28. Februar 1994

Rede bei einer Soiree zum 250. Geburtstag von Meyer Amschel Rothschild im Jüdischen Museum in Frankfurt am Main

 

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

Exzellenzen - und vor allem:

sehr verehrte Damen und Herren aus der Familie Rothschild,

ich freue mich, heute Abend mit Ihnen gemeinsam den 250. Geburtstag von Meyer Amschel Rothschild feiern zu können. Dieser Geburtstag fällt zusammen mit dem 1200jährigen Jubiläum der Stadt Frankfurt am Main, deren Bürgerinnen und Bürgern ich die herzlichen Grüße der Bundesregierung überbringe.

Seit meinem Studium an der hiesigen Universität fühle ich mich dieser Stadt und ihren Menschen besonders verbunden. Frankfurt nimmt einen hervorragenden Platz in der deutschen Geschichte ein: als politisches und kulturelles Zentrum, wegen seiner urbanen Weltoffenheit - und in der Gegenwart nicht zuletzt als einer der großen Finanzplätze in der Welt. Hier wird auch die künftige Europäische Zentralbank ihren Sitz haben; dem Charme Frankfurts konnten selbst meine Kollegen in London nicht widerstehen.

Das Zusammentreffen beider Jubiläen erinnert uns daran, wie viel Frankfurt am Main, wie viel unser Land seinen Bürgerinnen und Bürgern jüdischen Glaubens verdankt. Stellvertretend für viele nenne ich Ludwig Landmann, der von 1924 bis 1933 hier als Oberbürgermeister amtierte; Martin Buber, der hier an der Universität lehrte und zugleich in der Erwachsenenbildung tätig war und den ich noch als Student erleben durfte: und nicht zuletzt natürlich Meyer Amschel Rothschild, dessen Geburtstag wir heute Abend festlich begehen.

Für mich bedeutet diese Feierstunde zugleich ein Wiedersehen mit Lord Jacob Rothschild, den ich - ebenso wie Frau Beatrice Rosenberg und Baron Eric de Rothschild - als Teilnehmer des von Ihnen, lieber Lord Weidenfeld, und der Bertelsmann-Stiftung seit einigen Jahren gestalteten deutsch-jüdischen Dialogs in Bonn kennenlernen durfte.

Ich möchte auch an Nahum Goldmann erinnern, dem Frankfurt - wie er in seinen Memoiren schrieb - zur „zweiten Heimat" wurde. Hier verbrachte er viele glückliche Jahre seiner Kindheit und Jugend.

Der Ort, an dem wir heute zusammenkommen, ist mir noch in lebhafter Erinnerung: Am 9. November 1988 wurde dieses Museum in den Räumen des Rothschild-Palais eröffnet. Ich habe damals, 50 Jahre nach der Pogromnacht von 1938, in meiner Ansprache hervorgehoben, dass die Geschichte der Juden in Deutschland Teil der gesamten deutschen Geschichte ist und nicht nachträglich aus ihr herausgelöst werden darf. Mehr noch: Sie ist ein besonders wichtiger und wertvoller Bestandteil unserer Geschichte. Dies sollten wir trotz aller Verbrechen, die zwischen 1933 und 1945 von der nationalsozialistischen Barbarei begangen wurden, nicht vergessen. Auch Angehörige der Familie Rothschild hatten unter der Verfolgung zu leiden.

Die Feier des 250. Geburtstags von Meyer Amschel Rothschild ruft uns einmal mehr ins Gedächtnis, welche enormen Energien, welche Dynamik, welche schöpferischen Kräfte durch die Emanzipation der Juden freigesetzt wurden. Ich erinnere hier in Frankfurt vor allem an den freiheitlichen Patriotismus eines Manns wie Gabriel Riesser, des Vizepräsidenten der Nationalversammlung in der Paulskirche.

Die Emanzipation ermöglichte nicht nur den sozialen und wirtschaftlichen Aufstieg von großartigen Persönlichkeiten wie Meyer Amschel Rothschild, sondern führte auch zu einem einzigartigen Aufblühen von Mäzenatentum, gemeinnützigen Stiftungen und philanthropischen Einrichtungen, für die es gerade hier in Frankfurt so viele grandiose Beispiele gibt. In diesem Engagement drückt sich eine auf langer jüdischer Tradition beruhende Sozialethik aus, für die Mildtätigkeit und Gerechtigkeit, Nächstenliebe und Bürgersinn untrennbar zusammengehören.

Meyer Amschel Rothschild selber hatte erfahren, was ein Leben in ärmlichen Verhältnissen bedeutet. Er war im Ghetto aufgewachsen und hatte zunächst -wie seinerzeit alle Juden in Frankfurt - kein Bürgerrecht. Anfangs bescheidener Münzhändler, erwarb er sich das Vertrauen des damals reichsten deutschen Landesfürsten, des späteren Kurfürsten von Hessen-Kassel. Rothschild wurde einer seiner Hoffaktoren - eine besondere Auszeichnung - und gewann immer mehr an Bedeutung.

Was ihn so bedeutend macht, ist aber nicht allein sein Erfolg als Bankier. Stets war er darum bemüht, seinen Mitmenschen zu helfen und die Stellung seiner jüdischen Glaubensbrüder und -schwestern zu verbessern. So nutzte er seine Verbindung zu Reichskanzler Karl Theodor von Dalberg, seinerzeit für einige Jahre Großherzog von Frankfurt, um hier in dieser Stadt das Bürgerrecht für Juden und damit deren politische Gleichstellung zu erreichen.

Dieses weit über die eigenen Unternehmensinteressen hinausgehende Engagement für Mitmenschen und Gemeinwohl gehört zu den bewundernswerten Traditionen der Familie Rothschild bis auf den heutigen Tag. Ich möchte allen hier versammelten Mitgliedern der Familie Rothschild meinen großen Respekt dafür bekunden und Ihnen dafür danken, dass Sie diese Tradition von Generation zu Generation weiterpflegen.

1812 starb Meyer Amschel Rothschild - ein geachteter Mann, der seinen Söhnen ein florierendes Bankhaus - „florierend" ist wohl eine Untertreibung - hinterließ. Die fünf Söhne führten sein Lebenswerk weiter. Nur einer blieb in Frankfurt. Die anderen siedelten nach Paris, London, Wien und Neapel über und gründeten dort eigene Bankhäuser. Trotz der geographischen Entfernung hielten die Brüder Kontakt und unterstützten einander in schwierigen Phasen. So entstand ein europäisches Familienunternehmen - sicher das erste seiner Art, sieht man von den gekrönten Häuptern einmal ab, in der Geschichte unseres Kontinents. Nach den Turbulenzen der napoleonischen Kriege leistete es durch kluge Investitionen - vor allem im Bereich der Verkehrsinfrastruktur und des Kommunikationswesens - einen bedeutenden Beitrag zu Frieden und Prosperität in Europa.

Der heutige Gedenktag weist weit über Deutschland hinaus. Wir würdigen Meyer Amschel Rothschild nicht nur als großen Sohn der Stadt Frankfurt am Main, sondern auch als einen hervorragenden Repräsentanten des europäischen Judentums. Seine Nachfahren leben schon seit dem vergangenen Jahrhundert vor, was wir durch die Einigung Europas erreichen wollen: Sie sind engagierte Bürger, Patrioten in ihrem jeweiligen Heimatland - und zugleich waren und sind sie geprägt vom Bewusstsein einer europäischen Gemeinsamkeit, die nationale Grenzen überwindet.

Diese Gemeinsamkeit ist die eigentliche Quelle, aus der Europa seine innere Kraft schöpft. Wir müssen diese Wahrheit wieder stärker ins allgemeine Bewusstsein rücken. Ich sage „wieder", denn vor dem Zeitalter nationalstaatlicher Rivalitäten war dieses Zusammengehörigkeitsgefühl selbstverständlich. Man begann zum Beispiel sein Studium in Oxford, setzte es in Bologna fort und ging dann nach Paris. Heute befassen wir uns mit komplizierten Dossiers, um diesen Zustand auch nur annähernd wiederherzustellen.

Natürlich ist die wirtschaftliche und monetäre Einigung Europas von herausragender Bedeutung, und wir Deutschen haben uns über das Vertrauen gefreut, das in der Entscheidung für Frankfurt am Main als Sitz der künftigen Europäischen Zentralbank zum Ausdruck kam. Aber auch dieses Werk wird nicht gelingen, wenn wir die politische Union Europas vernachlässigen. Fundament dieser Union ist die gemeinsame Überzeugung von der unveräußerlichen Würde jedes einzelnen Menschen, die zu achten und zu schützen Aufgabe von uns allen ist. Diese Überzeugung hat ihre Wurzel in der jüdisch-christlichen Tradition ebenso wie im Gedankengut der Aufklärung, die den Boden für die Emanzipation bereitete.

Ich wünsche mir, dass von der heutigen Feierstunde diese für unser aller Zukunft entscheidende Botschaft ausgeht und möglichst viele Menschen erreicht - eine Botschaft des Friedens, der Weltoffenheit und des Miteinanders.

Jene unter Ihnen, die von weither nach Deutschland und in diese Stadt gereist sind, heiße ich besonders herzlich willkommen. Ich hoffe, dass Sie in Zukunft möglichst oft hier sein werden. Mögen Sie den Eindruck mit nach Hause nehmen, dass wir im vereinten Deutschland bereit sind, als europäische Deutsche und deutsche Europäer unsere Verantwortung in der Welt wahrzunehmen.

Quelle: Bulletin des Presse- und Informationsamts der Bundesregierung Nr. 22 (7. März 1994).