27. Oktober 1992

Grundsatzrede auf dem 3. Parteitag der CDU in Düsseldorf

 

Ich weiß, dass es im Vorfeld unseres Bundesparteitags innerhalb und auch außerhalb der Partei in manchen Kommentaren die Frage gab: Ist es richtig, in diesem Augenblick drängender Probleme in Deutschland auf einem Bundesparteitag einen ganzen Tag der Frage „Europa und die europäische Entwicklung" zu widmen?

Wir haben über dieses Thema im Bundesvorstand schon vor vielen Monaten, als wir diesen Parteitag konzipierten, eingehend gesprochen. Wir waren einstimmig der Auffassung, dass es wichtig und richtig ist, zu dieser Zeit, in der sich die Dinge in Europa dramatisch verändern, als die klassische Europa-Partei Deutschlands eine solche Planung vorzunehmen. Wir stehen damit auch in der Nachfolge Konrad Adenauers.

Ich beklage ein wenig - ich sage das ganz offen -, dass wegen der Diskussion um manche Sorgen im eigenen Land heute in der Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland und nicht zuletzt in unserer eigenen Partei gelegentlich der Eindruck entsteht, als nähmen wir die europäischen Dinge nicht mehr ganz so wichtig. Ich kann nur wiederholen, was ich schon oft gesagt habe: Die CDU ist und bleibt die Europa-Partei in Deutschland. Für uns ist die Entwicklung Europas nicht irgendein Thema der Tagespolitik. Europa ist für Deutschland eine Schicksalsfrage; ich behaupte: die Schicksalsfrage.

Als Land in der Mitte unseres Kontinents haben wir mehr Grenzen und Nachbarn als die anderen. Wir haben eine besondere Geschichte, eine Geschichte, zu der auch große deutsche Schuld gehört. Ein Land mit 80 Millionen Einwohnern, ein Land mit dieser Wirtschaftskraft, das morgen und übermorgen, wenn die Aufbauarbeiten in den neuen Bundesländern geschafft sind, stärker als je zuvor sein wird - so hat es Francois Mitterrand formuliert -, erweckt Ängste, erweckt - wenn Sie es so nennen wollen - Neid. Deswegen ist es wichtig, dass wir, die Deutschen, und wir, die CDU als die Partei der Mitte in Deutschland, begreifen, dass hier eine besondere Herausforderung und Aufgabe für uns liegt. Unsere nationale Zukunft ist noch viel mehr als die der anderen mit der Entwicklung Europas verknüpft.

Es kann und darf uns deshalb nicht gleichgültig sein, welchen Weg Europa geht: Ob es sich unwiderruflich auf den politischen und wirtschaftlichen Zusammenschluss festlegt oder ob es in nationale Rivalitäten früherer Zeiten zurückfällt. Dies ist in Wahrheit die Kernfrage der Europa-Politik und die Kernfrage der Diskussion über den Maastricht-Vertrag. Wenn wir jetzt - jetzt heißt, in den wenigen Jahren bis zum Ende dieses Jahrhunderts -nicht die Europäische Union schaffen, dann versagen wir vor der Geschichte, und - das füge ich mit großem Bedacht hinzu - wir setzen leichtfertig das aufs Spiel, was wir mühsam genug erreicht haben.

Bei der Diskussion in diesen Wochen und Monaten denke ich oft - ich habe es häufig zitiert; ich wiederhole es - an eine Äußerung zurück, die Konrad Adenauer am Vorabend der Debatte im französischen Parlament über den Vertrag zur Europäischen Verteidigungsgemeinschaft im Jahr 1954 machte, über eine Vorlage, von der wir ja wissen, dass sie dann abgelehnt wurde. Er sagte sinngemäß: Wenn dieser Vertrag scheitert, werden wir mindestens eine Generation brauchen, bis wir in Europa wieder ein Stück aufeinander zugehen und zusammenkommen. Das war 1954.

Wir schreiben 1992. Es hat länger gedauert als eine Generation. Ich wage heute die Behauptung: Wenn der Vertrag von Maastricht nicht in Kraft tritt und wenn wir auf dem Weg nach Europa zurückgeworfen werden, dann dauert es wesentlich länger als eine Generation, bis wir erneut eine solche Chance erhalten. Wir laufen dann Gefahr - das gilt heute mehr als 1954 -, dass Europa und die Europäer von ihrer unseligen Vergangenheit eingeholt werden.

Ich kann nur beschwörend sagen: Es soll niemand unter uns glauben, dass das Gespenst des Nationalismus und des Chauvinismus in Europa endgültig tot oder nur noch auf dem Balkan zu Hause ist. Ich bezweifle, dass die bösen Geister der Vergangenheit, unter denen wir in Europa gerade in diesem Jahrhundert so schrecklich gelitten haben, ein für allemal gebannt sind. Schon heute zeichnet sich im Osten unseres Kontinents zum Teil eine Rückkehr zu chauvinistischem, nationalistischem Denken ab, zu Intoleranz und all dem, was dazugehört. Niemand in Deutschland oder im Westen Europas soll überheblich sagen, wir seien von solchen Versuchungen völlig frei. Ebenso gefährlich ist es, wenn hier und da mit dem Argument Stimmung gemacht wird, Deutschland sei zu groß und zu mächtig geworden, und man müsse es wieder durch Koalitionen eindämmen. Wir schreiben das Jahr 1992 und nicht das Jahr 1902. Der Vertrag von Maastricht ist vor allem eine Voraussetzung für Frieden und Freiheit der Deutschen und der Europäer.

Unsere Antwort ist klar. Die zweite deutsche Republik, unsere Bundesrepublik Deutschland, hat sich endgültig für eine Politik entschieden, die auf den immer engeren Zusammenschluss der europäischen Völker und Nationen setzt. Zu dieser Politik gibt es nach meiner Überzeugung keine vernünftige Alternative. Unsere Politik war dabei nie eine Politik des Ausgrenzens einzelner Partner, und sie wird es auch in Zukunft nicht sein. Wir wollen - um das klar auszusprechen - kein Europa der zwei oder der drei Geschwindigkeiten. Aber wir wollen auch kein Europa, in dem das langsamste Schiff das Tempo des ganzen Geleitzugs bestimmt.

Die Europäische Gemeinschaft hat uns Deutschen wie auch unseren Partnern Frieden und Freiheit gesichert. Wir in Deutschland verdanken nicht zuletzt dieser Gemeinschaft ein bisher nie gekanntes Maß an Wohlstand. Heute betrachten zu viele die Früchte der europäischen Einigung als selbstverständlich. Sie erkennen nicht mehr, welche Vorteile die europäische Einigung gerade für die Deutschen bringt. Knapp drei Viertel unserer Exporte gehen heute in die Länder der EG und der EFTA, und zwei Drittel unserer Importe kommen von dort. Die EG und die EFTA-Länder haben damit entscheidenden Anteil an Wachstum und Beschäftigung, an Stabilität und Wohlstand bei uns. Wenn etwa mein geschätzter Amtsvorgänger früher zu sagen pflegte: „Wir sind nicht die Zahlmeister Europas", hat er damit eine ungewöhnlich törichte Meinung vertreten. Denn wir waren zu allen Zeiten die Hauptnutznießer dieses sich einigenden Europas. Es ist nur selbstverständlich und gerecht, dass ein Land, das den größten Nutzen von der Gemeinschaft hat, auch an den Kosten den größten Anteil zu tragen hat. Wer jetzt für ein geringeres Maß an europäischer Integration plädiert, setzt viele Millionen Arbeitsplätze aufs Spiel. Er riskiert einen Abbau jener Arbeitsplätze, die durch die Verflechtung der europäischen Volkswirtschaften hierzulande aufgebaut werden konnten.

Es kommt noch etwas anderes hinzu. Wir, die Europäer, werden noch am Ende dieses Jahrzehnts und Jahrhunderts, das heißt in wenigen Jahren, erleben, dass sich die Amerikaner, die Kanadier und die Mexikaner zu einer immer engeren Freihandelszone zusammenschließen. Wir werden weitere Zusammenschlüsse von Ländern in Südamerika erleben, und wir werden sie im ostasiatisch-pazifischen Raum erleben. All das muss uns aufrütteln, wenn wir an die Zukunft unserer Wirtschaft, an die Arbeitsplätze, die Exportchancen denken. Für die Exportnation Deutschland ist der Zusammenschluss Europas von entscheidender Bedeutung. Aber wenn wir das Ganze nur unter Ökonomischen Gesichtspunkten betrachten, übersehen wir die eigentliche Bedeutung des europäischen Einigungswerkes. So sehr ich vom wirtschaftlichen Nutzen überzeugt bin: Wenn es nur um den wirtschaftlichen Nutzen ginge, würde eine Art gehobene Freihandelszone ausreichen. Es geht aber um mehr: Es geht um die Wirtschafts-, die Währungs- und es geht um die Politische Union. Dies müssen wir viel stärker als bisher unter die Menschen tragen.

Wir leben heute - im Jahre 1992 - in Deutschland in der längsten Friedensperiode seit der Mitte des 19. Jahrhunderts. 21 Jahre nach dem Ende des Ersten begann der Zweite Weltkrieg, 43 Jahre nach der Reichsgründung 1871 brach der Erste Weltkrieg aus. Heute leben wir schon 47 Jahre, das heißt ein halbes Jahrhundert, in Frieden, und Deutschland ist in Frieden und Freiheit wiedervereint. Dass dies so ist, verdanken wir nicht zuletzt der Politik der Einigung Europas in diesen Jahrzehnten. Vergessen wir nicht: Die Politik der europäischen Einigung war eine entscheidende Voraussetzung für die Zustimmung aller unserer Nachbarn zur friedlichen Wiedervereinigung der Deutschen in Freiheit. Es ist ein einmaliger Vorgang in der Weltgeschichte, dass ein solch dramatischer Prozess von allen Nachbarn mit Zustimmung und Sympathie begleitet wurde. Auch das verdanken wir der Politik der europäischen Einigung.

Vor allem unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger in den neuen Bundesländern erfahren seit der Öffnung der Mauer und seit der deutschen Wiedervereinigung, was offene Grenzen, was beispielsweise freies Reisen bedeutet. Noch vor wenigen Jahren wurden von den Machthabern der früheren DDR die Europäische Gemeinschaft wie auch die Atlantische Allianz als eine Ausgeburt des Kapitalismus verteufelt. Man kann von einem Achtzehnjährigen in Leipzig oder in Rostock - der jetzt übrigens seinen Dienst als Soldat in der Bundeswehr tut -, der das alles noch in seiner Schulausbildung ganz anders gehört hat, nicht erwarten, dass er nun über Nacht begreift, was dieses Europa für ihn bedeutet. Aber es ist weit mehr sein Europa als das Europa meiner Generation. Deswegen müssen wir mit der ganzen Leidenschaft, zu der wir fähig sind, in einer Sprache, die die Menschen verstehen und die sich nicht immer mehr vom Denken der Menschen entfernt, gerade an die jungen Leute herantreten und diese überzeugen.

Deutschland und Europa stehen nach dem Ende des Ost-West-Konflikts vor neuen Herausforderungen. Der Umbruch in Mittel-, Ost- und Südosteuropa bringt für jeden erkennbar Risiken und Unwägbarkeiten mit sich. Ganz Europa braucht heute mehr denn je einen sicheren und festen Anker. Diese Rolle und diesen Auftrag kann nur eine starke Europäische Gemeinschaft übernehmen.

Damit bin ich bei einem, wenn nicht bei dem wesentlichen Ziel des Vertrags von Maastricht. Dieser Vertrag ist nicht zuletzt eine europäische Antwort auf neue Entwicklungen nach dem Zusammenbruch der kommunistischen Diktaturen in Mittel-, Ost- und Südosteuropa. Wir stellen uns damit unserer Verantwortung für die Zukunft des ganzen europäischen Kontinents. Ich weiß, dass derart tiefgreifende Veränderungen in Europa, deren Zeugen wir in diesen Jahren waren und sind, viele Menschen in Deutschland, aber auch in anderen Ländern der Gemeinschaft, verunsichern. Manche fragen sich, ob nicht das Tempo der Veränderung zu schnell sei, ob nicht der Vertrag von Maastricht zu früh gekommen sei, ob die Ziele nicht zu ehrgeizig seien.

Ich stelle dazu eine ganz einfache Gegenfrage: Können wir uns eine langsamere Gangart überhaupt leisten? Ich will das so zusammenfassen, wie ich es empfinde: Wir haben das Glück und die historische Chance, nun auch das zweite Ziel der deutschen Verfassung, der Präambel des Grundgesetzes von 1949, zu erreichen: nach dem Erreichen der staatlichen Einheit Deutschlands nun auch die europäische Einigung. Hätten wir bei der deutschen Einheit gezögert und erst einmal über die Frage diskutiert: „Können wir es wagen, oder können wir es nicht wagen?", säßen unsere Freunde aus Sachsen, aus Sachsen-Anhalt, aus Thüringen, aus Mecklenburg-Vorpommern, aus Brandenburg und aus Ost-Berlin heute hier nicht bei uns.

Es ist eine alte Erfahrung, auch eine Erfahrung unseres Volkes, dass es in der Geschichte immer wieder Situationen gibt, in denen man den Mut haben muss, auch angesichts mancher Risiken den Sprung zu wagen. Wir haben diesen Mut gehabt, als die Stunde für die deutsche Einheit kam. Wir müssen ihn auch jetzt haben in Europa, und wir müssen die Zaudernden mitreißen, damit sie sehen, dass es ihre eigene Zukunft ist, die jetzt mit auf dem Spiele steht. Abwarten ist die falsche Antwort, und Stillstand wäre Rückschritt. Deshalb müssen wir gemeinsam mit unseren Partnern entschlossen vorwärtsgehen, deswegen werde ich alles tun, damit wir gemeinsam mit unseren Partnern die Chancen dieser Zeit ergreifen. Dass wir dabei Kritik erfahren, das müssen wir in Kauf nehmen, beispielsweise wenn gesagt wird, dass das etwas zu tun habe mit deutscher Großmannssucht, dass die Deutschen wieder nach Hegemonie streben würden, dass sie mit ihrer starken Mark Europa einkaufen wollten und dergleichen mehr.

Dann höre ich beispielsweise, die Beziehungen zu Paris seien zu eng, es gebe eine Achse Paris-Bonn, es gebe eine französisch-deutsche Hegemonie. Andere sagen, wenn wir die Einigung Europas nicht weiter vertiefen, kämen die Deutschen ihrer Pflicht nicht nach. Aber ich lasse mir lieber öffentlich vorwerfen, die Beziehungen zu Frankreich seien zu eng, als dass ich mir vorwerfen lasse, wir Deutsche hätten aus der Geschichte nichts gelernt und die „Erbfeindschaft" gehe immer noch weiter. Jetzt gilt es, das Richtige zu tun.

Da gibt es natürlich manche, die nur hundertprozentige Lösungen wollen, die sagen: alles oder nichts. Natürlich ist der Vertrag von Maastricht nicht optimal, und es gibt sicherlich eine Reihe von Sachfragen, bei denen man sagen kann: Das hätten wir gerne anders gemacht. Ein geeintes Europa kann nur in kleinen Schritten erreicht werden, und wir sind schon sehr weit gekommen, wenn man einmal den Weg bedenkt, den wir bereits zurückgelegt haben. In diesem Jahrhundert haben junge Leute aus Deutschland einerseits, aus Frankreich oder Großbritannien andererseits in zwei schrecklichen Kriegen gegeneinander gestanden. Die jungen Menschen, die heute für Europa auf die Straßen gehen, haben oft Großväter und Urgroßväter, die bei Verdun oder bei der Invasion 1944 gefallen sind. Und wenn wir jetzt am Ende dieses Jahrhunderts fähig sind, so von Europa zu sprechen, wie wir es jetzt tun, ist das doch ein ungeheurer Fortschritt! Lassen Sie sich das nicht ausreden von Leuten, die immer so tun, als ob sie alles besser wissen und dabei bisher nichts für Europa getan haben!

Der Vertrag von Maastricht ist ein entscheidendes und wichtiges Werk auf dem Weg zum geeinten Europa. Aber das Leben wird in den kommenden Jahren noch viele Kapitel hinzufügen. Es soll doch niemand glauben, dass man das Leben der europäischen Völker oder das Leben dieses alten und zugleich jungen Kontinents Europa in einem Vertrag auf alle Ewigkeit festlegen könne. Ich habe beispielsweise die Debatte, die wir darüber geführt haben, ob vor Einführung der gemeinsamen europäischen Währung das Parlament noch einmal zu Wort kommen solle oder nicht, nie verstanden. Können Sie sich einen Bundeskanzler und eine Bundesregierung vorstellen, die einen solch wichtigen Schritt tun könnte, ohne dass der Bundestag vorher darüber beraten würde?! Zumindest würde doch die Opposition eine Sondersitzung des Bundestages verlangen!

Der Teil des Vertrags, der der Politischen Union gewidmet ist, hat das gleiche Gewicht wie die Bestimmungen über die Wirtschafts- und Währungsunion. Jeder muss wissen: Eine Wirtschaftsunion in Europa ist nur lebensfähig, wenn sie sich auf eine Politische Union stützen kann. Es gab Äußerungen einer eindrucksvollen Dame aus Großbritannien, die meinte, eine Art gehobene Freihandelszone sei das Richtige für Europa. Sie täuscht sich, und das auch für ihr Land! Entweder tritt zur Wirtschafts- und Währungsunion die Politische Union hinzu - dann wird das von Dauer sein, weil in diesem Falle eine Balance hergestellt ist -; oder aber die Wirtschafts- und Währungsunion gilt nur auf Zeit, und geht dann wegen Interessengegensätzen auseinander. Das letztere ist nicht unser Weg.

1. Der Vertrag von Maastricht über die Europäische Union baut vor allem auf der stufenweisen Entwicklung einer Wirtschafts- und Währungsunion auf. Wir können unsere eigene wirtschaftliche und monetäre Stabilität und damit unseren Wohlstand auf Dauer nur sichern, wenn wir in Europa mit dem Ziel einer gemeinsamen Wirtschafts- und Währungspolitik immer enger zusammenarbeiten. Wir haben in diesen Wochen schwerste Turbulenzen auf den internationalen Devisenmärkten erlebt. Wer dies genau beobachtete, weiß, dass sie ein weiteres Argument für die Wirtschafts- und Währungsunion in Europa sind.

Ich bin mir bewusst, von welch zentraler Bedeutung die Frage nach der künftigen europäischen Währung gerade für unser Volk ist. In diesem Jahrhundert haben viele Menschen in Deutschland nach zwei Kriegen durch verheerende Inflationen Hab und Gut verloren. Millionen Menschen sind um die Früchte ihrer Arbeit gebracht worden. Ein wesentlicher Grund für das Aufkommen der Nationalsozialisten war gewiss auch die Verarmung breiter Massen des Volkes nach dem Ersten Weltkrieg durch den Zusammenbruch der Währung bei der Inflation. Wir haben das nie vergessen, und es ist über jene Generation hinaus in den Köpfen der Menschen geblieben.

Das hat tiefe Spuren hinterlassen, und ich verstehe sehr wohl, dass viele in Deutschland fragen: Wird die künftige europäische Wahrung so stabil sein wie die D-Mark? Ich nehme diese Frage sehr ernst, weil in der Zeit der Teilung, in der Zeit des zumindest scheinbaren und für viele auch so empfundenen tatsächlichen Verlustes an nationaler Identität die Deutsche Mark ein Stück deutsche Identität geworden ist. Es war ja nicht zuletzt auch die von der Deutschen Mark symbolisierte Wirtschaftskraft, die bei unseren Landsleuten in den neuen Bundesländern einen solch stürmischen Drang nach deutscher Einheit mit herbeigeführt hat. Deswegen muss klar sein, dass eine künftige europäische Währung eine klare Stabilitätsgrundlage haben muss. Dazu gehört die Unabhängigkeit der künftigen Europäischen Zentralbank, ihre uneingeschränkte Verpflichtung auf das Ziel der Geldwertstabilität und eine streng auf Stabilität ausgerichtete Haushaltspolitik in allen Mitgliedstaaten der Gemeinschaft.

Wer den Prozess der Annäherung der Länder Europas in den letzten acht Jahren beobachtet hat, der dann zu der entsprechenden Formulierung im Maastrichter Vertrag über die Zentralbank führte, der weiß: Hier haben sich alle anderen in Richtung der deutschen Gesetzgebung über die Bundesbank bewegt. Der Prozess des Aufeinanderzugehens hat dazu geführt, dass alle unsere Partner die strengen Richtlinien für die Gesetzgebung über die Deutsche Bundesbank übernommen haben. Nicht wenige mussten in den letzten Wochen erfahren, dass bei uns eben gilt, dass die Bundesregierung die Richtlinien der Bundesbank nicht bestimmt, sondern dass die Bundesbank allein der Geldwertstabilität verpflichtet ist. Die Regierung muss sich hier, ob sie will oder nicht - ich halte dies für richtig -, zurückhalten.

Wir haben auch festgelegt, dass jedes Land für seine Volkswirtschaft verantwortlich ist, also für die Inflationsrate, für Zinsen, für die Staatsverschuldung. Die vorgegebenen strengen Kriterien des Vertrages müssen erfüllt werden. Damit dies klar ist: Heute ist sogar die Bundesrepublik Deutschland noch nicht in der Lage, alle diese Kriterien zu erfüllen.

Wir brauchen also nicht auf andere zu zeigen, sondern wir müssen jetzt unsere Hausaufgaben machen. Wir werden sie machen, weil wir dieses Europa wollen. Es kann auf gar keinen Fall deutsche Politik sein, die verbindlich festgelegten Stabilitätskriterien aufzuweichen. Nur wer diese Kriterien erfüllt und damit den Beweis für eine solide Wirtschaftsund Finanzpolitik erbracht hat, kann in die Endstufe der Wirtschaftsund Währungsunion eintreten. Dies ist der entscheidende Satz. Dieser Satz kann nicht aufgeweicht und verändert werden. Wir Deutsche haben nicht nur den Wunsch und nicht nur die Hoffnung, sondern, ich denke, auch die Gewissheit, dass die künftige Europäische Zentralbank ihren Sitz in Deutschland hat, und Frankfurt am Main ist dafür der geeignete Ort.

2. Wir wollen eine gemeinsame Politik in einem so wichtigen Bereich wie dem der inneren Sicherheit. Immer mehr Menschen machen sich zunehmend Sorgen wegen der Ausbreitung des organisierten Verbrechens. Das gilt insbesondere für die internationale Drogenmafia. Ich habe mich in Maastricht erfolgreich dafür eingesetzt, dass eine europäische Polizeiorganisation geschaffen wird. Mit Europol wollen wir gemeinsam und entschlossen den Kampf gegen die internationale Bandenkriminalität führen.

Aber auch die uns vor allem bedrückende Frage der dramatisch zunehmenden Zahl von Asylbewerbern, die aus wirtschaftlichen Gründen nach Westeuropa und vor allem zu uns kommen, ist letztlich nur mit einer gemeinsamen europäischen Antwort zu lösen. Der Vertrag von Maastricht öffnet hier jeden nur denkbaren Weg für ein gemeinsames Vorgehen, wenn wir das nur wollen.

3. Wir haben in Maastricht die dringend notwendige Verbesserung der Zusammenarbeit beim Umweltschutz beschlossen. Bei unseren Partnern wie bei uns ist in den vergangenen Jahren das Bewusstsein für die immer größere Bedeutung dieser Zukunftsaufgabe gewachsen. Es ist ja leider in Teilen der verfassten öffentlichen Meinung üblich geworden, dass man an Ereignisse von gestern oder vorgestern nicht mehr erinnern darf, vor allem dann, wenn sich erwiesen hat, dass wir mit unserer Prognoserichtig lagen. Ich erinnere mich noch sehr lebhaft an die ungläubige Reaktion meiner Kollegen in Europa, aber auch der deutschen Medien, als ich auf dem Stuttgarter EG-Gipfel 1983 zum ersten Mal das Thema Waldsterben auf die Tagesordnung gesetzt habe. Damals bin ich in den Verdacht geraten, ich würde aus der Politik der Mitte abdriften. Heute wissen wir: Es war doch eine dringende Notwendigkeit, das zu tun.

Ich nenne ein zweites Thema, das uns in Nordrhein-Westfalen im Vorfeld der Landtagswahl 1985 viel Verdruss bereitet hat. Wir wollten den Katalysator für Autos einführen. Damals haben uns namhafte Persönlichkeiten aus der Autobranche Massenarbeitslosigkeit in Deutschland vorausgesagt. Sie ist nicht eingetreten. Die Firma, die am stärksten versucht hat, auf uns einzuwirken, hat mit dem Katalysator-Auto die besten Geschäfte gemacht. Heute - man wird es nach sieben Jahren ja noch sagen dürfen - ist die entsprechende Ausrüstung der Neufahrzeuge längst selbstverständlich geworden. Das war auch nicht falsch, wie jeder weiß.

4. In Maastricht haben wir trotz der Zurückhaltung vieler auch Fortschritte bei der Verstärkung der demokratischen Kontrolle von Kommission und Rat durch das Europäische Parlament erreicht. Ich hatte mir mehr gewünscht, aber wenn die Sozialdemokraten im Deutschen Bundestag mich deswegen kritisiert haben, dann hatte ich mir gewünscht, sie hätten diese Kritik vorher in der Sozialistischen Internationale besprochen. Denn die größten Probleme bei der Erweiterung der Rechte des Europäischen Parlaments hatten wir mit sozialistisch geführten Regierungen in Europa und nicht mit den Regierungen, die von der Europäischen Volkspartei gestellt werden.

Das heißt: Wir müssen noch sehr viel Überzeugungsarbeit leisten, um das Demokratiedefizit in Europa, das es ohne Zweifel gibt, abzubauen. Deshalb gilt es für mich, möglichst zügig die Rechte und Kompetenzen des Europäischen Parlaments weiter auszubauen. Wir müssen zugleich wirklich brauchbare Wege finden, um die nationalen Parlamente stärker in die Europapolitik einzubeziehen, und zwar nicht aus Gründen des Prestiges, sondern aus Gründen der praktischen Arbeit. Wir müssen zu einem praktikablen Weg kommen, um das Europäische Parlament und die nationalen Parlamente zu einer vernünftigen Zusammenarbeit zu bringen. Dabei sage ich Ihnen ganz klar, dass ich die Idee ablehne, ein gigantisches Über-Parlament mit ein paar tausend Leuten zu schaffen, die sich ein- oder zweimal im Jahr versammeln. Das ergäbe einen gewaltigen parlamentarischen Tourismus, aber herauskommen wird dabei überhaupt nichts. Deswegen, meine ich, wäre das nicht der richtige Weg.

Es ist für mich auch selbstverständlich - das will ich noch einmal sagen -, dass die 18 Abgeordneten des Europa-Parlaments aus den neuen Bundesländern, die jetzt noch nicht das volle Stimmrecht haben, nach der Neuwahl des Europa-Parlaments, das heißt ab Sommer 1994, volles Stimmrecht im Europäischen Parlament erhalten. Wenn ich dies sage, mische ich mich damit nicht in den Streit ein, welche Quotierung für andere EG-Mitgliedstaaten angemessen ist. Ich spreche von dem, was wir für uns selbst aus Gründen der Große Deutschlands in der Gemeinschaft für die Bundesrepublik Deutschland erwarten und verlangen können. Wie andere sich dann jeweils einstufen, ist deren Sache. Der Kampf, den ich zu führen habe, geht darum, dass die 18 Abgeordneten volles Stimmrecht im neuen Parlament haben, dass damit die ganze deutsche Gruppe volles Stimmrecht im neu zu wählenden Europäischen Parlament hat.

Ich will im Anschluss an den Bericht unseres Freundes Professor Günter Rinsche gerne einmal ein Wort des Dankes an die Kolleginnen und Kollegen im Europäischen Parlament sagen. Sie leisten dort ganz hervorragende Arbeit. Ich will der an manchen Orten - auch in der Partei, auch in den einzelnen Parlamenten - geäußerten Stimmung klar widersprechen. Es wird abfällig gesagt: „Die" im Europäischen Parlament. Dass jeder im Kreistag und im Stadtrat, im Landtag und im Bundestag glaubt, er gehöre dem besten Parlament an, ist eine Mindestvoraussetzung der Selbsteinschätzung jedes Parlamentariers. Darüber kann es ja keine Zweifel geben.

Aber es ist einfach absurd zu erwarten, dass ein Parlament, das sich jetzt aus Abgeordneten aus 12 Ländern zusammensetzt, in dem Abgeordnete aus Edinburgh und aus Palermo vertreten sind, in dem Danen genauso wie Griechen vertreten sind, über Nacht genauso funktioniert wie beispielsweise der Deutsche Bundestag nach über vierzig Jahren. Um die wirkliche Dimension der Aufgabe zu begreifen, muss man die deutsche Geschichte betrachten und sich etwa das Parlament der Paulskirche von 1848 ansehen. Sie können auch den Bismarckschen Reichstag nehmen. Wenn man sieht, was es da für Unterschiede zwischen den Abgeordneten aus Hamburg, aus München, aus Sachsen und anderen Ländern gab, dann wird man sich darüber klar, was es heißt, wenn Leute aus Süditalien und Dänemark im gleichen Parlament sitzen und miteinander arbeiten und etwas erreichen müssen.

Deswegen kann ich als Parteivorsitzender nur sagen: Es ist ganz wichtig, dass wir im Europäischen Parlament neben der Lösung von Sachaufgaben immer mehr erleben, dass sich Europa zusammenschließt und sich die Menschen gegenseitig besser verstehen. Abgeordnetenkollegen aus den verschiedensten Ländern, die der gleichen Europäischen Volkspartei angehören, gewinnen viel mehr Verständnis füreinander, wenn sie jahraus, jahrein miteinander zusammenarbeiten. Das ist nicht anders als bei uns im nationalen Parlament mit Blick auf die unterschiedlichen Landschaften in Deutschland. Ich finde auch - das sage ich insbesondere an die Adresse der öffentlich-rechtlichen Fernseh- und Rundfunkanstalten, die durch die Staatsverträge den entsprechenden Auftrag haben -, dass die Medien in Deutschland zuwenig dafür tun, um die Arbeit des Europäischen Parlaments transparent zu machen. 5. Aus deutscher Sicht ist die Entwicklung einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik eine existentielle Frage. Der Krieg im früheren Jugoslawien und die Krisen in anderen Teilen Ost- und Südosteuropas machen deutlich, dass uns nur eine gemeinsame Politik vor Gefahren bewahren kann. Dabei ist für die Sicherheit und die Verteidigung Europas die Atlantische Allianz, das heißt der enge Schulterschluss mit unseren amerikanischen und kanadischen Freunden, unverzichtbar. Der Ausbau der WEU, den wir in Maastricht beschlossen haben, soll die Atlantische Allianz nicht schwächen, sondern ergänzen und stärken. Ich will es knapp formuliert so sagen: Es geht hier nicht um ein „Entweder -Oder", sondern um ein „Sowohl-als-auch". Die Partnerschaft zwischen Europa und den Vereinigten Staaten von Amerika geht weit über die Fragen der gemeinsamen Sicherheit hinaus.

Wir wollen die transatlantische Partnerschaft in Zukunft auf allen Gebieten weiter ausbauen, nicht nur auf dem Gebiet der Sicherheitspolitik. Die deutsch-amerikanische und die europäisch-amerikanische Freundschaft können auf Dauer nur gedeihen, wenn wir die Zusammenarbeit auf allen Gebieten vertiefen: Politik und Wirtschaft, Wissenschaft und Kultur.

Der Vertrag von Maastricht hat nicht nur für die Menschen innerhalb der Europäischen Gemeinschaft seine Bedeutung. Er ist ein Signal auch für Länder außerhalb der Gemeinschaft. Auf der Grundlage des Maastrichter Vertrags wollen wir möglichst rasch im neuen Jahr - wenn es nach uns geht, ab Januar - die Beitritts Verhandlungen mit Österreich, mit Schweden, mit Finnland, der Schweiz und, wenn Norwegen sich dafür entscheidet, auch mit Norwegen zügig aufnehmen. Es ist unser Wunsch, dass, wenn die einzelnen hier genannten Länder das wollen und die entsprechenden innenpolitischen Voraussetzungen schaffen, der Beitritt 1995 erfolgen kann. Das ist ein weiterer Schritt in eine gemeinsame Zukunft. Die Tatsache, dass es Beitrittskandidaten gibt, spricht im übrigen für die Europäische Gemeinschaft. Diese Länder lehnen sie nicht ab, sondern wollen zu ihr gehören.

Ich spreche auch von Polen und von Ungarn, von den Tschechen und den Slowaken und von den Baltischen Staaten. Wenn auch nicht in diesem Jahrzehnt, so doch wenigstens zu einem Zeitpunkt zu Beginn des nächsten Jahrhunderts halte ich eine Erweiterung um diese Länder für möglich. Es sind Länder, die nicht zuletzt ihre Hoffnung auf Wohlstand und auf demokratische Entwicklung auf die Europäische Union setzen. Wir brauchen darüber hinaus besonders vertrauensvolle und gute Beziehungen - vielleicht in einem Sonderstatus - mit den Nachfolgestaaten der Sowjetunion, den GUS-Staaten. Europa darf keine Festung sein. Es darf sich nicht abschließen. Es muss offen sein. Aber wir müssen auch klarmachen, wo die Grenzen für eine Aufnahme in die eigentliche Europäische Union gezogen sind.

Die Diskussion während der vergangenen Monate, auch bei uns, hat gezeigt, wie viele Missverständnisse, Unsicherheiten, Vorbehalte und Ängste im Blick auf den Vertrag von Maastricht bestehen. Wir müssen diese Ängste abbauen. Es ist wahr, dass viele in Europa und auch in Deutschland befürchten, dass dieses Europa eine Art Leviathan ist, der alles verschlingt, ein zentralistisches Europa, das dem Bürger die Luft abschneidet. Viele haben zusätzlich die Angst, dass sie mit einer europäischen Staatsbürgerschaft ihre Identität als Franzosen, als Italiener oder als Deutsche verlieren. Unsere Antwort ist ganz klar: Wir bleiben in unserer Heimatregion fest verwurzelt. Dort, wo wir Heimat empfinden, dort wo unsere Muttersprache gesprochen wird, bleiben wir verwurzelt. Wir bleiben Deutsche, wir bleiben Italiener oder Franzosen und sind zugleich Europäer.

Wir müssen den Menschen deutlich machen, dass Europa mehr ist als irgendeine bürokratische Einrichtung, dass es ein bürgernahes Europa ist und dass Europa vor allem ein Europa der gemeinsamen Kultur ist. Ich beklage, dass die Europadebatte überwiegend ökonomisch geführt wird. Unser Freund Heinz Eggert hat gestern in seiner Vorstellungsrede im Blick auf die deutsche Einheit auf diesen Sachverhalt verwiesen. Wir müssen aufpassen - auch wir, die Christlich-Demokratische Union -, dass wir bei aller verständlichen notwendigen Sorge um die ökonomischen Tatsachen die kulturellen Bindungen unseres Volkes und unseres Europas dabei nicht völlig vergessen.

Wir wollen keinen europäischen Überstaat, der alles einebnet und alles verwischt. Wir wollen ein Europa nach dem Grundsatz: Einheit in Vielfalt. Deswegen stärkt der Maastrichter Vertrag die Rolle der Regionen - bei uns die Rolle der Bundesländer. Es ist, wenn Sie so wollen, eine zutiefst föderale Ordnungsvorstellung, die dem zugrunde liegt. Aber auch hier muss ich einfach sagen: Die Traditionen sind unterschiedlich.

Es ist für einen Franzosen, dessen Land seit vierhundert Jahren gewohnt ist, dass Paris das Maß aller Dinge ist und dass Frankreich ein Zentralstaat ist, sehr schwer, Dezentralisation und föderale Strukturen zu akzeptieren. Wir haben leider auch die Tatsache zu verzeichnen, dass der Begriff „Föderalismus" in England ganz anders verstanden wird als bei uns. Wenn Margaret Thatcher voller Abscheu über Föderalismus spricht, dann plädiert sie gegen Zentralismus. Für uns ist Föderalismus gleichbedeutend mit Dezentralisierung.

Deswegen werden wir einen neuen Art. 23 in das Grundgesetz einführen, in dem wir die Rechte der Länder entsprechend festschreiben. Aber es ist die Zeit, auch folgendes einmal zu sagen: Ich beobachte jetzt einige in Deutschland, in Nord und Süd, ein wenig auch im Osten, die meinen, es sei die große Stunde, jene Frage zu stellen, ob die Bundesrepublik Deutschland ein Bundesstaat oder ein Staatenbund sei. Die Bundesrepublik Deutschland ist ein Bundesstaat und kein Staatenbund -um das klar und deutlich zu sagen. Da ich ein überzeugter Föderalist bin, bin ich dafür, dass wir dort, wo aufgrund der Verfassung die Länder Aufgaben haben, etwa beim Bildungs- und Ausbildungssystem, gemeinsame Grundlagen einführen. Denn wir können es doch nicht hinnehmen, wenn wir zürn Beispiel auf dem Gebiet des Bildungswesens zu einer Zersplitterung kommen. Auch das muss ich in diesem Zusammenhang einmal klar aussprechen.

Das, was ich jetzt sage, hören manche eingefleischten Föderalisten nicht gerne: Wenn man von Föderalismus spricht, geht es natürlich nicht nur um die Beziehungen zwischen Bonn und den Landeshauptstädten. Gewiss denkt man dabei zunächst einmal an die Beziehungen - um Beispiele zu nennen - zwischen Bonn und Düsseldorf oder zwischen Bonn und München - das ist eine wunderschöne Stadt. Aber es muss natürlich ein Dreiklang sein: Bonn, Düsseldorf und Köln etwa oder Bonn, München und Nürnberg. Das heißt: Die deutschen und insgesamt die europäischen Gemeinden müssen voll einbezogen werden. Unser Verständnis von Föderalismus muss alle Ebenen umfassen.

Ich bin zutiefst überzeugt, dass die Chance für einen dauerhaften Erfolg Europas auch darin liegt, dass die Gemeinden und die Regionen an den Grenzen zueinanderfinden. Wir haben ja gerade einen überzeugenden Beweis dafür erlebt. Die Mehrheit für den Maastrichter Vertrag beim Referendum in Frankreich wäre nicht zustande gekommen, wenn nicht gerade auch die Grenzregionen - zum Beispiel Lothringen und Elsass - so klar mit Ja gestimmt hätten. Das muss doch eigentlich jeden Skeptiker überzeugen. Ausgerechnet die Landschaften, die mehr als alle anderen unter den deutsch-französischen Bruderkriegen der letzten zweihundert Jahre zu leiden hatten, haben klar und deutlich gesagt: Wir wollen nicht mehr zurück, wir wollen nach vorne, wir wollen gemeinsam dieses Europa bauen.

Noch eine zweite Gruppe - für mich die eindrucksvollste Gruppe -hat in Frankreich mit Ja gestimmt. Das war die Generation der Kriegsteilnehmer, die den Ersten oder den Zweiten Weltkrieg erlebt haben, die in der Resistance gegen die Deutschen standen, die schreckliche Kriege erleben und erleiden mussten. Wenn diese Generation ja zum Maastrichter Vertrag sagt, ist das eine Botschaft, die wir aufnehmen müssen. Unser Ziel ist es, das, was im Westen möglich war, auch in den Beziehungen zum Osten zu schaffen. Ich spreche von den Beziehungen zu Polen. Ich denke an die Möglichkeiten der regionalen Zusammenarbeit über die Grenzen hinweg mit Polen und der tschechischen Republik. Dann könnten sich in wenigen Jahren Beziehungen entwickeln, wie wir sie heute am Bodensee zwischen Deutschland, Österreich, der Schweiz und auch Frankreich haben. Das ist eigentlich das Ziel vernünftiger Politik.

Ich möchte noch einige Worte zu einem Begriff sagen, der für Europa eine besonders große Bedeutung hat. Ich spreche von der Subsidiarität. Ich stelle mit einem gewissen Amüsement fest, dass einige diesen Begriff ablehnen, weil er aus der Katholischen Soziallehre kommt. Manche haben eben nichts dazugelernt in Deutschland. Was bedeutet dieser Begriff der Subsidiarität? Es ist ein kluges Prinzip. Leider wissen noch immer nur sehr wenige, was er bedeutet. Das Wort besagt, dass diejenige Ebene Entscheidungen trifft, die sie am besten treffen kann. Die Entscheidungen sollen bürgernah getroffen werden. Das heißt, dass Rathäuser die Entscheidungen treffen, die Rathäuser am besten treffen können, Landesregierungen die Entscheidungen treffen, die Landesregierungen am besten treffen können, und dass Europa regelt, was Europa in diesem Zusammenhang am besten regeln kann.

Hier möchte ich ein offenes Wort sagen: Man redet zu Recht von einer Regelungswut, die in Europa - in Brüssel - herrscht. Es werde dort zuviel und zu intensiv geregelt. Das ist wahr. Wir haben jetzt in Birmingham vereinbart - und das wird in ein paar Wochen in Edinburgh in Beschlüsse gefasst werden - zu überprüfen, ob nicht manche Regelungen, die bisher auf der europäischen Ebene getroffen wurden, auf die nationalen oder dezentralen Ebenen übertragen werden können, wenn dies sinnvoll ist. Man muss fähig sein, aus Fehlern zu lernen. Aber ich wende mich dagegen, jene, die sich nicht wehren können, da sie weit weg sind - in Brüssel -, dafür pauschal anzuschuldigen. Die Wahrheit ist, dass bei fast allen Regelungen, die in Brüssel getroffen wurden und die wir als übertrieben empfinden, nationale und auch Gruppeninteressen Pate gestanden haben. Die Dänen regen sich beispielsweise darüber auf, dass die Gemeinschaft sogar die Größe der Äpfel festlegt. Andere Partner in der Gemeinschaft haben an dieser Verordnung Interesse, weil ihre Äpfel im Durchschnitt etwas größer sind als die in anderen Ländern.

Ich möchte noch eine zweite unsinnige Regelung der Europäischen Gemeinschaft anführen: Es macht keinen Sinn, Festlegungen über bestimmte Anforderungen an die Bezeichnung „Seebäder" zu treffen. Aber es finden sich Interessengruppen, die sagen: Wenn wir das so hinkriegen, können wir in unseren Reisebüros damit werben, bestimmte Bäder im Süden Europas, die ansonsten ein wunderbares Klima haben, entsprechen nicht den Anforderungen der europäischen Richtlinie hinsichtlich der Badegewässer. So werden dann Geschäfte gemacht. Dafür darf man dann aber nicht die europäische Idee verantwortlich machen. Wir sollten fair und ehrlich sein und das insgesamt miteinander angehen. Ich unterstreiche noch einmal: Wir müssen fähig sein, aus den Fehlern zu lernen. Wir müssen den Begriff Subsidiarität mit bürgernah übersetzen und dies in der Politik praktisch umsetzen.

Als ich vor zehn Jahren Bundeskanzler wurde, wurde in der Europapolitik immer nur von „Eurosklerose" gesprochen, ein Wort, das heute überhaupt nicht mehr in unserem Sprachgebrauch zu finden ist. Dieses Wort - und dieses Phänomen - ist verschwunden. Wir befinden uns auf Erfolgskurs. Es ist zwar ein schwieriger Kurs, und man muss immer wieder nachhelfen und dafür Sorge tragen, dass sich das Schiff vorwärts bewegt. Aber es bewegt sich im Ozean der Geschichte, und zwar mit Wind in den Segeln. Wir haben alle Chancen, das Ziel zu erreichen, das wir uns gesteckt haben.

Für mich, der ich mit 18Jahren den jetzigen Fraktionsvorsitzenden der Europäischen Volkspartei im Europäischen Parlament, Leo Tindemans, der damals noch Student war, kennenlernte - wir trafen uns an der deutsch-französischen Grenze bei Weissenburg, sangen europäische Lieder, verbrüderten uns und glaubten damals, mit dieser Verbrüderung sei Europa fast schon geschaffen -, ist es die Erfüllung eines Traums - ich sage es, wie ich es empfinde -, dass wir jetzt nach so vielen Jahren dieses Ziel wirklich erreichen können. Als ich vor ein paar Wochen anlässlich der Beerdigung des Primas der katholischen Kirche in der Tschechoslowakei, Kardinal Tomásek, in Prag war, stand ich mit einigen Freunden am späten Nachmittag auf der Karlsbrücke. Das Bild, das ich dort gesehen habe, sagt sehr viel über das heutige Europa aus. Da waren Hunderte, ja Tausende junger Leute unterwegs, junge Ukrainer, junge Polen, natürlich junge Slowaken und junge Tschechen, aber auch viele junge Deutsche, nicht zuletzt aus den neuen Bundesländern, junge Franzosen und Italiener. Sie schauten über diesen europäischen Strom, und gewiss hatte mancher die Melodien Smetanas im Kopf. Sie spürten, wie mitten in Europa dieser Kontinent wieder zusammenwächst.

Wir müssen aufpassen - ich sprach ja von der Notwendigkeit einer bürgernahen Politik -, dass die verantwortlichen Politiker - wir alle gehören dazu, ich nicht zuletzt - nicht hinter diesen jungen Leuten, ihren Hoffnungen, Wünschen und Sehnsüchten zurückbleiben. Sie sind bereits viel weiter als die Dossiers in den Ministerien unserer Länder. Sie erfahren Freundschaft ganz selbstverständlich. Sie erfahren einen offenen Kontinent mit offenen Grenzen. Sie erfahren nicht zuletzt die großartigen gemeinsamen kulturellen Traditionen - ich spreche es bewusst so aus, auch weil es ein so schönes Wort ist - des Abendlandes. Diese Gemeinsamkeit ist doch die eigentliche Quelle, aus der Europa seine Kraft bezieht. Wir müssen diese Tatsache wieder stärker ins Bewusstsein zurückholen und nicht nur über Steuersätze, Zölle und ähnliches reden.

Ich sage bewusst noch einmal: So toll ist die Leistung gar nicht, die wir zur Zeit erbringen: Wir sind allenfalls dabei - aber das wäre schon sehr viel - an das anzuknüpfen, was sehr viel früher in Europa schon einmal selbstverständlich war. Zum Beispiel begann man damals sein Studium in Oxford, ging dann nach Bologna, nach Paris oder nach Heidelberg: Europa wurde als kulturelle Einheit gesehen. So ist zum Beispiel die Universität Leipzig ein Ableger der Prager Universität. Diese wiederum -man soll es nie vergessen - ist die älteste deutsche Universität.

In den Handwerksberufen - ich will nicht nur von den Akademikern sprechen - war es selbstverständlich, auf Wanderschaft zu gehen. Gute Gesellen legten Wert nicht nur auf eine gute Ausbildung, sondern auch auf die Kenntnis ferner Länder. Als Adolph Kolping 1865 starb, gab es bereits Gesellenhäuser in der Schweiz, in Ungarn, in Polen, in Belgien, in vielen anderen Ländern Europas und sogar in den USA. Wir finden in Europa jetzt nach den schrecklichen Erfahrungen von Krieg, Not und Elend endlich wieder zu den Ursprüngen eines geeinten, im Bewusstsein der Menschen zusammengehörigen Europa zurück - und dies weist zugleich den Weg in die Zukunft. Es ist unsere Zukunft, eine Zukunft in Frieden und Freiheit für Europa und unser deutsches Vaterland. Wir sind gefordert. Wir wollen handeln.

Quelle: Broschüre, hrsg. von der Bundesgeschäftsstelle der CDU, Bonn o. J.