben; ich finde, wir sollten begrüßen, daß wir jetzt in Deutschland und in Europa normale Verhältnisse haben.

Wenn die Arbeitsstunde eines Entwicklungsingenieurs für Nachrichtentechnik - ich nehme bewußt das Beispiel aus einem Zukunftsberuf - bei einem deutschen Großunternehmen gegenwärtig 135 D-Mark kostet, in Ungarn nur 54 D-Mark, dann ist das eine klare Aussage. Sie kann für uns aber nicht bedeuten: Weil die Konkurrenz vorhanden ist und niedrigere Löhne zu bezahlen hat, müssen wir die Löhne senken. Das geht doch gar nicht. Die Konkurrenten werden ihre niedrigeren Löhne nicht beibehalten können; auch das ist wahr.

Aber es stellt sich doch die Frage, ob die deutsche Gesellschaft - das ist überhaupt keine parteipolitische Frage - den Mut und die Kraft aufbringt zu sagen, wir müssen trotzdem versuchen, die Arbeitskosten zu senken, zum Beispiel durch mehr Flexibilität in der Arbeitsorganisation.

Es ist hier vorhin - ich glaube, vom Kollegen von der FDP - auf das Beispiel der IG Metall hingewiesen worden. Ich beobachte in deutschen Betrieben der Metallbranche - auch mit Zustimmung der IG Metall, und das finde ich sehr gut - inzwischen Einzelabmachungen, die vor fünf Jahren völlig undenk- bar waren. Das heißt, es haben Veränderungen auch in den Köpfen Platz gegriffen. Warum tun wir hier in diesem Saale so, als sei das nicht so? In Wahrheit sind wir doch längst viel weiter.

Entwicklungen wie mehr Teilzeitarbeit oder Arbeitszeitkonten, ein ganz wichtiges Wort, waren vor fünf Jahren ein Schreckgespenst.

(Hans Büttner [Ingolstadt] [SPD]:Das ist Unsinn, was er sagt!)

- Hören Sie doch überhaupt mal zu! Es hat keinen Sinn, daß Sie als Abgeordnete des Deutschen Bundestages hier im Saal sitzen und sich einfach nach dem Muster verhalten: Weil der das sagt, ist es falsch. - Es ist doch richtig, was ich hier gesagt habe.

Das heißt auch, daß die Tarifautonomie natürlich erhalten bleiben muß. Ich halte die Tarifautonomie für eine der wichtigsten Errungenschaften in der Geschichte der Bundesrepublik. Ich kann nur alle warnen, die Tarifautonomie in Frage zu stellen, auch dann, wenn ich von Herrn Scharping gescholten werde, ich würde die Unternehmer angreifen. Das ist übrigens eine ganz neue Verteidigungsposition, die ich hier erlebt habe; aber warum sollen Sie es nicht tun, denn wenn es der Herr Schröder macht, müssen Sie es auch machen, Konkurrenz belebt auch bei Ihnen das Geschäft. Das Ganze in Frage zu stellen halte ich für eine gefährliche Position, die für mich nicht akzeptabel ist.

Natürlich sind wir keine Konsensgesellschaft. Natürlich müssen wir in bestimmten Bereichen Entscheidungen treffen. Aber es ist doch keine falsche Politik, den Versuch zu unternehmen, dort, wo es möglich ist, Konsens zu finden. Eine pauschale Absage nach der einen oder anderen Seite ist mit Sicherheit nicht demokratieverträglich. Deswegen sage ich das auch entsprechend klar und deutlich.

Meine Damen und Herren, wir haben auch in dieser schwierigen Zeit gute Chancen.

(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]:Haben wir heute schon Sonntag? Das hört sich an wie eine Predigt zum Sonntag!)

- Ich muß Sie auch ertragen. Deswegen müssen Sie mich auch ertragen. Ich finde, es kann Ihnen nur guttun, wenn Sie so etwas mal hören.

Meine Damen und Herren, denjenigen, die den Standort Deutschland schlechtmachen, muß man in Erinnerung rufen, daß wir wichtige Aktivposten haben, die sich sehr wohl mit allen anderen Ländern der Welt messen können: eine ausgezeichnete Infrastruktur, die hohe Qualifikation bei der Ausbildung - ich habe davon gesprochen - und eine ausgewogene Wirtschaftsstruktur zusammen mit einem leistungsfähigen Mittelstand.

Meine Damen und Herren, das sind Aktivposten, mit denen wir bei dem, was wir an Problemen zu bewältigen haben, ein gutes Stück vorankommen können. Es ist auch wahr, daß wir wieder in eine Entwicklung kommen - Gott sei Dank -, daß die Konjunktur anzieht. Ich streite nicht darüber, ob es zwei oder zweieinhalb Prozent sind; jedenfalls zieht die Konjunktur an. Wir haben faktisch Preisstabilität, nämlich eine Inflationsrate von nur eineinhalb Prozent. Ich höre hier dauernd etwas von dem sozialen Abstieg in Deutschland. Keiner von Ihnen hat es bisher für nötig befunden zu sagen, daß einer der größten Erfolge unserer Zeit die niedrige Inflationsrate von eineinhalb Prozent ist.

Die Zinsen befinden sich auf einem historischen Tiefstand. Wir haben Tarifabschlüsse, jedenfalls in der allerjüngsten Zeit, die sehr viel besser als in früherer Zeit wettbewerbs- und beschäftigungsorientiert sind. Wir haben eine Weltkonjunktur, die dem Export hilft. Und ein Sachverhalt ist hier seltsamerweise nie angeklungen, aber von entscheidender Bedeutung: Die D-Mark-Aufwertung vom Frühjahr 1995 ist fast vollständig zurückgebildet worden.

Diese Tatsachen geben allen Grund zu einem realistischen Optimismus, nicht zu Pessimismus.

(Zuruf des Abg. Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

- Sie haben recht, wenn Sie meinen, daß wir auch noch eine gute Regierung haben. Aber - dieses Aber muß der Wahrheit halber sofort hinzugefügt werden - das alleine genügt noch nicht. Wir müssen auch fähig sein, zu erkennen - das ist eine notwendige und bittere Erkenntnis -, daß unsere traditionelle Erfahrung, ein Anziehen der Konjunktur führe zu einem Abbau der Arbeitslosigkeit, so nicht mehr stimmt. Das heißt, daß wir die Tatsache von rund vier Millionen Arbeitslosen nicht akzeptieren können. Dies ist und bleibt das zentrale Thema deutscher Politik.

Diese Erkenntnis hat dazu geführt - Wolfgang Schäuble hat es zitiert -, daß wir - Wirtschaft, Gewerkschaften und Bundesregierung - am 23. Januar gemeinsam ganz klare Aussagen zu der Notwendigkeit eines Beschäftigungspaktes gemacht haben. Wir haben erklärt - das war nicht selbstverständlich -, daß wir die Zahl der Arbeitslosen halbieren wollen.

Wir wußten, daß dies ein sehr ehrgeiziges Ziel ist. Ich sehe nicht den geringsten Grund, von diesem ehrgeizigen Ziel abzugehen. Ich bin dafür, alle Kraft einzusetzen. Denn ich vermag nicht zu erkennen, warum uns dies nicht möglich sein soll, wie damals, als wir - übrigens entgegen Ihren Unkenrufen - zwischen 1983 und 1992 mehr als drei Millionen zusätzliche Arbeitsplätze geschaffen haben.

Die Tatsache, daß die Arbeitslosigkeit heute so hoch ist, hat auch mit Faktoren zu tun, die Sie in der Debatte regelmäßig unterschlagen. Dies ist nicht korrekt. Der deutsche Arbeitsmarkt hat in den letzten acht Jahren mehr als 2,5 Millionen Zuwanderer aufgenommen, und zwar mit all den Konsequenzen, die diese Zuwanderung mit sich bringt. Ich sage überhaupt nichts gegen diese Zuwanderung. Aber wenn man Vergleiche anstellt, etwa mit anderen Ländern in Europa, stellt man realistischerweise fest, daß es hohe Zeit ist, diese Tatsache zur Kenntnis zu nehmen.

Wir wissen, daß die Schaffung von Arbeitsplätzen in einem größeren Umfang beim Öffentlichen Dienst - bei Bund, Ländern, Gemeinden - keine Zukunft hat. Es gibt viele Diskussionsbeiträge aus dem Kreis Ihrer Ministerpräsidenten, die das deutlich machen. Und wir können auch nicht erwarten, daß der Durchbruch bei der Lösung dieses Problems in den deutschen Großunternehmen erfolgt. Die eigentliche Chance für uns in Deutschland liegt darin - damit wiederholt sich die Situation der 50er Jahre -, daß neue Arbeitsplätze in großem Umfang im Bereich des Mittelstandes entstehen.

Von 1990 bis 1995 sind immerhin eine Million Arbeitsplätze in diesem Bereich geschaffen worden. Das heißt sehr konkret, daß wir alles tun müssen, um zu mehr Selbständigkeit beizutragen, den Mittelstand zu entlasten - Wolfgang Schäuble hat die Steuerfrage angesprochen; ich brauche das nicht zu wiederholen -, die notwendigen Reformen voranzubringen. Vor allem brauchen wir ein Umdenken in unserem Land, eine höhere Bereitschaft, sich selbständig zu machen. Im Vergleich zu anderen Ländern liegen wir in dieser Entwicklung überall - bis hin zum Bereich der Pädagogik - zurück. Deswegen müssen jetzt die Konsequenzen gezogen werden, das heißt: öffentliche Haushalte konsolidieren, Steuern und Abgaben senken, Sozialstaat umbauen!

(Joseph Fischer [Frankfurt] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie machen wir das? Das würde mich einmalinteressieren!)

- Genau das haben wir mit dem "Programm für mehr Wachstum und Beschäftigung" auf den Weg gebracht. Sie wissen so gut wie ich, daß vieles bereits durchgesetzt wurde. Sie wissen aber auch, daß Sie über Ihre Position im Bundesrat alles tun, um hier zu blockieren. Die Strategie ist doch ganz klar - lassen Sie uns doch nicht darum herumreden -: Mit der Blockade im Bundesrat wird der Versuch unternommen, die Regierung handlungsunfähig erscheinen zu lassen, den Leuten draußen zu sagen: Die haben zwar vielleicht guten Willen, aber sie bringen es nicht fertig. So wollen Sie das Ganze auf die Bundestagswahl 1998 zutreiben lassen.

Ich kann Ihnen nur sagen: Das wird Ihnen nicht gelingen. Sie werden sehen, daß sich - wie wir es vor zwanzig Jahren auch einmal erfahren haben - diese Form der Blockade nicht auszahlt. Sie werden am Ende mit leeren Händen dastehen. Wir werden diese Auseinandersetzung mit Ihnen selbstverständlich kämpferisch führen.

Wir können natürlich noch über viele Details streiten. Wir können noch darüber streiten, ob es in der Frage der Lohnfortzahlung so oder anders gemacht wird. Wir haben Gewerkschafter und Unternehmer eingeladen, um es ihnen zu erleichtern, selber zu Regelungen zu kommen. Ich hätte es sehr be- grüßt, wenn von Januar bis April dieses Jahres eine Regelung gefunden worden wäre. Ausreichend Bereitschaft dafür war zunächst vorhanden.

Meine Damen und Herren, wenn man sieht, daß sich Arbeitgeber und Gewerkschaften in einem wichtigen Bereich in den letzten 48 Stunden beinahe auf ein für sie akzeptables Modell geeinigt hatten, was dann aber letztendlich doch fehlschlug, dann frage ich mich schon, ob alle Beteiligten wirklich wissen, daß es jetzt nicht darum geht, irgendwelche Prestigefragen in den Vordergrund zu stellen, sondern darum, zu sagen, was getan werden kann, um neue Arbeitsplätze zu schaffen.

Wenn wir von Zukunft reden, dann heißt das auch, daß wir den Sozialstaat umbauen müssen. Es geht nicht um Abschaffung des Sozialstaats. Es ist ziemlich absurd, in einem Land, in dem Sozialleistungen in einer Größenordnung gewährt werden, wie es in der Bundesrepublik der Fall ist, von einem Abbau des Sozialstaats zu reden. Jede dritte erwirtschaftete D-Mark wird für Sozialleistungen ausgegeben. In keinem Land gibt es Arbeitnehmer mit vergleichbaren Arbeitszeiten und vergleichbaren Urlaubsregelungen. In keinem Land gibt es vergleichbare Renten. Warum bringen Sie also dauernd diese Mär auf, die soziale Katastrophe stehe ins Haus?

Wahr ist, daß wir eine Menge an Problemen auch im sozialen Bereich haben. Wahr ist auch, daß ein beachtlicher Teil der gewaltigen Summe, die die Bürger der Bundesrepublik über Steuern für den Sozialbereich aufbringen, nicht denen zugute kommt, denen er zugute kommen soll: den Bedürftigen. Statt dessen wird er von Trittbrettfahrern in Anspruch genommen. Das lehrt die Erfahrung.

Herr Ministerpräsident, Sie haben vorhin auf die Bevölkerungsentwicklung hingewiesen: Ich bin Ihnen dankbar für diesen Hinweis; denn das deutet an, daß wir uns in dem Punkt vielleicht doch näherkommen. Wenn wir die soziale Situation Deutschlands und die demographischen Daten betrachten - die Europäische Union hat kürzlich die neuen Zahlen veröffentlicht -, dann stellen wir fest: Die Bundesrepublik Deutschland ist - neben ein, zwei anderen Ländern - durch die freie Entscheidung ihrer Bürger das Land mit der niedrigsten Geburtenrate in Europa. Es ist ganz offensichtlich, daß sich das in absehbarer Zeit nicht ändern wird.

(Zuruf von der SPD)

- Das werden Sie nicht bestreiten wollen. Wenn Sie solche Laute von sich geben, bedenken Sie bitte, was Ihr Fraktionsvorsitzender vorhin im Hinblick auf Kultur gesagt hat. Also, die Zahl ist unbestreitbar.

Unbestreitbar ist auch - das ist höchst erfreulich -, daß die Zahl der Älteren zunimmt. In Kürze werden wir drei Millionen Menschen haben, die älter als 80 Jahre sind; in absehbarer Zeit werden es mehr als vier Millionen sein. Diese Veränderungen haben dramatische Folgen für das Renten- und Gesundheitssystem. Wenn wir uns einmal die Belegungszahlen in chirurgischen Kliniken - etwa für Bypass-Operationen, Hüftoperationen und so weiter - anschauen, dann wird daran der medizinische Fortschritt deutlich. Das alles ist höchst erfreulich. Aber das hat natürlich auch Auswirkungen auf die Gesamtsituation. Es ist doch billig, zu sagen, wie es vorhin wieder anklang: Der Seehofer versagt.

Wir, die Koalition, sind der Auffassung - dies sollten alle, auch die Ärzteschaft und die Kassen, bedenken -, daß die freie Arztwahl eine Grundvoraussetzung für ein System der Freiheit ist. Dann müssen wir aber alles tun, um dieses System unter Bedingungen, die sich total verändert haben, zu erhalten.

Ich möchte ein anderes Beispiel - vorhin wurden die Länder angesprochen - anführen: Ich kann es nicht akzeptieren, daß wir sechs Jahre nach der Deutschen Einheit in Sachen Abitur - acht oder neun Jahre Gymnasium - immer noch nicht zu einer Regelung gekommen sind. Auch hier kann ich nicht fragen: Wer trägt die Verantwortung? Es ist für mich nicht einsichtig, daß in anderen Ländern Europas die Hochschulreife nach acht Jahren Gymnasium erlangt werden kann und es bei uns einen Streit gibt, ob man dazu neun Jahre Gymnasium braucht. Es stellt sich doch die Frage nach den Inhalten, es stellt sich die Frage: Wie soll es weitergehen, wenn bei uns in Deutschland der Student die Hochschule im Alter von 29 Jahren verläßt? In allen anderen EU-Ländern liegt das Hochschulabgangsalter bei 25 Jahren.

Wir reden dauernd von Chancengleichheit junger Leute. - Laßt uns doch dafür etwas tun! Sie können doch nicht sagen: Daß es hier Nachholbedarf gibt, ist die Schuld der Bundesregierung. Wir werden bei der Novellierung des Gesetzes darauf zurückkommen. Ich bin sehr darauf gespannt, was die Kollegen aus den SPD-geführten Bundesländern dazu zu sagen haben.

Ich komme jetzt zum Thema Rente: Norbert Blüm hat natürlich recht, wenn er von der Rente der jetzigen Rentengeneration spricht. Er hat aber immer gesagt - und wir alle sagen es -, daß die Jungen einen Anspruch darauf haben, zu erfahren, wie wir uns in etwa ihre Versorgung in den nächsten Jahrzehnten des neuen Jahrhunderts vorstellen. Deswegen haben wir die Rentenkommission gegründet; die Bundesregierung wird im neuen Jahr ihre Vorschläge machen. Ich lade Sie herzlich ein, an dieser Rentenreform mitzuwirken.

Das heißt aber auch: Wenn es so ist, daß die bisherigen Lösungen angesichts der demographischen Veränderungen nicht tragfähig sind, müssen wir daraus die Konsequenzen ziehen. Das ist eine entscheidende Voraussetzung, damit wir das wichtige Ziel, das wir uns vorgenommen haben - so schwierig es auch sein mag -, erreichen. Wir haben uns vorgenommen, bis zum Ende dieses Jahrzehnts die Sozialversicherungsbeiträge wieder auf unter 40 Prozent zu drücken.

Das alles ist möglich, wenn wir zum gemeinsamen Handeln fähig sind. Ich glaube schon, daß wir sowohl die Kraft als auch die notwendige Einsicht dazu haben, wenn wir nicht das Parteipolitische in den Vordergrund stellen, sondern darüber reden, was der beste Weg ist, um die Zukunft zu sichern.

Mit Blick auf die Versorgung mit Lehrstellen habe ich versucht darzustellen, wie wir diesen Weg sehen. Wir werden bei der Rentenfrage über vieles zu reden haben. Ich könnte mir auch vorstellen, daß es Punkte gibt, bei denen wir uns annähern und verständigen können.

Ich erwarte von Ihnen, der Opposition, nicht, daß Sie Regierungsvorlagen unbedingt zustimmen, selbst wenn Sie überzeugt sind, daß sie letztlich richtig sind. Es gibt auch noch eine andere Überlegung, die ich ja auch höre: Wenn die das jetzt machen, ist es besser, als wenn wir es später machen müssen. Auch das ist eine in der Politik ganz legitime Betrachtungsweise. Sie darf allerdings nicht dazu führen, daß nicht gehandelt wird.

Ich will heute nicht viel zum Thema Europapolitik sagen, obwohl das Thema von größter Aktualität ist. Wir haben vereinbart, am 12. Dezember hierzu eine Regierungserklärung abzugeben. Wir werden also über das Thema Europa am Vorabend der Dublin-Konferenz Mitte des kommenden Monats sprechen können. Ich habe jedoch aktuellen Anlaß, ein paar Bemerkungen zu machen, die mir wichtig erscheinen.

Ich hoffe, es ist unter uns nicht streitig, daß neben der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und neben der Vollendung der inneren Einheit die dritte große Herausforderung deutscher Politik die politische Einigung Europas ist. Wir wollen sie ohne Wenn und Aber vorantreiben. Bei der Vorbereitung der Regierungskonferenz in Amsterdam im Juni werden wir über viele Details zu reden haben. Ich habe zugesagt, daß die Bundesregierung den Bundestag über den Europaausschuß voll informiert. Wir kommen jetzt in das Stadium der Entscheidung. Wir werden dabei vor Themen stehen, die viel Umdenken notwendig machen.

Ich will ein Beispiel nennen: Ich persönlich bin zutiefst überzeugt, daß wir mit dem alten nationalstaatlichen Denken bei der Verbrechensbekämpfung, wenn es um die internationale Mafia geht, nicht zurechtkommen werden. Wir werden uns auf grenzüberschreitende Regelungen verständigen müssen. Je früher wir das tun, um so mehr haben wir eine Chance, dieses Krebsgeschwür der neuen Zeit - Geldwäsche, Drogenmafia - mit all der kriminellen Energie, die ihm innewohnt, zu beseitigen oder zumindest zu stoppen.

Ich bin auch sicher, daß wir in der Außen- und Sicherheitspolitik als Europäer bekennen müssen: Ein Vorgang, wie wir ihn in den zurückliegenden Jahren im früheren Jugoslawien erlebt haben, darf sich nicht wiederholen. Es darf sich nicht wiederholen, daß die Europäer für sich allein letztlich nicht handlungsfähig sind, sondern die Amerikaner brauchen, damit es überhaupt zu einer Entscheidung kommt.

Heute geht es mir vor allem darum, daß Sie wissen, daß wir bei der Wirtschafts- und Währungsunion in eine entscheidende Phase eingetreten sind. Meine Damen und Herren, die Logik der Entwicklung heißt: Wir müssen mit dieser Wirtschafts- und Währungsunion zum Abschluß kommen. Wir brauchen den Euro jetzt, nicht irgendwann. Wir wollen seine Einführung nicht verschieben, wir wollen ihn jetzt durchsetzen.

Wer immer noch seine Zweifel hat, der muß wissen - wenn wir über die weltweite Auseinandersetzung im ökonomischen Bereich und über die Globalisierung der Wirtschaft sprechen -, daß der Euro unsere Wettbewerbsposition als Europäer und damit auch als Deutsche gegenüber den Konkurrenten aus Dollar- und Yen-Ländern stärkt, daß unsere Position dadurch auf den internationalen Finanzmärkten verbessert wird. Deswegen wollen wir ihn jetzt.

Wir wollen auch - das muß klar sein, ich halte es für sehr wichtig, daß es auch in diesem Augenblick wieder gesagt wird, während in Europa wichtige Besprechungen stattfinden -, daß die Bundesrepublik und vor allem die Bundesregierung ohne jede Einschränkung dafür eintritt, daß die Europäische Währungsunion zum vorgesehenen Zeitpunkt verwirklicht wird und daß die in Maastricht vereinbarten Kriterien eingehalten werden, und zwar nicht nur für eine kurze Zeit, sondern auf Dauer.

Das ist das Ziel des Stabilitätspakts, den der Kollege Waigel in die Diskussion gebracht hat und der sehr viel Zustimmung findet. Meine Damen und Herren, das heißt auch, daß wir als Deutsche, die wir uns in der Europapolitik und hier besonders bei der Aufgabe der D-Mark auf Grund all dessen, was damit an geschichtlichen Erfahrungen zusammenhängt, schwertun, eine harte Währung wollen und nicht in eine Weichwährungssituation geraten wollen. Dies ist keine Arroganz, sondern beruht auch auf der Lebenserfahrung der Deutschen in den letzten 50 Jahren.

Alle Vorschläge, die Stabilitätskriterien aufzuweichen beziehungsweise innerhalb des Europäischen Währungssystems eine bestimmte Währung abzuwerten, sind mit diesem Kurs nicht vereinbar, sondern sind sogar schädlich für die Zukunft. Wir wollen, daß möglichst viele Mitgliedstaaten, die die Stabilitätskriterien erfüllen, von Anfang an teilnehmen.

Aber wir sollten jetzt alle keine Spekulationen anstellen. Die Entscheidung sollte vielmehr dann fallen, wenn sie vertraglich zu fällen ist, nämlich im Frühjahr 1998. Dabei sind die dann vorliegenden Ist-Daten für 1997 ausschlaggebend. Natürlich muß das so gestaltet werden, daß die Länder, die am Anfang nicht dabei sind, auch später noch beitreten können.

Meine Damen und Herren, damit sind wir beim Haushalt. Wenn wir dieses Ziel erreichen wollen und es für andere fordern, müssen wir als Deutsche unseren eigenen Beitrag dazu leisten und uns anstrengen. Die Regierungskoalition hat sich schwergetan - weil es schwer war und auch noch schwierig ist -, die notwendigen Beschlüsse zu fassen. Mit dem auf 53 Milliarden D-Mark begrenzten Defizit schafft der Bund die notwendigen Voraussetzungen. Auf Grund der Daten, die der Finanzplanungsrat von Bund, Ländern und Gemeinden in der letzten Woche genannt hat, bin ich hoffnungsvoll, daß wir die Nettoneuverschuldung auf zweieinhalb Prozent des Bruttoinlandsproduktes begrenzen werden. Wir lägen damit etwas unter der Drei-Prozent-Grenze des Maastricht-Vertrages. Ich rate uns, diese Menge unter allen Umständen auch in Zukunft beizubehalten.

Meine Damen und Herren, wir bauen jetzt das Haus Europa. Ich zitiere hier einmal Konrad Adenauer, der uns damals, zu Beginn der 50er Jahre, zugerufen hat: "Deutsche Einheit und europäische Einigung sind zwei Seiten der gleichen Medaille."

Die Deutschen haben am Ende dieses Jahrhunderts viel Glück erfahren. Wir sollten bei allen Problemen des Tages nicht vergessen, daß wir Grund zu großer Dankbarkeit haben. Wir haben mit Zustimmung all unserer Nachbarn die Deutsche Einheit erreicht. Wir sind heute Hoffnungsträger für die meisten Länder Mittel-, Ost- und Südosteuropas auf deren Weg nach Europa. Dies war nach all dem Schrecklichen, was in diesem Jahrhundert auch in deutschem Namen geschehen ist, so nicht zu erwarten.

Ich sagte, wir haben große Probleme. Aber wenn ich mir überlege, daß wir vor rund zehn Jahren im Deutschen Bundestag wichtige und heftige Debatten über die Frage der Stationierung von Kurzstreckenraketen hatten - es ging um die Modernisierung der Lance-Raketen -, kommt mir das manchmal vor, als sei das in einer lange vergangenen Zeit gewesen. Wenn wir diese Frage in einen Zusammenhang stellen mit dem, was wir heute zu tun und zu entscheiden haben, dann bin ich dankbar, daß wir jetzt nicht über Fragen von Krieg und Frieden zu entscheiden haben, sondern daß wir über Probleme der sozialen Stabilität und des sozialen Fortschritts, daß wir als Deutsche über Werke des Friedens entscheiden können.

Ich kann nicht erkennen, daß wir angesichts der Ausgangsposition, die wir haben, wenn wir uns auf die eigene Kraft besinnen, Grund zu Pessimismus haben. Wir wollen Zukunft sichern. Das ist die entschiedene Meinung der Regierungskoalition aus CDU, CSU und FDP, und das ist auch die entschiedene Meinung der Bundesregierung. So werden wir unsere Politik auch unseren Bürgerinnen und Bürgern immer wieder vortragen.

Wir werden uns zu gegebener Zeit der Entscheidung stellen. Ich bin sicher, auch diese Entscheidung wird so sein wie Entscheidungen der vergangenen Jahre.

Quelle: Bulletin der Bundesregierung. Nr. 97. 29. November 1996.