27. September 1992

Rückschau auf zehn Jahre Deutschland- und Weltpolitik

 

Interview mit Siegmar Schelling und Heinz Vielain, veröffentlicht in „Welt am Sonntag"

WELT am SONNTAG: Sie sind am 1. Oktober vor zehn Jahren an einem Freitag Bundeskanzler geworden. Sie wurden um 15.05 Uhr gewählt, nahmen die Wahl um 15.12 Uhr an, erhielten die Ernennungsurkunde von Bundespräsident Karl Carstens um 16.45 Uhr und wurden um 17.35 Uhr vereidigt ...

Kohl: Die Uhrzeiten stimmen? Ich habe das nicht mehr so genau in Erinnerung.

WELT am SONNTAG: Was hat sich erfüllt von Ihren damaligen Erwartungen, was nicht? Was waren die Sternstunden, was die schwersten Stunden?

Kohl: Meine Erwartungen sind von der Wirklichkeit weit übertroffen worden. Im Oktober 1982 war die Lage der alten Bundesrepublik sehr kritisch. Wir hatten eine miserable Wirtschaftssituation. In Europa sprach man von Eurosklerose. Wir standen mitten in schärfsten Auseinandersetzungen um den Nato-Doppelbeschluss. Helmut Schmidt hatte den Rückhalt in seiner eigenen Partei verloren. Das ist ja der eigentliche Grund für sein Scheitern gewesen. Alles andere ist Propaganda.

WELT am SONNTAG: Und es wurde um Neuwahlen im März 1983 gestritten ...

Kohl: Ich wollte diese Neuwahlen. Viele aber sagten: Das wird nie funktionieren. Ich bleibe dem damaligen Bundespräsidenten Karl Carstens immer dankbar dafür, dass er in der konkreten Situation seine Entscheidung so getroffen hat. Ich sah voraus, dass es sehr, sehr schwierig würde, die Nachrüstungsdebatte ohne ein klares Mandat der Wähler durchzustehen. Man hatte mir sonst vorgeworfen: Du kommst daher mit einem geliehenen Mandat ... Und wir hätten die Entscheidung über die Stationierung im Oktober 1983 vermutlich nicht durchgestanden, wenn wir nicht einen klaren Wählerauftrag gehabt hätten.

WELT am SONNTAG: War diese Entscheidung der Ausgangspunkt zur Einheit?

Kohl: Mir ist heute klar, dass der Ausgangspunkt für alles, was sich ab 1983 außen- und sicherheitspolitisch bis hin zur Deutschen Einheit ereignet hat, in dieser Grundentscheidung der Atlantischen Allianz gelegen hat. Wir haben der Sowjetunion, die nicht erst seit der Breschnew-Zeit eine Politik der Überrüstung und der Drohgebärde betrieb, unmissverständlich bedeutet, dass der Westen sich nicht in die Knie zwingen lässt.

Ich habe mein politisches Schicksal mit dem Vollzug des NATO-Doppelbeschlusses verbunden. Wären wir damals abgesprungen, wäre unser späteres Vertrauenskapital im Blick auf die Deutsche Einheit geringer gewesen, nicht zuletzt bei den Amerikanern. In Washington standen doch die Wetten 8:2 oder 9:1, dass die Deutschen ausbrechen, nicht stationieren und womöglich nach Osten driften würden.

Von Michail Gorbatschow selbst weiß ich, dass er - nachdem die Breschnew-Nachfolger Andropow und Tschernenko auf der Stelle getreten waren - nach der Stationierung der Pershing-Raketen sehr bald erkannte, dass es zu einer Änderung der sowjetischen Außenpolitik kommen müsse. Das führte dann zu den Abrüstungsgesprächen mit dem Westen und - aus inneren ökonomischen Gründen - zur Perestroika. Und - wenn Sie so wollen - letztlich auch zur Chance, über die Deutsche Einheit ernsthaft zu reden.

WELT am SONNTAG: Hatten Sie nie Zweifel?

Kohl: Nicht an der Richtigkeit der politischen Linie, aber an unserer Kraft, sie durchzusetzen. Am Tag der gewaltigen Friedensdemonstration im Bonner Hofgarten bin ich drüben auf dem Startplatz am Bungalow in den Hubschrauber gestiegen, ganz allein. Ich habe zu dem Piloten gesagt: „Fliegen Sie mal eine Schleife." Da waren im Hofgarten auf der anderen Seite des Rheins zwischen 300 000 und 400 000 Demonstranten. Wenn Sie dann so allein in der Maschine sitzen und das sehen, stellen Sie sich schon die Frage: Haben die alle Unrecht? Oder hast du Unrecht? Ich war zwar von meiner Sache überzeugt. Aber der unterstützende Zuspruch, den ich fand, hielt sich doch sehr in Grenzen, und ich gebe zu: Ich habe mich damals oft sehr allein gefühlt.

WELT am SONNTAG: Stand nicht eine schweigende Mehrheit hinter Ihnen?

Kohl: Vielleicht. Denn natürlich gab es in der Masse der Demonstranten immer einen harten Kern von Leuten, welche die Kundgebungen steuerten. Heute wissen wir sehr viel besser, wer damals alles in Wort und Schrift von der Stasi, KGB und von anderen ferngesteuert war. Aber die meine ich jetzt nicht.

Ich erinnere mich vielmehr an einen Empfang im Palais Schaumburg. Da war ein Querschnitt der deutschen Gesellschaft versammelt. Und da sind sehr vernünftige Leute förmlich über mich hergefallen. Ich sehe heute noch einen berühmten deutschen Mediziner, der mir sagte, er, seine Frau und seine Kinder könnten nicht mehr schlafen, weil diese Politik zum Dritten Weltkrieg führe. Diese Haltung begegnete mir auch oft, wenn ich in jenen Wochen zu Hause in Ludwigshafen spazieren ging.

Und deshalb auch werde ich es François Mitterrand nie vergessen, dass er sich damals bereiterklärte, mich zu unterstützen. Wir sind damals gemeinsam in den Bundestag gegangen, und er redete. Es war für mich und für uns eine gewaltige Hilfe, dass ein Franzose, einer der renommiertesten Sozialisten in der Welt, mir beistand, während im Plenum der Vorsitzende der Sozialistischen Internationale, der frühere Bundeskanzler Willy Brandt, saß und mit versteinerter Miene zuhörte. Das muss man sich einmal vorstellen.

WELT am SONNTAG: Wurde damals der Grundstein für die spätere enge Freundschaft mit Mitterrand gelegt?

Kohl: Sicherlich. Als ich Kanzler wurde, kannten wir uns überhaupt nicht. Die allererste Begegnung verlief so: Ich wurde an einem Freitag Bundeskanzler. Am Samstag zog ich aus dem Bundeshaus mit meinen engsten Vertrauten um, wir packten Kisten aus, räumten Akten ein bis spät in die Nacht. Wir verpflegten uns mit Pizzen, die aus einer Pizzeria in der Nähe herbeigeschafft wurden. Am Sonntag war das Gröbste getan. Montag war Minister-Ernennung. Und um 17 Uhr an diesem Tag bin ich dann die Treppe des Elysée hochgegangen und habe meinen Besuch bei François Mitterrand gemacht.

Dann kam der EG-Gipfel in Kopenhagen, es herrschte damals eine Art Eiszeit in der EG-Politik. Da haben wir angefangen, gut und konstruktiv miteinander zu arbeiten. Und bei den schweren Währungsturbulenzen unmittelbar vor Weihnachten 1982 standen wir an Frankreichs Seite. Das war sehr wichtig für unsere weitere Beziehung.

WELT am SONNTAG: Und dann kam Verdun ...

Kohl: Die Begegnung von Verdun hat in der Tat ihren Ursprung in unseren dann doch schon sehr persönlich gewordenen Beziehungen. Als wir über unsere Familien sprachen, erfuhr ich, dass François Mitterrand Anfang Juni 1940 als Soldat in der Nähe von Verdun in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten war. Und mein Vater hatte als Soldat im Ersten Weltkrieg fast ein ganzes Jahr vor Verdun gelegen.

1984, vor dem 40. Jahrestag der alliierten Invasion in der Normandie, trafen wir zu einem offiziellen deutsch-französischen Gipfel im Rambouillet zusammen. An diesem Tag waren die Zeitungen in Frankreich voller Spekulationen, ob „François" wohl den „Helmut" so wurde damals schon formuliert - zu den Feierlichkeiten einladen würde. Ich habe dann öffentlich gleich gesagt, dass ich an keiner Feier zum Jahrestag der Invasion teilnehmen würde. Mitterrand war ziemlich bedrückt wegen der Pressespekulationen. Und dann haben wir uns ganz allein - nur mit dem Dolmetscher - zusammengesetzt, und Mitterrand schlug vor, wir könnten doch an einem anderen Tag gemeinsam auf einen Soldatenfriedhof in der Normandie gehen. Nun hatte ich ja oft mit ihm über Verdun gesprochen, und deshalb sagte ich ganz spontan: „Gehen wir doch nach Verdun." Da schaute er mich an und sagte: „Warum nicht?" Wir sind dann vor die Presse getreten, und er hat dem staunenden Publikum unseren Beschluss verkündet. Das ist die Geschichte, wie dieses Treffen zustande kam.

WELT am SONNTAG: Zur Deutschlandpolitik: Wäre ein Kanzler Helmut Kohl denkbar gewesen ohne gewisse deutschlandpolitische Abstriche in der CDU?

Kohl: Ich habe die Geraer Forderungen Honeckers - Anerkennung einer DDR-Staatsbürgerschaft, Aufwertung der Ständigen Vertretungen in Bonn und Ostberlin zu Botschaften, Regelung der Elbgrenze und Schließung der Erfassungsstelle in Salzgitter - immer strikt abgelehnt. Kurz nachdem ich Kanzler geworden war, habe ich mit Franz Josef Strauß einen unserer regelmäßigen Spaziergänge gemacht, am Tegernsee. Ich weiß noch sehr gut, wie wir damals am Waldrand saßen und überlegten, wie wir mit Blick auf die Gesamtlage deutschlandpolitisch vorankommen könnten. Die Spielräume waren ja damals sehr gering. Ich war neben Ronald Reagan in der Propaganda des Ostens der Hauptübeltäter.

Und dann sagte Strauß, er habe Hinweise, dass die DDR dringend Kredite brauche - ungeachtet ihrer Propaganda, der wir alle zu sehr anheimgefallen sind und in der es zum Beispiel hieß, die DDR sei die 7. oder 8. Industriemacht der Welt. Danach wurde der „Milliardenkredit'', ein privater Bankkredit, „eingefädelt", wie Strauß sagte. Unsere These - in diesem Punkt gab es keinen Dissens - war, dass wir dem Auseinanderleben der Menschen in beiden Teilen Deutschlands irgendwie entgegenwirken mussten. Heute weiß ich noch viel besser als damals, wie wichtig das war. Es zeigte sich, dass die DDR zu Gesprächen über Gegenleistungen bereit war, um die innerdeutsche Grenze durchlässiger zu machen.

WELT am SONNTAG: Dann sprachen Sie mit Honecker ...

Kohl: Ja. Am Rande der Beerdigung von Andropow 1984, in einer sehr ungewöhnlichen Begegnung, traf ich Honecker zum ersten Mal in meinem Leben. Eines muss ich übrigens sagen: Honecker hat alles, was wir abgesprochen haben, immer auf den Punkt erfüllt. Ich habe da insoweit keinen Grund, im nachhinein zu sagen, er hätte sich an Absprachen nicht gehalten.

1987 kam dann, weil wir hier ja auch über die schwersten Stunden in diesen zehn Jahren sprechen wollen, eine der für mich unangenehmsten Entscheidungen. Das war die Entscheidung, Honecker in Bonn zu empfangen - mit der Konsequenz, dass in Bonn die DDR-Fahne gehisst, die DDR-Hymne gespielt wird. Wer mich ein bisschen kennt - man sieht es noch an den Fernsehbildern von damals - der konnte deutlich sehen, wie ich bei der Ankunft Honeckers im Kanzleramt versteinert dastand. Aber wir hatten durchgesetzt, dass die Tischreden im Fernsehen live übertragen würden. Und da sprach ich unmissverständlich über Mauer, Stacheldraht und Schießbefehl. Er musste sich anhören, was ich dazu sagte. Und die Welt sah zu.

Ich glaube, Honecker hat damals total unterschätzt, was für eine Wirkung unsere Bundesrepublik auf die Menschen ausüben würde, die danach in zunehmendem Maße aus der DDR zu Besuch in den Westen kommen konnten. Bei mir war es eine Hoffnung - ich wusste nicht, ob es funktionierte. Erst kamen Zehntausende, dann Hunderttausende, dann Millionen, darunter viele unterhalb des Rentenalters.

Die DDR-Propaganda gegen uns fiel in sich zusammen. Ganze Gruppen von DDR-Bürgern etwa standen sonntags vor meinem Haus in Ludwigshafen, um zu sehen, ob „der Helmut Kohl vielleicht zur Messe in die Pfarrkirche geht". Aus allen Teilen der DDR besuchten die Menschen den Westen, gingen in die Familien, kauften in den Läden ein, sahen die Wirklichkeit. Die hatte mit der DDR-Propaganda nichts zu tun.

WELT am SONNTAG: An diesem Punkt kam dann die große Politik ins Spiel, und Sie fanden vor allem in Ronald Reagan einen Partner ...

Kohl: Um es einmal klar zu sagen: Die Amerikaner - und übrigens auch die Kanadier mit Ministerpräsident Mulroney - haben ohne Wenn und Aber zur Deutschen Einheit gestanden. Für Ronald Reagan war das nicht irgendeine Frage. Für ihn war ganz und gar unnatürlich, dass mitten in Berlin eine Mauer steht, dass man ein Land brutal zerschneidet, dass Familien auseinandergerissen werden.

Aber zunächst war die Position der sowjetischen Seite ja noch von einer unglaublichen Härte. Ich erinnere mich sehr genau an das Gespräch mit Generalsekretär Andropow einige Monate vor seinem Tod. Wir saßen in dessen Arbeitszimmer. Andropow saß schweigend da, und sein Außenminister Gromyko führte einen Zettel in der Hand das Wort. Er schaute mich mit diesem strengen Schulmeistergesicht an und warf dem Westen, auch mir, Kriegstreiberei vor.

Da habe ich zu Andropow gesagt: „Herr Generalsekretär, in Deutschland gibt es keine Kriegstreiber." Und dann fügte ich hinzu: „Jetzt habe ich einmal eine Frage an Sie: Wenn dort drüben an der Moskwa eine Mauer stünde, und Ihre Mutter würde auf der anderen Seite wohnen und Ihre Geschwister auf dieser, und wenn dann die Kinder den Wunsch hätten, ungehindert auf die andere Seite zu gehen, um die Mutter zu besuchen, wäre das dann Kriegstreiberei?''' Darauf hat Andropow - das werde ich nie vergessen - kein Wort gesagt. Nur Gromyko hat noch einmal betont: „Die Teilung Deutschlands ist das Urteil der Geschichte. Das gilt für die Ewigkeit." Wer daran rühre, setze den Frieden aufs Spiel. Das war die Ausgangsposition auf sowjetischer Seite.

WELT am SONNTAG: Wie verhielten sich die Europäer?

Kohl: Unsere Partner in der NATO und der EG hatten sich alle in vielen Vereinbarungen und Erklärungen zum Ziel der Wiedervereinigung bekannt. Aber in Wahrheit standen sie dazu- ich sage das ohne jeden Vorwurf -nicht anders als weite Teile der Oberschicht in der alten Bundesrepublik. Auch bei uns wurden Bekenntnisse abgelegt zur Deutschen Einheit, etwa in der weihevollen Stimmung der Gedenkstunden am 17. Juni - aber mit dem Hintergedanken, es werde in Sachen Einheit schon nichts passieren. Und wenn, dann vielleicht bei den Urenkeln.

WELT am SONNTAG: Wann wurde Ihnen klar, dass es doch etwas werden könnte mit der Einheit?

Kohl: Das erfolgte in mehreren Stufen. Erstmals kam mir der Gedanke wohl bei Michail Gorbatschows offiziellem Besuch in Bonn im Juni 1989. Da haben wir im Kanzlerbungalow gesessen, seine Frau, meine Frau, er, ich und die Dolmetscher, sonst niemand. Und wir haben darüber geredet, was wir eigentlich miteinander bewirken könnten. Es war erkennbar, dass die Entwicklung der Sowjetunion im Gefolge der Perestroika auf einen neuen Kurs hinauslief. So waren zum Beispiel die Abrüstungsverhandlungen endlich richtig in Gang gekommen.

Wir haben uns damals vor allem auch über private Dinge unterhalten. Gorbatschows Vater war im Krieg gewesen; er selber hat deutsche Soldaten erlebt in dem Dorf, wo er wohnte. Er ist Jahrgang 1932, wir sind also ungefähr gleich alt. Wir kamen dann beide zu dem Schluss, man müsste einen Vertrag schließen, in dem die Deutschen und die Sowjetunion zwar die Vergangenheit nicht leugnen, aber eine neue Perspektive entwickeln. Das war - er hat das später selbst erzählt - im Park des Bundeskanzleramts, und wir saßen auf der Mauer unten am Rhein. Es war nach Mitternacht, eine wunderbare Sommernacht. Unten gingen die Bonner Liebespaare vorbei; sie haben ziemlich entgeistert festgestellt, wer da auf der Mauer sitzt und sind dann weitergeschlendert.

Damals sind Gorbatschow und ich uns klar geworden, dass die Menschen in beiden Staaten einen solchen, umfassenden, in die Zukunft gerichteten Vertrag begrüßen würden. Aber ich habe zu Gorbatschow gesagt: „Aus dem Vertrag wird nichts Richtiges, solange zwischen uns die Teilung steht." Ich zeigte auf den Rhein und sagte: „Der Rhein fließt ins Meer. Sie können ihn stauen, doch dann tritt das Wasser über die Ufer und zerstört sie. Aber es gelangt schließlich doch ins Meer. So sicher, wie der Rhein ins Meer gelangt, so sicher kommt die Deutsche Einheit - und übrigens auch die europäische. Die Frage lautet nur: Machen wir es in unserer Generation, oder warten wir weiter - mit all den Problemen, die das bedeutet?" Und ich sagte noch einmal: „Die Deutschen werden sich mit der Teilung nicht abfinden." Das war zwar nicht mein erstes Gespräch mit Gorbatschow über die deutsche Frage. Aber damals hat er zum ersten Mal nicht widersprochen. Doch er hat auch nicht Ja gesagt. Wir haben das Thema dann nicht weiter vertieft.

In der Folge - ich überspringe jetzt vieles - haben wir dann eine ganze Reihe von Vereinbarungen getroffen. Die Beziehungen verbesserten sich zusehends. Und dann sagte Gorbatschow am Rande des 40. Geburtstags der DDR den berühmten Satz: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben."

WELT am SONNTAG: Kurz danach zerbarst die Mauer ...

Kohl: Dieses großartige Ereignis brachte mich vorübergehend in eine schwierige Lage, weil ich zur selben Zeit zu einem offiziellen Besuch in Polen weilte. Ich wusste: Ich muss jetzt zurück nach Berlin. Damit fand ich wenig Verständnis bei meinen Gastgebern. Ich habe ihnen damals versichert: „Ich fahre ab, aber Sie haben mein Wort, ich komme umgehend wieder." Weil wir wegen der Rechte der Alliierten mit der Maschine der Bundesluftwaffe nicht direkt nach Berlin fliegen durften, mussten wir einen Umweg über Hamburg nehmen. Dort wartete zum Glück der damalige US-Botschafter Vernon Walters, ein fantastischer, hilfreicher Mann, der sehr viel getan hat für die Deutsche Einheit. Er stellte mir eine US-Maschine zur Verfügung, mit der wir nach Berlin weiterflogen. Wir fuhren zur Kundgebung vor dem Schöneberger Rathaus und ich hörte, ich solle dort reden.

WELT am SONNTAG: Wer hat Sie denn angekündigt?

Kohl: Das ist bis zum heutigen Tag nicht ganz klar, es war wohl der Senat. Aber schon bei der Ankunft war mir klar, was da gespielt wurde. Da war alles zusammengekarrt, was links ist, es herrschte ein ungeheures Gebrüll. Wir standen auf dem Balkon - und da habe ich gewisse Erfahrungen mit einer Reihe von Leuten gemacht, über die ich gar nicht reden will. Und der frühere Berliner SPD-Bürgermeister Walter Momper formulierte den legendären Satz, es gehe nicht um Wiedervereinigung, es gehe um Wiedersehen.

Während wir auf dem Balkon standen, rief Michail Gorbatschow an - ein weiterer Beweis für das Vertrauensverhältnis, das sich zwischen uns entwickelt hatte. Wie wir heute wissen, hatten KGB, Stasi und die DDR-Machthaber in Moskau Alarm geschlagen: Es bestehe eine Art Situation wie 1953, als es zu Übergriffen auf die sowjetischen Einheiten kam. Gorbatschow ließ fragen, ob eine solche Gefahr tatsächlich bestehe. Meine Botschaft an ihn war: „Das ist alles falsch. Die Leute freuen sich, es besteht überhaupt keine Gefahr von Übergriffen." Er glaubte meiner Versicherung, und so war es ja auch.

WELT am SONNTAG: Die Ereignisse überstürzten sich. Egon Krenz kam als Staatsratsvorsitzender der DDR ins Amt ...

Kohl: Ja. Bei ihm fanden sich noch einmal zahlreiche Staatsbesucher aus dem Ausland ein. Mir war klar: Wir mussten etwas tun. Ich habe mich mit Mitarbeitern im kleinsten Kreis zusammengesetzt, dann noch einmal ganz allein an einem Wochenende nachgedacht und ein Zehn-Punkte-Programm für die Deutsche Einheit ausgearbeitet. Ich habe keine Partei- und kein Koalitionsgremium gefragt, weil in Bonn ja alles in Gremien kaputt geredet wird. Dann habe ich vor dem Plenum des Deutschen Bundestages am 28. November die zehn Punkte vorgetragen. Das war eine ziemliche Sensation. Nicht in Amerika, wohl aber in Europa wirkten die zehn Punkte wie ein Schock, weil ja der letzte Punkt nach der Zwischen Station „konföderative Strukturen" die staatliche Einheit war.

Es folgte ein ungewöhnlich stürmischer EG-Sondergipfel in Straßburg. Da herrschte ein eisiges Klima, weil viele dachten, wir seien bereit, um der staatlichen Einheit willen unsere Zugehörigkeit zur NATO zur Disposition zu stellen. Ich werde nicht vergessen, dass mir damals Spaniens Regierungschef Felipe Gonzalez sehr hilfreich zur Seite stand.

Dann kam eine ganz unangenehme Periode, weil Polen plötzlich massiv die sofortige Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze forderte, unterstützt von nahezu dem ganzen Westen, diesmal auch von den Amerikanern. Polen brachte überdies gewaltige Reparationssummen in die Diskussion. Es entstand eine unglaubliche Druckkulisse. Weil wir trotz alledem nicht überstürzt handelten, betitelten bestimmte Presseorgane: „Kohl sitzt wieder alles aus." Ich habe ja häufig eine schlechte Presse gehabt, aber selten eine so schlechte wie damals.

Ich wusste jedoch immer: Wenn der Preis für die staatliche Einheit Deutschlands die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze ist, müssen wir ihn zahlen. Und wir haben zu guter Letzt ja auch zukunftsweisende Vereinbarungen mit Polen geschlossen.

WELT am SONNTAG: Wie war das anschließend mit den Gesprächen mit der Sowjetunion über den Verbleib eines vereinten Deutschlands in der NATO?

Kohl: Wir haben ständig verhandelt. Das lief- ich überspringe wieder vieles - bis zum entscheidenden Gespräch im Juli 1990, das nicht im Kaukasus, sondern in Moskau stattfand. Nach der Ankunft dort sagte ich Gorbatschow, ich müsse eines sogleich klarstellen, weil davon abhänge, ob wir überhaupt in den Kaukasus reisen würden oder nicht: „Wenn die sowjetische Bedingung eine Neutralisierung Gesamtdeutschlands ist, wenn unser Austritt aus der NATO der Preis für die Einheit sein soll, dann mache ich nicht mit. Ich bin nicht bereit, einen solchen Preis zu zahlen, und dann kommt die DeutscheEinheit eben später. Die NATO verlassen wir jedenfalls nicht." Daraufhin hat Michail Gorbatschow nicht Nein und nicht Ja gesagt, sondern nur: „Wir sollten in den Kaukasus fliegen." Alles weitere ist mehr oder weniger bekannt.

WELT am SONNTAG: Haben Sie auf dem politischen Weg zur Einheit Einschätzungen korrigieren müssen?

Kohl: Ich habe damals so nicht übersehen - das muss ich ehrlich sagen -, wie viele Deutsche im Westen - ich rede nicht von den heutigen neuen Ländern - eigentlich das Ziel der Deutschen Einheit aufgegeben hatten. Die Gewöhnung im Westen an die Teilung unseres Vaterlands habe ich einfach unterschätzt. Heute wissen wir ja besser, was es da auch an Unterwanderung gegeben hat. Jedenfalls gab es eine Menge Leute, die mich wegen unseres raschen Handelns in der Frage der Einheit für - freundlich ausgedrückt - ziemlich verrückt gehalten haben.

WELT am SONNTAG: Aber Sie hatten in der Öffentlichkeit auch Mitkämpfer für die Sache, als die Einheit noch gar nicht spruchreif war ...

Kohl: Natürlich. Eines ist sicher: In den ganzen Jahren davor gehörte zum Beispiel Axel Springer zu jenen, mit denen man zu jeder Tageszeit über dieses Thema reden konnte, auch wenn in anderen Bereichen nicht immer Übereinstimmung bestand. Es ist ein Jammer, dass ausgerechnet er die Einheit nicht mehr erlebt hat. Oder auch Schleswig-Holsteins früherer Ministerpräsident Helmut Lemke, der immer leidenschaftlich für die Einheit gestritten hat. Die Vorstellung, dass er noch erlebt hätte, wie er hinter Lübeck an die offene Grenze geht ... Es gibt da noch eine ganze Reihe anderer, die ich nicht alle aufzählen kann.

WELT am SONNTAG: Wann waren Sie denn sicher, dass es klappt mit der Einheit?

Kohl: Mein Zeitplan, wie er noch den zehn Punkten zugrunde lag, wurde bereits in Dresden überholt. Ich konnte das auf die Minute genau sagen, wenn jemand die Landezeit auf dem Flugplatz herausfindet, als ich am 19. Dezember 1989 zum Besuch beim amtierenden Ministerpräsidenten Modrow in Dresden eintraf. Als die Maschine zum Stehen gekommen und die Treppe ausgefahren war, stand 20 Meter entfernt Hans Modrow mit eisigem Gesicht. Hinter mir war Rudi Seiters auf der Treppe - er war damals Kanzleramtsminister -, und auf allen Gebäudedächern ringsum standen unzählige Menschen, von denen viele Fahnen schwenkten. Da drehte ich mich zu Seiters um und sagte: „Die Sache ist gelaufen." Dann stiegen Modrow und ich ins Auto. Als wir in die Stadt fuhren, standen da ebenfalls unzählige Menschen, viele Schulklassen - und das an einem helllichten Werktag. Die Lehrer müssen mit ihren Schülern dorthin gegangen sein. Vor dem Hotel Bellevue, in dem ich mit Modrow sprechen wollte, hatten sich etwa 10000 Menschen versammelt und forderten, ich solle reden.

Aber wo? Ich kannte mich in Dresden so gut wie nicht aus. Nach dem Mittagessen hatte der damalige Oberbürgermeister Berghofer die Idee, ich könnte vor der Frauenkirche sprechen. Er lieh uns auch die technische Ausrüstung dafür - Mikrophone, Podium. Wir selbst hatten ja nichts dabei. Nach der Pressekonferenz über das Ergebnis unserer Gespräche fuhr Modrow weg, und immer mehr Menschen strömten hinzu. Es war ein Meer von Fahnen -schwarz-rot-gold für Deutschland und weiß-grün für Sachsen. Ich wusste nicht, was ich den Menschen sagen sollte, nur eins war klar: Ich durfte die Stimmung nicht weiter anheizen.

Dann haben wir uns gefragt, was wir machen, wenn die Menge plötzlich das Deutschlandlied und daraus die falsche Strophe anstimmen sollte. Ein großer Teil der internationalen Presse war inzwischen versammelt, das hatte sehr kritisch werden und zu einem fatalen Eindruck führen können. Ich erinnerte mich an den Generalvikar der Bischofskirche, den ich bei meinem bis dahin einzigen Besuch in Dresden Jahre vorher nach der Messe getroffen hatte. Er sollte uns einen Kantor, einen Vorsänger schicken. Der kam auch. Zu dem Kantor habe ich gesagt - eine etwas naive Vorstellung, wenn ich mir das heute so überlege - . er solle sofort „Nun danket alle Gott" anstimmen, wenn irgendjemand aus der Menge anfange zu singen.

Aber dann kam alles ganz anders. Als ich mit der Rede fertig war - das kleine Podest ist fast zusammengebrochen, weil keiner von denen, die dort oben eingekeilt waren, auch nur einen Millimeter zu weichen bereit war -, gelang es einer alten Frau, sich nach oben zu drängen. Die Leute riefen „Deutschland - einig Vaterland". Dann hat mich die alte Frau von hinten umarmt, geweint und sich stammelnd bedankt. Das Mikrophon war noch angeschaltet, die Menge konnte alles mithören. Da gab es keinen Gesang mehr und die Leute gingen ruhig auseinander. Die alte Frau - die war stärker als alles andere. Und so hat das Ganze ein gutes Ende genommen.

WELT am SONNTAG: Dann war also Dresden Ihre glücklichste Stunde, und nicht die Feier der Vereinigung vor dem Reichstag 1990?

Kohl: Ich weiß es nicht. Die Feier vor dem Reichstag, das war schon eine großartige Sache. Aber menschlich bewegender war doch das Erlebnis in Dresden. Denn dem 3. Oktober 1990 waren ja schon mehrere eindrucksvolle Ereignisse vorausgegangen. Wir hatten die Öffnung des Brandenburger Tores kurz vor Weihnachten 1989, die vielen Begegnungen, die vielen Kundgebungen. Aber in Dresden, da war ja noch wirklich alles ganz neu und ungewohnt - und niemand wusste, wie das laufen würde.

WELT am SONNTAG: Was fällt Ihnen spontan ein, wenn wir Sie, einmal abgesehen von den schweren Stunden beim Bau der deutschen und europäischen Einheit, nach den Erlebnissen fragen, die für Sie am negativsten besetzt sind?

Kohl: Das verwischt sich mit den Jahren. Aber eines will ich sagen: Persönlich tief getroffen war ich vom Ermittlungsverfahren wegen angeblicher uneidlicher Falschaussage vor dem Flick-Untersuchungsausschuss. Das ist eine Sache, über die ich mich später noch einmal genauer äußern werde, wenn ich nicht mehr im Amt bin. Sie gehört zu jenen Lebenserfahrungen, bei denen ich mich - bei allem, was da abgelaufen ist -, am meisten verletzt gefühlt habe, und ich glaube, zu Recht.

WELT am SONNTAG: Haben Sie sich in Ihrer Partei immer sicher gefühlt?

Kohl: Ich bin jetzt 19 Jahre Vorsitzender. Da gab es viel Auf und Ab. Aber wenn Sie mich nach meiner schwierigsten Phase in der Partei fragen, dann ist mir die Zeit vor dem Bremer Parteitag, der vom 10. bis 13. September 1989 stattfand, unter die Haut gegangen. Nicht nur wegen des gescheiterten Versuchs einiger Parteifreunde, mich zu stürzen, sondern auch, weil es mir damals gesundheitlich so schlecht ging wie nie zuvor und seither in meinem Leben.

Es war ja schon seit Monaten abzusehen, dass sich im Blick auf Bremen ein Generalangriff gegen mich zusammenbraute. Und just in diesem Augenblick bekam ich eine schwere Blasenerkrankung. Ich konnte mich vor Schmerzen kaum aufrecht halten, suchte einen bekannten, mit mir befreundeten Urologen in Mainz auf. Das war am Mittwoch vor dem Parteitag, und der Arzt eröffnete mir seelenruhig: „Das muss operiert werden, bleiben Sie gleich da, das machen wir morgen früh." Ich lag da und habe ihn angeschaut, als hätte er mir mit dem Hammer vor den Kopf geschlagen. Und dann habe ich gesagt: „Herr Professor, wenn morgen bekannt wird, dass ich bei Ihnen in der Klinik liege, dann nimmt mir in Deutschland kein Mensch ab, dass ich wirklich erkrankt bin. Da wird doch sofort gesagt: Das ist eine bestellte Geschichte, der will sich drücken. Es hat gar keinen Sinn. Ich muss am Sonntag nach Bremen."

Daraufhin hat mein Arzt die Erkrankung zunächst ambulant behandelt. Aber ich hatte entsetzliche Schmerzen, als ich dort in Bremen auf dem Podium saß und mich der Diskussion stellte. Ich wurde wiedergewählt, und Volker Rühe wurde als Nachfolger von Heiner Geißler zum Generalsekretär gewählt. Am Mittwoch war der Parteitag vorbei, und am Donnerstag früh lag ich um sechs Uhr auf dem Operationstisch.

WELT am SONNTAG: Und Ihre schlimmsten privaten Stunden?

Kohl: Das war der schreckliche, fast tödlich verlaufene Unfall meines Sohnes Peter auf einer italienischen Autobahn.

WELT am SONNTAG: Wie lange hoffen Sie, noch Kanzler zu bleiben, und wie lange würden Sie es überhaupt wollen ?

Kohl: Ach, wissen Sie, das ist keine Frage, mit der ich mich besonders beschäftige. Ich stehe in der Pflicht, meinen Beitrag dazu zu leisten, dass wir in Deutschland und in Europa vorankommen. Die Vollendung der inneren Einheit Deutschlands nimmt einen großen Teil meiner Zeit in Anspruch, und ich empfinde es als Glück, für dieses Ziel arbeiten zu können. Das gilt auch für das Ziel, die im Vertrag von Maastricht vereinbarte Europäische Union unwiderruflich auf den Weg zu bringen. Ich werde mich verstärkt darum bemühen, die Menschen davon zu überzeugen, dass wir in beiden Fragen auf gutem Kurs sind.

Bei der Bundestagswahl 1994 haben die Wähler das Wort. Ich bin sicher, dass wir- die Koalition aus CDU/CSU und FDP - erfolgreich abschneiden werden. Wir können und wir werden es schaffen. Ich kämpfe dafür. Resignation - das ist für mich ein Fremdwort.

Quelle: Welt am Sonntag, 27. September 1992. Veröffentlicht unter dem Titel „Als ich auf dem Dresdner Flugplatz landete, drehte ich mich zu Rudi Seiters um und sagte: ‚Die Sache ist gelaufen.'"