28. April 1984

Rede vor dem Deutschen Familienverband in Kiel

 

Diese Kundgebung des Deutschen Familienverbandes ist ein Ausdruck der Solidarität mit den Familien. Wer für den Schutz und die Interessen der Familie eintritt, kann sicher sein, daß er im Namen vieler Millionen unserer Mitbürger spricht.

Diese Kundgebung baut keine Fronten auf gegen andere. Sie wirbt um Gemeinsamkeit, sie wirbt um Mitmenschlichkeit, sie wirbt für die wichtigste Lebensgemeinschaft unserer Gesellschaft.

In der Bundesrepublik Deutschland wird viel demonstriert. Das ist gutes, demokratisches Bürgerrecht in einem freien Land. Aber diese Demonstrationen sind vielfach Ausdruck der Kritik, des Protests oder massiver Forderungen gegen andere. Sie vermitteln ein Bild der Negativität, des Pessimismus und der Feindseligkeit, das im Denken mancher Mitbürger bereits tiefe Spuren eingegraben hat.

Vor einigen Monaten traf ich einen Kardinal aus Brasilien, der vor 50 Jahren aus Koblenz stammend ausgewandert ist. Nach vielen Jahrzehnten war er zum ersten Mal wieder hier in Deutschland. Da fragt man ihn natürlich, was ihm aufgefallen ist. Er hat mir in seiner freundlichen Art viel erzählt. Aber dann schaute er mich an - bedauernd und besorgt - und sagte: "Mir fällt auf, die Menschen lachen zu wenig, und es gibt zu wenig Kinder!" Da haben Sie in einem knappen Satz die Begründung, weshalb ich Ihrer Einladung gerne gefolgt bin, weshalb ich mich an dieser Kundgebung, an dieser Demonstration für die Familie gerne beteilige.

Wer Ja sagt zur Familie, der sagt Ja zu seinem Leben, der glaubt an die Zukunft, der sagt Ja zur Mitmenschlichkeit, zur Partnerschaft und Solidarität.

Seit nunmehr 60 Jahren fühlt sich der Deutsche Familienverband „der Familie verpflichtet". Er tut damit einen Dienst nicht nur für die Interessen und den Schutz der Familie, sondern für unser Gemeinwesen.

Denn die Familie ist das Fundament unserer Gesellschaft und unseres Staates. Als Lebens- und Erziehungsgemeinschaft ist sie der erste und wichtigste Ort individueller Geborgenheit und Sinnvermittlung.

Deshalb ist die Frage berechtigt, was tut die Gesellschaft, was tut der Staat, was leistet die Politik für die Familie?

Ich weiß, daß nach anderthalb Jahrzehnten sozialer Vernachlässigung und politischer und rechtlicher Bevormundung der Familien auch heute noch nicht alle Erwartungen erfüllt sind, die sich an die Politik der von mir geführten Bundesregierung gerichtet haben. [...]

Ich weiß und will es offen aussprechen, daß die noch von der früheren Bundesregierung beschlossene generelle Kindergeldkürzung, daß die im letzten Jahr notwendig gewordenen Einschränkungen beim Mutterschaftsgeld und bei der Ausbildungsförderung viele Familien hart betroffen haben.

Aber ohne die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte und ohne unsere Maßnahmen zur Wiederbelebung unserer Wirtschaft wäre auch für die Zukunft jede Möglichkeit verbaut, für die Familien das Notwendige zu tun. Trotz aller Schwierigkeiten hat die Bundesregierung wichtige Entscheidungen getroffen, die den Vorrang der Familie unterstreichen:

Wir haben die Zahlung des Mutterschaftsgeldes an alle Frauen ab 1.1.1987 beschlossen. Die bisherige Regelung, nach der nur erwerbstätige Frauen Mutterschaftsgeld erhalten, benachteiligt die Mütter, die zugunsten der Familie auf ihren Beruf verzichtet haben. Sobald es finanzierbar ist, werden wir das Mutterschaftsgeld zu einem Erziehungsgeld für Mütter und Väter ausbauen.

Die kritische Finanzlage junger Familien werden wir durch eine Neuordnung des Familienlastenausgleichs verbessern. Für uns gilt der Grundsatz: Wer Kinder großzieht, muß steuerlich spürbar entlastet werden. Dies wird bei der geplanten Reform der Lohn- und Einkommensteuer in einer besonderen familienpolitischen Komponente mit Vorrang zum Ausdruck kommen.

Ich füge zum Zeitplan hinzu, daß wir in den nächsten Wochen sehr intensiv über dieses große Gesetzgebungswerk beraten. Mein Ziel ist: bis zum November nach Anhörung der Verbände die Regierungsvorlage im Kabinett zu verabschieden und Ende des Jahres die gesetzgebenden Körperschaften damit zu befassen, die dann bis Sommer nächsten Jahres die gesamte Steuernovellierung verabschieden werden.

Wir haben zugesagt, und dabei bleibt es, daß die familienpolitische Komponente - ich finde, es ist ein scheußliches Wort -, daß der Anteil für Familien mit Kindern ein entscheidender Anteil sein wird. Ich füge hinzu, daß die Entlastung der Familien nicht nur über die steuerliche Seite stattfinden kann, sondern auch über den Haushalt, über Kindergeld und anderes, weil ja einer Reihe von Familien mit Kindern mit steuerlichen Maßnahmen nicht zu helfen ist. Dort müssen Regelungen über das Kindergeld oder in anderer Form gefunden werden.

Gehen Sie bitte davon aus, wie immer die Termine laufen werden für den gesamten steuerlichen Entlastungskalender, das, was die Familien betrifft, wird zum 1.1.1986 in Kraft gesetzt, das heißt also zum frühest möglichen Termin.

Auch im Rentenrecht hat die Bundesregierung wichtige Vorentscheidungen getroffen. Die Wartezeit in der Rentenversicherung ist von 15 auf 5 Jahre herabgesetzt worden. Dadurch können heute Millionen von jungen Frauen mit einem eigenen Rentenanspruch in die Ehe gehen.

Aber dies ist nur ein erster Schritt. Gerade im Rentenrecht wird deutlich, daß die Leistung der Mütter gegenüber nahezu jeder Art von Erwerbstätigkeit noch immer benachteiligt wird. Der wichtigste Dienst in unserer Gesellschaft, die Arbeit der Mutter, muß auch im Rentenrecht seine verdiente Anerkennung finden. Deshalb werden wir Kindererziehungszeiten als rentensteigernd berücksichtigen, sobald es die Finanzlage zuläßt. Wir können das Opfer einer Mutter, wir können ihr Ja zum Kind, für die Erziehung von Kindern nicht finanziell entgelten. Aber wer Ja sagt zu Kindern, der darf nicht bestraft, sondern muß ermutigt und anerkannt werden.

Meine Damen und Herren, die Familie hatte in den zurückliegenden Jahren Grund zu der Sorge, Politik und Zeitgeist wollten sie zunehmend in ein soziales Abseits abdrängen.

Dem stellt die Bundesregierung ihr klares Bekenntnis für die Familie entgegen. Ohne eine gesicherte Zukunft der Familien hätte der Generationenvertrag der sozialen Sicherung - Inbegriff der Solidarität in unserem Land - keinen Bestand.

Ohne eine gesicherte Zukunft der Familie als Lebensgemeinschaft würden die Menschen ausgeliefert an die Anonymität der großen Kollektive.

Und ohne die Werte und Tugenden, auf denen die Familie gründet, würde das soziale Klima in unserem Land zunehmend von Egoismus, Kälte und Rücksichtslosigkeit bestimmt.

Damit, meine Damen und Herren, bin ich bei einem Thema, das mir für eine Gesellschaft mit menschlichem Gesicht - gerade auch im Blick auf die Familie - besonders wichtig ist: Ich meine die Wertschätzung und Achtung der Familie jenseits des Finanziellen und Materiellen. Familienpolitik im wohlverstandenen Sinne muß mehr sein als das, was der Staat mit Geld, Gesetzen und Behörden für die Familien leisten kann.

Unsere Wertschätzung für die Familie kommt nicht in der Höhe des Kindergeldes zum Ausdruck. Denn auch unter den besten Voraussetzungen wird es nie möglich sein, Eltern materiell zu entgelten, was sie an Verantwortung und Verzicht, an Pflichten und Lasten für ihre Kinder auf sich nehmen.

So wichtig die ökonomischen Existenzvoraussetzungen auch sind - entscheidend ist die geistig-moralische Grundhaltung, die unsere Einstellung zu Ehe, Familie und Kindern prägt.

Entscheidend ist unsere Einstellung zu den Lebensprinzipien, die für Ehe und Familie grundlegend sind: Liebe, Treue und Vertrauen. Oder, um es ganz einfach zu sagen: Entscheidend ist, ob wir unser Glück suchen in der Gemeinsamkeit des „Wir" oder in der Durchsetzung nur des eigenen „Ich".

Wenn es berechtigt ist, in unserem Land von einer „Krise der Familie" zu sprechen, dann sehe ich hier die wesentliche Ursache.

Der dramatische Geburtenrückgang, die wachsende Scheidungshäufigkeit, die Tatsache, daß inzwischen die Hälfte aller Ehen ohne Kinder bleibt oder sich nur für ein Kind entscheidet, sind unübersehbare Warnsignale.

Ich habe keinen Zweifel daran, daß diese Entwicklung durch die Politik der letzten anderthalb Jahrzehnte, durch die materielle Vernachlässigung und die rechtliche Bevormundung der Familien, mitbeeinflußt worden ist. Und ich weiß, daß zu dieser Entwicklung auch soziale Bedingungen wie die zunehmende Berufstätigkeit junger Frauen beigetragen haben.

Aber die persönliche Einstellung der Menschen zur Ehe, zur Familie und zu Kindern wird nur zum geringen Teil von Faktoren geprägt, die der Staat beeinflussen kann.

Prägender sind gerade hier das geistige und soziale Umweltklima, Orientierungsmuster des vorherrschenden Zeitgeistes und vor allem die Erfahrungen, die Erziehung und das Vorbild, die den jungen Menschen im eigenen Elternhaus begegnen.

Aber es führt zu nichts, den Zeitgeist anzuklagen: seine Radikalisierung des „Ich" und der Individualität, sein Emanzipationsversprechen, das die Menschen nicht wirklich frei, sondern oft nur einsam gemacht hat, seine Mißachtung traditioneller Werte und Tugenden.

Der Zeitgeist ist flüchtig, er läßt sich nicht verantwortlich machen, und viele, die bisher in sein Horn bliesen, spielen heute schon wieder eine ganz andere Melodie.

Einige Nachdenkliche aus der Generation jener, die noch vor wenigen Jahren Ehe und Trauschein für hoffnungslos altmodisch erklärten, fragen sich inzwischen, ob es zum Glück führt, „wenn Liebe zur Beziehung wird".

Und ausgerechnet unter jenen Frauen, die zugunsten einer beruflichen Karriere auf eine Ehe und Kinder verzichtet haben, sind viele, die oft noch als Vierzigjährige Sinnerfüllung in der Sorge für ein eigenes Kind suchen.

Trotz der Selbstverwirklichungs-Ideologie des Zeitgeistes bleibt die Familie als Lebens- und Erziehungsgemeinschaft der erste und wichtigste Ort menschlicher Geborgenheit und Sinnvermittlung.

Aber Familienbewußtsein kann nur in der Familie selbst wachsen. Es kann nicht von außen her verordnet werden.

Deshalb muß sich die entscheidende Anfrage an uns selbst richten. Wir müssen uns fragen, ob wir als Eltern unserer Erziehungsaufgabe gerecht geworden sind, ob wir unsere Kinder zu selbständigen Menschen erzogen haben oder ob wir ihnen nur einen Schonraum geboten und sie versorgt haben.

Ich stelle diese Frage, weil zeitkritische Beobachter mit Besorgnis registrieren, daß sich die elterliche Fürsorge in vielen Familien auf materielle Versorgung verkürzt, daß immer mehr Eltern mit materieller Großzügigkeit abgelten wollen, was sie ihren Kindern an Zuwendung und Zeit, an Autorität und Vorbild schuldig bleiben.

Die Anspruchshaltung ist doch nicht von den Kindern erfunden worden, sie wird ihnen von den Eltern vorgelebt.

Deshalb erinnert das Grundsatzprogramm meiner Partei - wie ich finde - mit gutem Grund daran, daß jedes Kind ein Recht auf seine Familie, auf persönliche Zuwendung, Begleitung und Liebe der Eltern hat, denn die Entwicklung des Sprach- und Denkvermögens, personale Eigenständigkeit und Gemeinschaftsfähigkeit, Wert- und Verantwortungsbewußtsein hängen wesentlich von der Erziehung in der Familie ab.

In einer Umfrage bei Jugendlichen zwischen 14 und 21 Jahren wurde unlängst festgestellt, daß nahezu 80 Prozent erklären, es gehöre zu ihren wichtigsten Lebenszielen, Kinder zu haben und ein glückliches Familienleben zu führen.

Das ist ein erfreulicher Hinweis auf die ungebrochene Geltung und Wertschätzung der Familie gerade in der nachwachsenden Generation.

Aber es muß uns nachdenklich machen, daß gleichzeitig 50 Prozent der befragten Jugendlichen erklärten, sie wollten einmal anders leben als ihre Eltern.

Und Grund zur Nachdenklichkeit gibt auch die Beobachtung, daß sich junge Frauen vor der Geburt ihres ersten Kindes im Durchschnitt mehr Kinder wünschen als danach. Soziologen und Psychologen sprechen in diesem Zusammenhang vom sogenannten „Erst-Kind-Schock".

Bisher war bei der Geburt eines Kindes von einem „freudigen Ereignis" die Rede.

Sollten wir inzwischen so verwöhnt, so egozentrisch, so wenig belastbar geworden sein, daß junge Familien mit der Verantwortung und den Einschränkungen nicht fertig werden, die mit der Geburt eines Kindes von jeher verbunden sind? Ich kann das nicht glauben.

Wir sind das Land mit der niedrigsten Geburtenrate in der Welt. Weshalb eigentlich? Ist es denn schwieriger oder entbehrungsreicher, in unserem wohlhabenden Land Kinder großzuziehen, als in anderen, vergleichbaren Ländern? Ich glaube das nicht.

Aber wer ins Ausland fährt, zum Beispiel nach Frankreich oder Italien, wird feststellen, daß man dort im allgemeinen kinderfreundlicher ist als hierzulande, daß auf die Bedürfnisse von Familien mit Kindern mehr Rücksicht genommen wird, daß man in Hotels und sonst wo entsprechend eingerichtet ist, daß man Familien und Kinder freundlich willkommen heißt, daß das Lachen und Spielen von Kindern nie als Störung empfunden wird.

Hier könnten wir uns wirklich ein Beispiel nehmen: Hausbesitzer und Hausbewohner etwa, wenn es darum geht, eine Wohnung an eine Familie mit mehreren Kindern zu vermieten, Stadtplaner, wenn es um Spiel- und Entfaltungsraum für Kinder und Jugendliche geht.

Früher wurde in diesem Zusammenhang oft auf die Reichsgaragenordnung und auf die fehlenden Vorschriften für die Größe von Kinderzimmern hingewiesen.

Aber der eingezäunte Abenteuerspielplatz mit Benutzungsordnung ist eben nur ein kümmerlicher Ersatz für den Freiraum, den Kinder und Jugendliche in unserer verwalteten Welt brauchen.

Für Kinderfreundlichkeit zu sorgen, kann nicht allein Sache des Staates sein.

Wir alle müssen das Unsere dazu tun. Und so meine ich eben, daß auch die Kinderfreundlichkeit zuerst im eigenen Elternhaus erfahrbar sein muß.

Im letzten Jahr haben die Deutschen für Babynahrung knapp 700 Millionen DM ausgegeben - für Haustiernahrung rund 1,5 Milliarden DM!

Ich bin nicht gegen Haustiere. Ich gönne sie jedem, etwa einer Rentnerin, die nur noch wenig Kontakte mit Menschen hat. Aber jeder von Ihnen spürt, daß diese zwei Zahlen über mehr Auskunft geben als bloß über statistische Größenordnungen.

Lassen Sie mich es noch einmal sagen: So wichtig es ist, daß wir den Familien entsprechende materielle Voraussetzungen schaffen - wichtiger noch ist unsere persönliche Einstellung zur Familie, zu Kindern.

Wir alle wollen doch eine Zukunft, in der es sich zu leben lohnt, die uns die Chance gibt für persönliches Glück, für Freude und auch für Fröhlichkeit. Ist das denn überhaupt denkbar ohne die Kinder, ihr Lachen, ihre Unbesorgtheit, und ohne eine Jugend, die mitmacht und allmählich in die Verantwortung mithineinwächst?

Ich bin der Überzeugung, daß eine Renaissance der Familie nur von der Familie selbst ausgehen kann. Deshalb erinnere ich an den Erziehungsauftrag der Eltern, an ihre Pflichten und ihre Verantwortung, an ihr Beispiel und ihre Autorität.

Die Familie ist das Zentrum kindlicher Persönlichkeitsentfaltung; in ihr vollzieht sich die geistig-moralische und die ethisch-religiöse Lebensorientierung der Kinder.

Die geistig-moralische Erneuerung, die Gesellschaft mit menschlichem Gesicht wird es nur dann geben, wenn sie in der elterlichen Erziehung mit vorbereitet wird.

Personales Leitbild einer Gesellschaft mit menschlichem Gesicht ist der mündige und selbständige Bürger.

Selbständigkeit meint hier die Fähigkeit, für sich selbst zu stehen und einzustehen, sein Leben zu verantworten. Wenn man mit solchen Menschen spricht, hat man es wirklich mit ihnen selbst zu tun, nicht nur mit den Repräsentanten eines Kollektivs oder des Zeitgeistes.

Aber in diesem Sinne selbständig wird ein Mensch nur dann, wenn er in sich selbst und an Normen und Werten einen Halt findet, die er verinnerlicht hat, weil sie ihm von seinen Eltern vorgelebt wurden.

Dieses Beispiel und Vorbild stellt zugleich die Verbindung zu unserer geistigen und kulturellen Tradition her, die ihrerseits ein wesentlicher Teil unserer nationalen Identität und Gemeinsamkeit ist.

Als Lebensgemeinschaft von Familien, als Heimat, als Staat, der sich begreift als Träger eines kulturellen und geschichtlichen Erbes, bleibt unser Vaterland unverwechselbar auch dann, wenn wir Teil eines größeren, politisch geeinten Europa werden. Europa zu einigen ist der historische Auftrag an unsere Generation.

Wir können dazu umso selbstbewußter unseren Beitrag leisten, je sicherer wir uns unserer eigenen Identität als Volk, als ein Land sind, das seinen Menschen Heimat ist.

Die Kinder, die heute hier in Kiel geboren werden, erfahren die prägenden Grundvoraussetzungen ihres Lebens in der Gemeinschaft mit der Mutter, dem Vater, den Geschwistern, den Großeltern, in der Gemeinschaft mit den Leuten im Haus, in der Straße, im Stadtteil und später in ihrer ganzen Stadt.

Das ist die Geborgenheit ihres „Zuhause" - das ist ihre Heimat.

Es ist kein Zufall, daß dieses schöne deutsche Wort „Heimat" in keine Fremdsprache übersetzbar ist. Es sagt uns mehr als die Postleitzahl und es bedeutet uns mehr als die Ansammlung von Häusern, Straßen und Betrieben: es meint den Dialekt, die Kultur, das Brauchtum, die Landschaft, die Tradition, die Geschichte.

Die Familie, der verläßlichste, der sicherste, der emotional stärkste Bezugspunkt unserer menschlichen - auch unserer bürgerlichen - Existenz muß wieder Mittelpunkt unseres staats- und gesellschaftspolitischen Denkens werden.

Wir leben in einer schwierigen Zeit. Wir stehen vor großen Problemen, vor entscheidenden Herausforderungen. Aber diese Herausforderungen werden nicht von jenen gemeistert, die Pessimismus verbreiten und resignieren, sondern von jenen, die Mut haben, die sich etwas zutrauen, von Menschen also, die an unsere Zukunft glauben, die wissen, wofür und für wen sie leben.

So wie es jene Mütter und Väter wußten, die nach der Katastrophe des letzten Krieges förmlich aus den Kellern herauskrochen, um ihren Kindern wieder ein Zuhause zu schaffen, sie zu ernähren und das Land wieder aufzubauen. Sie alle haben damals nicht gefragt: Wer hilft uns? - sondern: Was können wir tun?

Wir sind doch die Kinder und Enkel dieser Gründergeneration - sollten wir schwächer sein als jene, die unter so viel schwierigen Bedingungen so viel geleistet haben, die unser Land wieder aufgebaut, die ihm wieder Ansehen und Freunde in der Welt geschaffen haben.

Ich kann das nicht glauben.

Und deshalb habe ich die Bitte, helfen Sie mit, daß nicht Pessimismus, sondern der Glaube an die Zukunft unseres Landes unser Handeln bestimmt. Das ist das Beste, das wir für die Familien, das wir für unsere Kinder tun können. Es ist unsere Pflicht in der Solidarität der Generationen.

Wir haben eine Chance für unsere gute Zukunft, wenn wir nur wollen.

Quelle: Bundeskanzler Helmut Kohl: Reden 1982-1984. Hg. vom Presse- und Informationsamt der Bundesregierung. Bonn 1984, S. 365-375.