28. Juni 1996

Erklärung vor der Presse zum Abschluss der Gespräche zur weltwirtschaftlichen Entwicklung in Lyon

 

Meine Damen und Herren,

zunächst möchte ich die Gelegenheit wahrnehmen, unserem Gastgeber, Präsident Jacques Chirac, für die Gastfreundschaft in Lyon - einer wunderschönen Stadt, von der wir leider zu wenig sehen - zu danken.

Unsere Gespräche haben - das kann ich nach Ablauf der Jahre beurteilen - in einer ganz ungewöhnlich freundschaftlichen und offenen Atmosphäre stattgefunden. Ich kann bereits nach dem Wirtschaftsteil des Gipfels ein erfreulich positives Fazit ziehen. Bei unseren bisherigen Gesprächen standen vor allem folgende Themen im Vordergrund:

Erstens: die weltwirtschaftliche Lage und hier insbesondere das drängende Problem der Arbeitslosigkeit, verbunden mit einem Meinungsaustausch darüber, was die einzelnen Länder zu Hause tun,

Zweitens: die großen Chancen, aber vor allem auch die Herausforderungen, die sich mit dem Thema "Globalisierung der Märkte" verbinden,

Drittens: - eng damit verknüpft - die notwendige Stärkung der multilateralen Handelssysteme,

Viertens: die Lage der Entwicklungsländer und

Fünftens: die Situation in Rußland. Dieses Thema haben wir vor allem gestern abend beim Abendessen eingehend diskutiert.

Zu den weltwirtschaftlichen Perspektiven konnten wir erfreulicherweise feststellen, daß wir insgesamt allen Grund zur Zuversicht haben. Hierfür sprechen vor allem die günstigen wirtschaftlichen Grundbedingungen: niedrige Zinsen, Preisstabilität in vielen Ländern, die kräftige Expansion des Welthandels, wieder normalisiertes Wechselkursgefüge. Das wirtschaftliche Wachstum in Nordamerika ist erfreulich robust. In Japan ist unübersehbar, daß sich die Konjunktur erholt. Auch bei uns in Europa können wir nach Einschätzung der OECD in der zweiten Jahreshälfte mit einer wirtschaftlichen Erholung rechnen.

Für uns in Deutschland konnte ich darauf hinweisen, daß sich die Konjunkturaussichten verbessert haben. Gestützt wird dies durch moderate Tarifabschlüsse gekoppelt mit unserem Gesamtkonzept für mehr Wachstum und Beschäftigung. 1997 rechnen wir in Deutschland mit einem realen Wachstum von zwei Prozent bis 2,5 Prozent, nachdem wir in diesem Jahr etwa 3/4 Prozent erreichen werden.

Wir waren uns darüber einig, daß trotz positiver Konjunkturaussichten bei uns und in Europa die Arbeitslosigkeit unsere größte Herausforderung bleibt. Allein in der EU sind derzeit 18 Millionen Menschen arbeitslos und in Deutschland knapp vier Millionen. Das ist nicht akzeptabel. Deshalb müssen Investitionen und Arbeitsplätze absoluten Vorrang haben. Wir waren uns im G7-Kreis einig - dies ist auch für die Diskussion in der Europäischen Union wichtig -, daß jeder seine Hausaufgaben machen und im eigenen Land Voraussetzungen für mehr Beschäftigung schaffen muß.

Gegenüber meinen Kollegen habe ich noch einmal deutlich gemacht, daß wir unser Programm für mehr Wachstum und Beschäftigung Punkt für Punkt umsetzen werden. Zur gleichen Stunde, als wir hier getagt haben, hat der Deutsche Bundestag vier der entscheidenden Gesetze aus dem Paket der Bundesregierung in dritter Lesung mit klarer Mehrheit verabschiedet.

Wir werden in unserem Programm der Konsolidierung fortfahren. Wir werden alles tun, um die Arbeitsmärkte zu flexibilisieren. Hierauf zielen auch die von mir angesprochenen Gesetze. Wir werden die Staatsquote auf das Niveau vor der Wiedervereinigung zurückführen sowie Steuern und Abgaben senken. Ferner werden wir - das war aus den Berichten aller Kollegen sehr interessant, nicht zuletzt aus dem Bericht des kanadischen, des japanischen und des italienischen Kollegen - die sozialen Sicherungssysteme mit Blick auf die künftigen Herausforderungen und auf die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit umbauen.

Bemerkenswert war für mich, daß auch unsere Partner in der G7 wie wir in der Bundesrepublik neue Arbeitsplätze vor allem im Bereich des Mittelstandes und bei Existenzgründern sehen. Auch in anderen Ländern stellt sich das Problem: Wie können wir verstärkt Wagniskapital mobilisieren, etwa für junge Leute, die jetzt neu in die unternehmerische Verantwortung einsteigen?

Wir haben als einen weiteren Schwerpunkt unserer Gespräche das Thema der Globalisierung der Märkte und die damit verbundenen Fragen und Konsequenzen angesprochen. Wir waren uns - mit einigen Nuancen - einig, daß die Globalisierung vor allem große Chancen für eine sich weiterentwickelnde Weltwirtschaft bietet und daß wir darüber nicht lamentieren sollten, daß Globalisierung da ist, sondern daß wir uns den damit verbundenen Herausforderungen offensiv stellen.

Wir waren uns einig, daß die positive Wirkung der Globalisierung von den G7-Ländern vor allem verlangt, für offene Märkte einzutreten. Wir haben von deutscher Seite betont, daß die Industrieländer hier eine besondere Verantwortung haben und daß ein offenes Welthandelssystem allen Ländern - Industrieländern wie Entwicklungsländern - gleichermaßen große Zukunftschancen bietet. Der Gipfelprozeß hat in den vergangenen Jahren entscheidend zum Abschluß der Uruguay-Runde beigetragen. Deswegen ist es um so wichtiger, daß wir das multilaterale Handelssystem gemeinsam weiter stärken und die Liberalisierung voranbringen.

Ich habe in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, daß der weitere Aus- und Aufbau neuer, offener Volkswirtschaften und damit auch die Unterstützung der Reformbestrebungen in Mittel-, Ost- und Südosteuropa entscheidend davon abhängen, daß wir die Märkte bei uns und in der westlichen Welt für Produkte aus diesen Ländern öffnen.

Mit Blick auf die Stabilität der Währungsbeziehungen waren wir uns einig, daß hierfür eine stabilitätsorientierte Wirtschafts- und Finanzpolitik in jedem einzelnen Land die wichtigste Voraussetzung ist. Dies ist auch die zentrale Botschaft des Berichts, den uns die Finanzminister zu der Thematik vorgelegt haben. Der Bericht ist heute hier in Lyon veröffentlicht worden.

Ebenso konnten wir feststellen, daß seit dem Gipfel in Halifax wichtige Reformen der internationalen Finanzinstitutionen umgesetzt worden sind. Ich nenne zum Beispiel das verbesserte Frühwarnsystem, das neue Krisenverfahren beim IWF sowie die aufgestockten Reservemittel des Internationalen Währungsfonds.

Ein weiteres wichtiges Element ist die verbesserte Zusammenarbeit der Aufsichtsbehörden an den Finanzmärkten. Die Finanzminister haben hierzu konkrete Überlegungen und Vorschläge erarbeitet. Wir haben veranlaßt, daß dazu noch unter dem G7-Vorsitz von Präsident Chirac bis Ende dieses Jahres ein Bericht vorgelegt wird.

Zum Thema "Entwicklungsländer" konnten wir insbesondere für Südostasien und Lateinamerika - auch nach dem Bericht des japanischen Kollegen - erfreuliche wirtschaftliche Fortschritte feststellen. Wir halten es deshalb für richtig und wichtig, die bilaterale wie die multilaterale Entwicklungshilfe verstärkt auf die ärmsten Entwicklungsländer zu konzentrieren. Ebenso notwendig sind aber auch einerseits private Kapitalströme in diese Länder und die weitere Öffnung der Märkte in den Industrieländern andererseits.

Hinsichtlich zusätzlicher Finanzmittel für die ärmsten Länder ist und bleibt für uns eine faire Lastenteilung unabdingbar. Deutschland wird dazu auch in Zukunft seinen Beitrag leisten. Ich habe der Runde in diesem Zusammenhang eine Übersicht über alle unsere Hilfen für Mittel-, Ost- und Südosteuropa sowie im Bereich der Entwicklungshilfe unterbreitet. In dieser Liste ist ausdrücklich das ausgenommen, was wir im Blick auf die deutsche Einheit speziell im Sinne der damaligen Abmachung mit Michail Gorbatschow geleistet haben. Dies ist natürlich nicht diskutiert und von meinen Kollegen mit ebenso großem Interesse wie Schweigen zur Kenntnis genommen worden.

Wir haben auch intensiv über zusätzliche Anstrengungen der internationalen Gemeinschaft für die ärmsten Länder beraten. Diese Fragen werden in den zuständigen Gremien weiter geprüft, der Gipfel ist kein Entscheidungsgremium. Für eventuelle Goldverkäufe muß beim IWF eine Stimmenmehrheit von 85 Prozent erreicht werden. Wir sind bei unserer ablehnenden Position geblieben. Es wird sich beim IWF zeigen, ob die 85 Prozent der Stimmen zustande kommen oder nicht. Ich habe noch einmal unsere Haltung deutlich gemacht.

Rußland ist bei diesem Gipfeltreffen deutlich stärker einbezogen als noch im letzten Jahr in Halifax. Wir sehen darin ein wichtiges, positives Signal. Heute nachmittag werden wir die Gespräche mit Ministerpräsident Tschernomyrdin fortsetzen. Wir werden dabei Themen wie Umweltschutz, Reform der VN und nukleare Sicherheit behandeln. Darüber hinaus wird der russische Ministerpräsident auch über die politische und wirtschaftliche Lage in seinem Land berichten. Über die Ergebnisse dieser Gespräche von heute nachmittag und morgen früh werde ich Sie morgen dann gerne in einem Abschlußgespräch informieren.

Nach Abschluß der politischen Beratungen des Wirtschaftsgipfels gab Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl auf der Pressekonferenz am 29. Juni 1996 in Lyon folgende einleitende Erklärung ab:

Ich will zum Abschluß dieses Gipfels noch einmal Präsident Chirac und seinen Mitarbeitern, aber auch der Stadt Lyon, Herrn Bürgermeister Barre, einem alten Freund unseres Landes, und den Bürgerinnen und Bürgern von Lyon für die so freundschaftliche Aufnahme danken. In den vielen Jahren, in denen ich Gelegenheit hatte, an einem solchen Gipfel teilzunehmen, war selten eine so gastliche Aufnahme unter den Menschen in der Stadt zu finden. Dafür möchte ich mich ganz ausdrücklich bedanken.

Die politische Erklärung des Gipfels, die Präsident Chirac als Vorsitzender zu gleicher Zeit bekanntgibt, trägt den Titel: "Für eine Welt mit mehr Sicherheit, Stabilität und Zusammenarbeit". Darüber hinaus gibt es eine besondere Erklärung zu Bosnien.

Wir hatten ein großes Pensum an Gesprächen in einer sehr vertrauensvollen, ja freundschaftlichen Atmosphäre. Über die wirtschaftlichen Themen habe ich bereits berichtet. Seit gestern nachmittag haben wir über globale und regionale Fragen gemeinsam mit dem russischen Ministerpräsidenten gesprochen. Heute, zum Abschluß des Treffens, hatten wir ein intensives Gespräch mit dem Generalsekretär der Vereinten Nationen, dem Direktor des Internationalen Währungsfonds, dem Präsidenten der Weltbank und dem Generaldirektor der Welthandelsorganisation. Dabei stand vor allem die Frage weiterer Hilfe für die armen und ärmsten Länder im Vordergrund.

Ich möchte hervorheben, für wie wichtig ich es halte, daß wir mit der Teilnahme von Ministerpräsident Tschernomyrdin an diesen Gesprächen auf dem Weg von G 7 nach G 8 seit Halifax so weit vorangekommen sind.

Bei den globalen Themen möchte ich insbesondere unsere Diskussion und Entscheidung zum Thema "Terrorismusbekämpfung" erwähnen. Nach dem jüngsten Terroranschlag in Saudi-Arabien hat dieses Thema besondere Bedeutung erlangt. Auch wir in Deutschland haben das in den letzten 24 Stunden noch einmal erfahren. Das Thema wird nach meinem Dafürhalten von Jahr zu Jahr auch weiter an Bedeutung gewinnen.

Wir haben gemeinsam entsprechend unserem Engagement beim Gipfeltreffen in Sharm El-Sheikh unsere entschiedene Bereitschaft zur Zusammenarbeit bei der Bekämpfung des Terrorismus in allen seinen Formen bekräftigt. Eine wichtige Grundlage dafür bildet auch die Ministererklärung von Ottawa vom Dezember 1995. Wir haben nochmals über das dort vereinbarte Aktionsprogramm gesprochen. Wir waren uns einig, daß die Richtlinien so schnell wie möglich durchgesetzt werden müssen. Wir haben vereinbart, daß schon im Juli in Paris ein Treffen der Innen- und Außenminister sowie der für diese Themen der nationalen Politik insbesondere zuständigen Minister stattfinden soll, um Vorschläge zur weiteren Intensivierung der Zusammenarbeit bei der Bekämpfung des Terrorismus abzustimmen.

Wir haben ferner in Fortsetzung unseres Gesprächs von Halifax über die Reform und Stärkung des VN-Systems gesprochen. Generalsekretär Boutros-Ghali hat dazu berichtet.

Ein weiteres wichtiges Thema, vor allem auch für uns, war das Thema des globalen Umweltschutzes. Wie Sie wissen, habe ich vor einem Jahr in Halifax eine entsprechende Initiative eingebracht. Die Erklärung des Vorsitzenden enthält wichtige Ansätze für konkrete Schritte, etwa im Bereich des Klimaschutzes. Ich bin besonders erfreut darüber, daß wir uns im Kreise der Acht in der Nachfolge der Umweltkonferenz von Rio de Janeiro von 1992 hinsichtlich der Erwartungen an die Sondergeneralversammlung 1997 einig waren. Ob diese im Juni stattfindet oder mit dem Beginn der Generalversammlung im September zusammenfällt, ist noch offen. Darüber habe ich soeben noch einmal mit Generalsekretär Boutros-Ghali gesprochen. Ich möchte erreichen, daß die Industrienationen durch ihre Staats- und Regierungschefs bei dieser Konferenz selbst anwesend sind und daß wir bis dorthin noch eine Reihe von Überlegungen, an denen wir jetzt arbeiten, mit in diese Sondergeneralversammlung einbringen.

Zum Thema "nukleare Sicherheit" hatten wir im Anschluß an den Moskauer Gipfel zur Nuklearen Sicherheit einen nützlichen Austausch. Ich glaube, hier sind wir auf dem Weg zu guten Ergebnissen. Sie kennen unsere gemeinsamen Bemühungen um die Verbesserung der Sicherheit von Reaktoren in Osteuropa. Hier gibt es neue, besorgniserregende Signale aus anderen Teilen der Ukraine, denen wir sehr konkret nachzugehen haben. Auch die Bekämpfung des Nuklearschmuggels gehört in diesen Bereich.

Bei den internationalen Themen stand Bosnien im Mittelpunkt. Darüber wird gleich der Bundesaußenminister berichten.

Ein weiterer wichtiger Punkt war die Lage im Nahen Osten. Wir haben vor allem über die Situation nach der Wahl in Israel gesprochen. Wir waren gemeinsam der Auffassung, daß alles getan werden muß, um den Friedensprozeß fortzusetzen. Er ist nach unserer Meinung der einzige Weg für Sicherheit und Frieden für Israel und die Palästinenser und die Nachbarstaaten. In der Erklärung steht die Formulierung zu lesen: "Zu dieser Politik gibt es keine Alternative." Deshalb bestehen wir darauf, daß alle Parteien sich an die getroffenen Vereinbarungen halten und daß man alles tut, um in dieser etwas schwieriger gewordenen Situation so bald wie möglich die Verhandlungen wieder aufzunehmen. Wir waren uns auch einig, daß das Gebot der Fairneß es gebietet, der neuen israelischen Regierung die Chance zu geben, ihren deutlich erklärten Friedenswillen unter Beweis zu stellen.

Bei dem abschließenden Gespräch mit den Chefs der wichtigsten internationalen Organisationen haben wir vor allem über die Frage der Effizienz der Entwicklungshilfe und über eine Verbesserung der Koordination zwischen den einzelnen Institutionen gesprochen. Dabei stand Afrika und die sich verschlechternde Situation des Kontinents im Mittelpunkt. Wir waren übereinstimmend der Meinung, daß wir das Menschenmögliche tun müssen, um zu helfen, aber daß dies nur einen kleinen Beitrag zur Lösung der Probleme darstellen kann und daß die entscheidende Anstrengung von den betroffenen Ländern selbst erbracht werden muß.

Ich habe in diesem Zusammenhang auf viele private Initiativen aus Deutschland für Afrika in den letzten Jahren hinweisen können. Ich habe auch die Partnerschaft zwischen Rheinland-Pfalz und Ruanda erwähnt, wo der Bürgerkrieg leider nahezu alles zerstört hat, was in mühsamer Arbeit und mit großen Investitionen und Hilfen aus Deutschland aufgebaut wurde. Natürlich gehört es zu solchen Erfahrungen, daß sie den Willen zur Hilfe auch in unserem eigenen Land nicht gerade beflügeln.

Wir haben zum Abschluß Grund, unseren französischen Freunden für die Begegnungen hier in Lyon zu danken. Der Austausch über alle Fragen war sehr nützlich. Wenn man vernünftige Erwartungen an ein solches Gipfeltreffen stellt, kann man sagen: Dies war ein besonders gelungener Versuch, in offenen Gesprächen wichtige Probleme nicht nur anzusprechen, sondern auch ein Stück Abhilfe zu schaffen.

 

Quelle: Bulletin der Bundesregierung. Nr. 59. 12. Juli 1996.