27. September 1996

Rede anlässlich der Wiedereröffnung des Heinrich Pesch Hauses in Ludwigshafen

 

Lieber Herr Bischof,
Herr Oberbürgermeister,
lieber Pater Martin,
meine sehr verehrten Damen und Herren,
und ein ganz besonders herzlicher Gruß den russischen und deutschen Soldaten, die hier sind!

In einer so schnellebigen Welt vergessen viele über die größeren und kleineren Sorgen des Alltags, welches Glück es ist, in dieser Zeit zu leben. Ich empfinde das in dieser Stunde ganz besonders. Vor zehn Jahren wäre die Vorstellung, daß wir eines nicht zu fernen Tages hier im Heinrich Pesch Haus zusammensäßen und russische Offiziere bei uns zu Gast wären, für völlig illusionär gehalten worden. Es war soeben aus gutem Grund vom Frieden die Rede. Daß der Friede in Freiheit das Wichtigste ist, hat kaum jemand so sehr erfahren und lernen müssen wie die Deutschen in diesem Jahrhundert.

Auf dem Weg hierher habe ich mit meiner Frau darüber gesprochen, wie alles begann. Wir waren damals an einem Pfingstmontag bei Pater Arrupe zum Mittagessen. Er hat mir zunächst etwas skeptisch zugehört, aber am Ende war er, so glaubte ich, von meinem Plan doch sehr begeistert, das Heinrich Pesch Haus hierher in die Arbeiterstadt Ludwigshafen zu holen. Ausschlaggebend für die Entscheidung war aber letztlich wohl nicht meine Beredsamkeit, sondern es waren - da bin ich sicher - der Heilige Geist und vielleicht auch die Rechenkünste des Jesuitenordens.

Ich weiß nicht, ob sich damals alle im klaren waren, was es bedeutet, in dieser Stadt und in dieser Region ein solches geistiges und geistliches Zentrum zu haben. Ich bin froh, daß das Heinrich Pesch Haus - nach einer in vielerlei Hinsicht dramatischen Übergangszeit - hier steht, daß es hier arbeitet. Es ist ein Beziehungs- und Bezugspunkt für viele. Das sage ich speziell für mich und für viele hier im Saal aus meiner Heimat. Das Heinrich Pesch Haus hat sich inzwischen zu einer der größten und angesehensten kirchlichen Bildungseinrichtungen in unserem Land entwickelt.

Ich bin nicht sicher, ob alles, was in den vergangenen Jahren hier geschehen ist, immer nur Freude bei der kirchlichen Obrigkeit und staatlichen Stellen ausgelöst hat. Das muß natürlich nicht ständig so sein, im Jesuitenorden schon gar nicht. Jedenfalls finde ich es gut, daß es hier dieses geistige und geistliche Zentrum gibt.

Ich möchte all denen danken, die das Haus zu dem gemacht haben, was es heute ist. Herr Bischof, ich sage auch Ihnen ein herzliches Wort des Dankes. Sie haben hier in der größten Stadt Ihrer Diözese auch jetzt wieder durch die notwendige finanzielle Unterstützung ein Zeichen gesetzt. Ich denke, das Haus ist jetzt für die Zukunft gerüstet. Das ist auch ein wichtiger Beitrag für die Zukunftsfähigkeit unseres Landes.

Wenn man heute, im Jahre 1996, das Wort Zukunft ausspricht, dann reden wir über das nächste Jahrhundert, das nächste Jahrtausend. Ich glaube, gerade in dieser Umbruchzeit ist Bildungsarbeit aus christlicher Überzeugung, aus christlich-sozialem Geist für die kulturelle Identität unseres Landes und für unsere, für meine Kirche von größter Bedeutung. Ich danke deshalb auch dem Jesuiten-Orden sehr herzlich und hoffe sehr, daß seine Präsenz - bei aller Personalnot - der Stadt Ludwigshafen auch in Zukunft erhalten bleiben wird. Denken Sie bei einer erneuten Güterabwägung daran, daß diese Region eine alte deutsche, europäische Kulturlandschaft ist. Hier gehören die Jesuiten einfach hin, und hier sollen sie auch bleiben.

In diesem Haus nehmen Jahr für Jahr über 25 000 Männer und Frauen an den verschiedensten Veranstaltungen teil. Das ist eine beeindruckende Zahl. Dieses Haus ist ein Ort der Begegnung, der Besinnung und der Nachdenklichkeit, ein Ort des persönlichen Gesprächs, auch ein Ort der Ruhe und des Gebets. Ich möchte diesen Aspekt besonders unterstreichen, weil die Seelsorge das Herzstück kirchlicher Arbeit ist und bleibt. Es gibt niemanden, der den Kirchen diese Aufgabe abnehmen kann. Sie zu übernehmen, ist ein gewaltiger Dienst an den Menschen.

Wir müssen Sorge dafür tragen, daß die Freiheit in unserer Gesellschaft nicht in Orientierungslosigkeit umschlägt. Freiheit bedeutet immer auch Verantwortung, sonst führt sie zu neuen Formen der Abhängigkeit. Ich fand es besonders eindrucksvoll, als der Papst am 23. Juni vor dem Brandenburger Tor formulierte: "Freiheit bedeutet nicht das Recht auf Beliebigkeit. ... Die Freiheit ist ein überaus kostbares Gut, das einen hohen Preis verlangt. Sie verlangt Hochherzigkeit, und die schließt Opferbereitschaft mit ein; sie verlangt Wachsamkeit und Mut gegenüber den Kräften, die sie von innen oder außen bedrohen."

Gelebte Verantwortung braucht die Besinnung auf das eigene Gewissen, auf den Mitmenschen und vor allem auf Gott. Deswegen glaube ich - ich sage dies aus Erfahrung und Überzeugung -, daß die Stimme der christlichen Kirchen gerade in unserer zunehmend säkularisierten Gesellschaft unverzichtbar ist. Die Frohe Botschaft Christi ist eine Quelle der Kraft, sie gibt Menschen Orientierung und Halt. Das ist um so wichtiger in einer Zeit, in der aus vielerlei Gründen die Verunsicherung wächst und Bindungen abnehmen. In dieser Lage müssen die Kirchen noch mehr als bisher auf den einzelnen zugehen und ihm die Botschaft des Glaubens ganz persönlich vermitteln. Ich glaube, daß wir gerade in den kommenden Jahren - an der Schwelle zum Jahr 2000 - die Sehnsucht nach einer solchen Ansprache in einer besonders drastischen Weise erleben werden.

Natürlich wiederholt sich Geschichte nicht so einfach. Aber ich denke manchmal darüber nach, wie es bei der letzten Jahrtausendwende - beim Übergang zum Jahr 1000 - war: Die Einwohner Augsburgs, einer der damals größten Städte der Erde, sind auf das Lechfeld hinausgelaufen, weil sie um Mitternacht den Weltuntergang erwartet haben. Schon jetzt ist vielerorts eine Zunahme von Lebensangst zu beobachten, die ihren Ausdruck in mancherlei unverständlichen Reaktionen findet. Es gibt viele Befürchtungen und viel Verunsicherung. Ich denke, die Botschaft des Glaubens hat gerade in solchen Zeiten eine große Chance.

Es gehört zur großartigen Tradition der Jesuiten, nicht nur im kirchlichen Milieu zu wirken, sondern in eine größere Öffentlichkeit hineinzugehen. Der Dienst der Ordensangehörigen in der Dritten Welt gehört ebenso dazu wie das vielfältige Sozialapostolat und die Bildungsarbeit des Ordens.

Meine Damen und Herren, Bildung im wohlverstandenen Sinne ist immer auch Herzensbildung. So steht dieses Haus ganz in der großen Tradition seines Namensgebers. Pater Heinrich Pesch war ein Gelehrter, dem das Schicksal der Menschen am Herzen lag. Er versuchte zu helfen, wo immer er konnte. Er hat sich vor allem derer angenommen, die von den massiven Veränderungen infolge der Industrialisierung um die Jahrhundertwende besonders hart getroffen wurden. Seine Oberen bat er, ihn für soziale Arbeit bei den Ärmsten freizustellen. So kam er mit der Arbeiterschaft in England, mit den Bergleuten und Hüttenarbeitern im Ruhrgebiet und in Nordböhmen in Kontakt. Das waren für ihn prägende Erfahrungen.

Viele der Botschaften von Heinrich Pesch sind auch heute noch ganz aktuell. Seine ethischen Überlegungen wurzelten in seinem tiefen Glauben an Gott. Dieser Glaube bedeutet immer auch Verpflichtung, die Welt, die uns der Schöpfer anvertraut und geschenkt hat, zu erhalten und zu gestalten. So verstanden ist Glauben eben nicht Privatsache. Heinrich Pesch hat die gesellschaftliche Verantwortung der Kirchen als einer der ersten erkannt und konzeptionell umgesetzt. Einem radikalen Individualismus wie einem radikalen Kollektivismus setzte er seine Gesellschaftslehre des "Solidarismus" entgegen. Er hat damit die katholische Soziallehre entscheidend beeinflußt. Zusammen mit Gustav Gundlach und dem unvergessenen Oswald von Nell-Breuning begründete er die zentrale Stellung der Solidarität in der katholischen Soziallehre.

Solidarität bedeutet im Kern: Hilfe für den einzelnen durch die Gemeinschaft und Unterstützung der Gemeinschaft durch den einzelnen. Das heißt, Solidarität ist keine Einbahnstraße, wie sie manche heutzutage verstehen. Deshalb ist es auch immer wieder unsere Aufgabe, die Gemeinschaft vor mißbräuchlicher Inanspruchnahme zu schützen. Der einzelne soll in Selbstverantwortung so viel gestalten, wie in seinen Kräften steht. Die Gemeinschaft soll dort helfen, wo der einzelne überfordert ist. Das ist genau das, was wir heute unter dem Begriff Subsidiarität verstehen.

Bei der Vorbereitung dieser Rede habe ich mich an meine Studentenzeit in den 50er Jahren erinnert. Damals gab es heftige Diskussionen, auch innerhalb meiner eigenen Partei, über die Bedeutung des Sozialen in einer freiheitlichen Wirtschaftsordnung. Ich erinnere mich noch gut, wie Ludwig Erhard sich leidenschaftlich dagegen wehrte, nur "Marktwirtschaft" und nicht die "Soziale Marktwirtschaft" zu vertreten. Auch ich habe später eine britische Kollegin, mit der mich in meiner Laufbahn viel Streit verbunden hat, immer wieder darauf hingewiesen, daß es elementare Unterschiede gibt zwischen Marktwirtschaft und Sozialer Marktwirtschaft.

Beide Prinzipien - Solidarität und Subsidiarität - fanden Eingang in die wegweisende Enzyklika Quadragesimo anno von Papst Pius XI. Ihre Veröffentlichung erfolgte 1931, fünf Jahre nach dem Tod von Heinrich Pesch. Seither haben Solidarität und Subsidiarität in der katholischen Soziallehre ihren festen Platz.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden sie auch zu zentralen Bestandteilen der Programme christlich-demokratischer Parteien in ganz Europa. Heute spielen beide Begriffe eine entscheidende Rolle bei den Verhandlungen um den Maastricht-II-Vertrag. Wenn ich die Unterlagen für Sitzungen und Besprechungen im Rahmen der Europäischen Union studiere, denke ich oft: Gerade in diesen Monaten zeigt sich, daß die Bedeutung und die ganze Kraft dieser Ideen wieder präsent ist.

Meine Damen und Herren, es waren nicht zuletzt in ihrem Glauben tief verwurzelte Christen, die nach 1945 im freien Teil unseres Landes den politischen Neuanfang gestalteten und so die Weichen für die Erfolgsgeschichte unserer Bundesrepublik Deutschland stellten. Hinzu kam der glückliche Umstand, daß sich bei Katholiken und Protestanten die Erkenntnis durchsetzte, daß die alten konfessionellen Gegen-sätze überwunden werden mußten, um gemeinsam den totalitären Ideologien unserer Zeit widerstehen zu können.

In der Bundesrepublik Deutschland fanden wesentliche Grundsätze der evangelischen Sozialethik und der katholischen Soziallehre Eingang in das Konzept der Sozialen Marktwirtschaft. Diese Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung schuf die Grundlage dafür, daß Freiheit und Selbstverantwortung in Solidarität mit dem Nächsten und in Übereinstimmung mit dem Gemeinwohl gelebt werden können. Bei der Entscheidung zugunsten der Sozialen Marktwirtschaft ging es nicht einfach um ökonomische Zweckmäßigkeit. Es war ein ganzheitlicher Grundansatz. Daran müssen wir festhalten bei allem, was wir heute zu tun und zu entscheiden haben. Die Folge dieses Denkens ist ein Höchstmaß an persönlicher Freiheit und sozialer Sicherheit. Ich glaube ganz sicher, daß die Aufbauleistungen der Gründergeneration unserer Republik nach dem Krieg nur aus einer solchen Einstellung heraus möglich waren. Meine Bewunderung für diese Generation nimmt immer mehr zu.

Von entscheidender Bedeutung war die freiheitliche Staatsordnung unseres Grundgesetzes. An ihrem Aufbau haben die Kirchen aktiv mitgewirkt. Wir leben in einer pluralistischen Gesellschaft, das ist wahr. Wir leben in einem weltanschaulich neutralen Staat. Aber dieser Staat ist kein wertneutraler Staat. Wenn sich die Bundesrepublik Deutschland dazu entwickeln würde, hätte ich größte Besorgnis für die Zukunft. Denn mit Prinzipienlosigkeit ist kein Staat zu machen! Nur wo der einzelne in seiner Würde und in seinem Anderssein geachtet wird, ist Toleranz möglich.

Auch wer das religiöse Selbstverständnis der Kirchen nicht teilt, wird ihre herausragende Rolle in einer politischen Ordnung, die auf dem Fundament unverzichtbarer Grundwerte ruht, anerkennen müssen. Deshalb, meine Damen und Herren, müssen Politiker akzeptieren, daß Kirchen kritische Meinungen äußern und dazu stehen. Wenn allerdings an die Stelle von Glauben und Predigt Indoktrination tritt, ist Ablehnung berechtigt.

Der Versuch, mancherorts den Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach aus den Schulen zu verdrängen und an seiner Stelle einen staatlich kontrollierten Weltanschauungsunterricht anzubieten, ist kein gutes Zeichen für unser Land. Ich frage mich manchmal, ob wir eigentlich am Ende dieses Jahrhunderts die Lektion der Geschichte bereits wieder vergessen haben! Die Kirchen sind es, die in einer säkularisierten Welt die Frage nach einer den Staat und die Gesellschaft übersteigenden Wirklichkeit, nach der letzten Sinngebung mensch-licher Existenz offenhalten. Es ist auch ihre Sache, daran zu erinnern, daß irdischer Macht Grenzen gesetzt sind.

Ich möchte das Beispiel Alfred Delps, eines Ihrer Mitbrüder, anführen. Er kam hier aus dieser Region und wurde im Zusammenhang mit dem Attentat auf Hitler vom 20. Juli 1944 in Plötzensee gehängt. Wenn Sie seine nachgelassenen Schriften - auch aus verzweifelten Stunden - lesen, können Sie nachempfinden, wo der irdischen Macht Grenzen gesetzt sind. Daran sollten wir uns immer wieder erinnern.

Mit Recht weisen die Kirchen darauf hin, daß staatliche Institutionen grundlegende sittliche Gebote nicht einfach aufheben und abschaffen können. Es ist Sache des Staates, die Erfüllung dieser Gebote zu ermöglichen und zu fördern. Kirchen und Politik tragen gemeinsam Verantwortung für die Bewahrung des demokratischen Grundkonsens, wie er in unserer Verfassung zum Ausdruck kommt. Nur wenn wir uns gemeinsam um die Verwirklichung der christlichen Grundwerte bemühen, kann die freiheitliche Ordnung mit Erfolg verteidigt werden.

Die Erfahrung einer freien Gesellschaft zeigt natürlich auch, daß sich ein ethischer Konsens nicht verordnen läßt. Wer für die Freiheit eintritt, muß gegen Indoktrination sein. Aber das ist kein Freibrief für ethische Gleichgültigkeit und Beliebigkeit. Unsere politische Kultur muß hier einen vernünftigen Mittelweg finden, der Generation für Generation neu zu erarbeiten ist.

Dies alles ist, meine Damen und Herren, in unseren Tagen nicht einfacher geworden. Noch in den 50er Jahren bekannten sich fast alle Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik zu einer der großen Kirchen. Heute sind es noch gut zwei Drittel der Bevölkerung, die sich zur katholischen oder evange-lischen Kirche bekennen. Diese Entwicklung hat viele Gründe. Einer davon ist ganz gewiß der Verlust alter Gewißheiten, die Aufweichung tradierter Werte und Normen sowie die abnehmende Bereitschaft zur Bindung. Der von mir besonders verehrte Philosoph Eugen Biser hat in diesem Zusammenhang von einem "Bruch im Selbstverständnis des heutigen Menschen" gesprochen. Wer aufmerksam durch das Land geht, Menschen sieht und mit den Menschen spricht, kann dies unschwer erkennen.

Im Osten unseres Landes wurde der Prozeß der Säkularisierung durch die Folgen der Unterdrückung des kirchlichen Lebens unter der SED-Diktatur noch verstärkt. Die Verstrickung mit dem SED-Machtapparat, in die auch manche Vertreter der Kirchen geraten waren, wirkt nach. Sie hat zu dem großen Vertrauensverlust beigetragen. Es gab aber auch, und dies wird seltsamerweise heute fast überall öffentlich verschwiegen, in diesen über 40 Jahren des SED-Regimes großartige Beispiele von Zivilcourage. Unter evangelischen und katholischen Pfarrern hat es viele gegeben, die sich dem Regime nicht angepaßt hatten. Sie haben persönliche Opfer gebracht, und sie waren einsam. Evangelische Geistliche mußten mit ihren Familien schwere Heimsuchungen erleben. Sie haben im Rahmen ihrer täglichen Seelsorge Mut gemacht und Trost gespendet. Nicht wenige von ihnen haben Anteil an der friedlichen Revolution im Herbst 1989 gehabt. Ohne diese Pfarrer und Geistlichen wäre dieser Protest nicht möglich gewesen.

Der Mut der Männer und Frauen, die damals mit dem Ruf "Wir sind das Volk" auf die Straße gegangen sind, ist für uns heute eine Ermutigung. Man muß sich fragen, wie in einem Land, in dem das alles möglich war, Larmoyanz und Kleinmut aufkommen können - ein Kleinmut übrigens, der uns ganz ungewöhnlich schadet. Wenn ich aus meiner Erfahrung aufzählen sollte, was den Deutschen im Ausland schadet, dann würde ich an erster Stelle diese selbstmitleidige Larmoyanz erwähnen. Die meisten im Ausland verstehen das nicht. Sie halten diese Einstellung für ein Ablenkungsmanöver. Es ist schwer, an der Universität etwa in Kiew vor Studenten zu stehen, mit ihnen über ihre Lebensverhältnisse zu reden und dann zu erzählen, womit wir uns hier in unserem Land beschäftigen.

Kirchliche Verkündigung soll nicht nur Einsichten in Probleme vermitteln, sondern auch den Mut und das Vertrauen, daß wir den Herausforderungen gewachsen sind. Wer sich auf das Christliche beruft, stellt immer wieder die Frage nach den Grundwerten und nach den Leitlinien für sein Handeln. Gleichzeitig können ethische Grundsätze - für sich genommen - aber noch nichts darüber aussagen, wie in einer konkreten Situation die richtigen politischen Einsichten und Entscheidungen aussehen. Dazu gehört - auch für den, der predigt, auch für den, der aus seiner christlichen Überzeugung heraus spricht - eine ausreichende Sachkenntnis. Die gute Gesinnung allein genügt nicht, wenn man über schwierigste Fragen der Sozialpolitik, der Außenpolitik oder der Sicherheitspolitik zu reden hat. Praktische Vernunft gehört ebenso dazu wie das rechte Augenmaß und kluges Ermessen; darüber hinaus die Erkenntnis, daß die, die zum Handeln berufen sind, natürlich auch Irrtum und Schuld ausgesetzt sind.

Es ist wichtig, daß wir uns selbst - nicht nur den anderen - immer darauf prüfen, ob wir mit dem, was wir tun, vor unserem Gewissen bestehen können. So enthalten die christlichen Soziallehren denn auch keine Rezepte für konkrete gesellschafts-, wirtschafts-, steuer- und sozialpolitische Maßnahmen. In ihrem Mittelpunkt stehen Fragen des menschlichen Zusammenlebens, der Ordnung unserer Gesellschaft im christlichen Verständnis und die Ziele und Zwecke sozialen Handelns. Sie wollen dem Wandel der Dinge folgen und auf neue Fragen neue Antworten in christlichem Geist geben.

Ich wende mich - bei einer so guten Gelegenheit und vor einem solchen Auditorium - aber auch gegen jene Vorstellung, daß die Kirchen für die höhere Moral zuständig seien und daß die Politik für die Niederungen des moralfreien Pragmatismus zuständig sei. Das ist eine Form von Selbstgerechtigkeit und eine für mich völlig unerträgliche Betrachtungsweise. Dabei triumphiert - um ein Wort von Hermann Lübbe aufzugreifen - oft die "Gesinnung über die Urteilskraft". Das ist ein Satz, den man gar nicht oft genug zitieren kann.

Sie alle werden sich noch daran erinnern, wie auf den Kirchentagen zu Beginn der 80er Jahre bestimmte Vorstellungen ganz selbstverständlich ex officio verkündet wurden. Diejenigen, die für die NATO waren, galten als "raketensüchtig" und "friedensunfähig". Die Geschichte hat bewiesen, daß die Stationierung der amerikanischen Mittelstreckenraketen Ende 1983 richtig war. Die Tatsache, daß hier heute russische Offiziere sitzen, ist auch eine Frucht unserer politischen Stand-festigkeit in jener schwierigen Zeit.

An die damalige Debatte fühle ich mich heute manches Mal in der Diskussion um mehr Wachstum und Beschäftigung erinnert. Wir können und müssen um den besten Weg zu diesem Ziel leidenschaftlich streiten. Aber wir dürfen - wo immer wir politisch stehen mögen - nicht zulassen, daß ein künstlicher Gegensatz zwischen wirtschaftlichen und moralischen Argumenten konstruiert wird. Die Welt besteht nicht aus zwei Abteilungen - hier Wirtschaft und dort Moral. Wer diesen Anschein weckt, der wird es immer leicht haben, den moralischen Zeigefinger zu erheben, aber er wird die Lage der Menschen nicht verbessern!

Unsere innenpolitische Aufgabe Nummer eins ist die Schaffung von Arbeitsplätzen und die Verringerung der Arbeitslosigkeit. Wir können aus guten Gründen darüber streiten, wie wir auf diesem Weg am besten vorankommen. Aber wir müssen dann auch akzeptieren, daß es zu Veränderungen kommen muß. Wir brauchen eine Senkung der Lohnzusatzkosten. Einer weiteren Erhöhung der Sozialversicherungsbeiträge müssen wir deshalb mit allem Nachdruck entgegenwirken. Wenn wir dieses Ziel nicht verfolgten, dann müßten wir zusehen, wie immer mehr Menschen aus der Solidargemeinschaft in Schwarzarbeit getrieben würden.

Es gibt noch etwas, das klar gilt: Wer aus einer wertebezogenen Grundhaltung heraus argumentiert, der kann nicht im Unverbindlichen bleiben. Er muß diese Wertvorstellungen hier und heute in praktische Entscheidungen umsetzen und darf die Probleme nicht auf die kommende Generation abwälzen. Es ist leicht nachzuvollziehen, daß es eine zutiefst unmoralische Politik ist, wenn eine Generation die kommenden Generationen von vornherein belastet. Das gilt für die verschiedensten Bereiche, ob es sich dabei um die Staatsverschuldung handelt oder um die Frage, wie wir mit der Natur - ich verwende lieber das biblische Wort "Schöpfung" - umgehen.

Vor ein paar Tagen, als ich in Brasilien war, habe ich in der Vorbereitung auf eine Sondergeneralversammlung der Vereinten Nationen im nächsten Jahr mit meinen brasilianischen Gesprächspartnern darüber gesprochen, was wir jetzt für den Regenwald wirklich tun können. In Brasilien, Indonesien und Malaysia stehen ungefähr 80 Prozent der Regenwälder dieser Erde. Wenn die Regenwälder weiter abgeholzt werden, wird die nächste Generation diese Wälder so nicht mehr haben. Sie sind nicht rekultivierbar. Derartige Versuche sind mehr oder weniger gescheitert. Wenn die Entwicklung so weiter voranschreitet, werden wir auch hier in Ludwigshafen am Rhein eine Veränderung des Großklimas erleben, ob es uns paßt oder nicht.

Deswegen müssen wir über die Analyse der Probleme hinaus dazu fähig sein zu fragen: Was tun wir konkret, um Vorsorge zu treffen für unsere Kinder und Kindeskinder in Deutschland und natürlich für die nächste Generation auf der ganzen Welt? Umdenken ist das Gebot der Stunde! Deswegen müssen wir uns die Zeit nehmen, um vernünftige Gespräche zu führen und gemeinsam intelligente Ideen zu entwickeln, die Probleme lösen helfen. Es geht nicht darum, sich der kommenden Entwicklung passiv auszuliefern, sondern diese Entwicklung vernünftig zu gestalten.

Auch unser System sozialer Sicherheit muß ständig neuen Bedürfnissen angepaßt werden. Wer vor ein paar Tagen die Veröffentlichung des Statistischen Bundesamtes über die Altersstruktur der Deutschen gelesen hat, der muß nicht mehr lange nachdenken, um die Bedeutung des Themas "Pflegeversicherung" zu erkennen. Deutschland hat mit die niedrigste Geburtenrate in Europa. Hinzu kommt, daß sich immer mehr Deutsche dazu entschließen, als Singles zu leben. In einer Stadt wie Frankfurt sind etwa 50 Prozent aller Haushalte Einpersonenhaushalte. Dies hat weitreichende Konsequenzen. Deshalb müssen wir handeln. Wenn dazu gehört, daß wir Überlegungen zur Sicherung der Hilfe bei Pflegebedürftigkeit anstellen, dann ist es ein Stück gelebte Solidarität.

Dieses Land ist trotz all seiner Probleme - verglichen mit den meisten Ländern der Welt - ein glückliches Land. Aber Deutschland ist dennoch keine Insel der Seligen. Die Welt um uns herum befindet sich in einem dramatischen Umbruch. Das ist oft mit großen Schmerzen verbunden. In diesen Tagen spüren wir das besonders deutlich, wenn wir zum Beispiel nach Israel und in die Nah-Ost-Region schauen. Ausgerechnet diese Region, in der die drei monotheistischen Weltreligionen - das Judentum, das Christentum und der Islam - ihren Ursprung haben, wird auf so bittere Weise Jahr für Jahr von Kriegen und kriegerischen Auseinandersetzungen gepeinigt.

Die meisten von uns hatten - wie ich - das Glück, nach dem Krieg in Frieden und Freiheit zu leben. Die Menschen in der früheren DDR haben 1989 die Freiheit erlangt. Gemeinsam müssen wir jetzt unseren Blick auf unsere Nachbarn in Mittel- und Osteuropa richten. Wir haben die trennenden Grenzen von früher noch immer vor Augen, wenn wir über die Staatsgrenze hinüber nach Polen, nach Tschechien, in die Slowakei oder nach Ungarn fahren.

Viele haben im Westen zu Recht den Sieg der Freiheit begrüßt. Aber heute fürchten sie die verschärfte Konkurrenz als Folge der neuen ökonomischen Freiheit. Es gibt leider oft auch eine unglaubliche Arroganz von denen, die das Glück hatten, länger in Freiheit zu leben. Heute fragen Menschen in Frankfurt an der Oder Menschen in Frankfurt am Main: Haben wir den Krieg allein verloren?

Deswegen ist es ganz wichtig, daß wir den Bau des Hauses Europa irreversibel machen und daß wir uns nicht abschotten gegenüber unseren Nachbarn in Mittel-, Ost- und Südost-europa. Wir müssen sie teilhaben lassen am freien Welthandel, am Austausch von Gütern, Waren, Dienstleistungen und Kapital - ungeachtet der Tatsache, daß das unsere eigene Lage nicht erleichtert. Wir haben doch über Jahrzehnte gesagt: Wenn nur die Mauer fällt und wir zueinanderkommen - und das galt nicht nur für die Deutschen -, dann wollen wir alles tun, um unseren Nachbarn die Chance zu geben, ein Leben nach eigenen Vorstellungen führen zu können.

Deswegen ist es so wichtig, daß wir nicht nur über Solidarität sprechen, sondern sie auch konsequent leben. Dies auch um den Preis, daß manches, das uns ganz selbstverständlich erschien, nicht mehr so selbstverständlich sein kann. In dem Maße, wie sich die Tschechen oder die Polen westlichen Produktions- und Industriemethoden anpassen, haben wir die Konkurrenz jetzt natürlich gleich vor der Haustür. Ein großer europäischer Konzern, der in Mannheim und bei Prag die gleiche Fabrikation unterhält, zahlt in Mannheim heute einen Stundenlohn von 45 D-Mark, in Prag umgerechnet von fünf D-Mark. Das bringt natürlich Probleme für uns mit sich, aber wir müssen doch trotzdem erkennen, daß die Tschechen nicht nur unsere Nachbarn, sondern auch unsere Brüder sind.

Meine Damen und Herren, in vier Jahren werden wir die Schwelle zum 21. Jahrhundert, zum 3. Jahrtausend nach Christus, überschritten haben. Wir müssen begreifen, daß jetzt die Weichen dafür gestellt werden. Ich war bei Kriegsende 15 Jahre alt und habe den Wiederaufbau dieser Stadt als Schüler und als Student erlebt. Wir haben allen Grund, jenen dankbar zu sein, die dies damals bewerkstelligt haben. Sie müssen uns gerade heute ein Vorbild sein.

Wir haben uns vor ein paar Tagen an die große Rede von Winston Churchill vor 50 Jahren in Zürich erinnert. Es ist im nachhinein schwer vorstellbar, daß einer, der mehr als jeder andere die Niederlage Hitlers, des Nationalsozialismus und der NS-Barbarei erkämpft hat, eineinhalb Jahre nach der deutschen Kapitulation, nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs die Europäer - die Deutschen und Franzosen im besonderen - aufgerufen hat, Europa zu bauen und die Kriege und die Welt von gestern hinter sich zu lassen. Konrad Adenauer, Alcide de Gasperi und viele andere haben sich aus der Erfahrung einer Generation, die zwei Kriege und Zusammenbrüche erlebt hatte, auf den Weg gemacht, dieses Haus Europa zu bauen.

Sie haben begriffen, daß die geistig-kulturellen Traditionen, die die europäischen Völker miteinander verbinden, einen neuen Anfang geradezu erzwingen. Sie sind ganz selbstverständlich davon ausgegangen - das soll 1997 niemand vergessen, der über Europapolitik spricht -, daß Europa vor allem eine Werte- und Kulturgemeinschaft ist. Die Geschichte unseres eigenen Volkes ist ein Teil davon. Unser Land, Deutschland, ist über Hunderte von Jahren geprägt durch irische und schottische Missionare und durch all jene, die den christlichen Glauben in Europa verbreiteten.

Ich wünsche mir, daß wir den Dialog zwischen katholischen und evangelischen Christen verstärken. Das ist übrigens auch eine Chance für dieses Haus. Ich wünsche mir diesen Dialog nicht nur an hohen Fest- und Feiertagen, nicht nur bei der Begegnung von Ordinariaten mit Kirchenregierungen - die auch sehr nützlich sein können -, sondern ganz allgemein im Alltag.

Aus der Erfahrung des Aufbruchs in Mittel-, Ost- und Südosteuropa wünsche ich mir, daß vor allem auch aus den deutschen Kirchen das Gespräch mit den orthodoxen Kirchen verstärkt oder neu begonnen wird. Das gilt für Rußland und die Ukraine genauso wie für das Gebiet des früheren Jugosla-wien. Es geht - wenn ich von Europa spreche - darum, daß wir den ökumenischen Bogen von den Klöstern und Kapellen Irlands bis hin zu den Kirchen und Kathedralen von Kiew und Moskau schlagen. Auf diese Weise können die Kirchen die Menschen ermutigen, sich für unser großes Ziel, die Einigung Europas, einzusetzen. Das ist die beste Voraussetzung für Frieden und Freiheit im 21. Jahrhundert.

Ich habe soeben von den jüngsten Ereignissen im Heiligen Land gesprochen. Gerade vor diesem Hintergrund ist es wichtig, daß sich die drei großen monotheistischen Weltreligionen wieder stärker und offener auf ihre gemeinsamen Wurzeln und Werte besinnen und daß der Umgang miteinander beseelt ist vom Geist der Brüderlichkeit.

Meine Damen und Herren, dieses Haus hat schon viele gute Jahre erlebt. So wie es jetzt gestaltet wurde, ist es ganz auf die Zukunft ausgerichtet. Ich bin sicher, daß auf unabsehbare Zeit keine erneute Generalüberholung notwendig sein wird. Das heißt im Klartext: Das, was hier jetzt geschaffen worden ist, wird weit bis ins nächste Jahrhundert hinein tragen.

Ich wünsche allen, die hier leben und arbeiten, und vor allem den vielen, die als Besucher und Gäste hierherkommen, daß sie in diesem Hause etwas erfahren werden über die Lehren des jetzt zu Ende gehenden Jahrhunderts und über die Chancen des neuen Jahrhunderts. Es ist mein Wunsch, daß sich die Menschen hier - bei aller Besinnlichkeit und Nachdenklichkeit - bewußt werden, daß wir in einer phantastischen Zeit leben und daß es eine Chance ist, in dieser Zeit leben zu dürfen. Bei allen Sorgen des Alltags unter dem Signum des Kreuzes muß es unsere Sache sein, uns mit realistischem Optimismus der Welt von morgen zu stellen. Der Namensgeber dieses Hauses, Heinrich Pesch, hatte eine Vision. Er hat versucht, sie zu leben. Ich wünsche allen, die hier ein- und ausgehen, daß sie ihre großen Chancen in diesem Sinne wahrnehmen. Das wird uns helfen, für unser Volk und für die kommende Generation den Weg in die Zukunft zu finden.

Quelle: Bulletin der Bundesregierung. Nr. 86. 29. Oktober 1996.