29. Juni 1984

Rede vor der Max-Planck-Gesellschaft in Bremen

 

Sehr verehrter Herr Bundespräsident,
Herr Bürgermeister,
meine Herren Präsidenten der Max-Planck-Gesellschaft,
meine sehr verehrten Damen und Herren!

Ich darf mich bei Ihnen sehr herzlich bedanken, Herr Professor Lust, für die freundliche Einladung und die Chance, heute zu Ihnen zu sprechen, zu Ihnen, den Vertretern der Max-Planck-Gesellschaft, und den Gästen aus Anlaß der 35. Ordentlichen Hauptversammlung der Max-Planck-Gesellschaft heute in Bremen.

Meine Damen und Herren, ich hatte in den letzten Monaten mehrfach Gelegenheit, bei einer Tagung der Rektorenkonferenz und der Deutschen Forschungsgemeinschaft und vor knapp zwei Monaten aus Anlaß einer Halleneröffnung im Deutschen Museum Gedanken zum Thema Wissenschaft, Wirtschaft und den Möglichkeiten einer Verbesserung der Leistungsstruktur unseres Landes vorzutragen.

Ich begrüße es, daß ich heute die Chance habe, dieses Gespräch fortzusetzen mit den führenden Repräsentanten der deutschen Wissenschaft und Forschung.

Das erste, was ich dabei sagen möchte, ist ein Wort des Dankes, ein Wort des Dankes dafür, daß gerade die Max-Planck-Gesellschaft in einer sehr schwierigen Zeit, als Forschung oft genug ideologischen Verdächtigungen ausgesetzt war, Kurs gehalten hat.

Heute ist es besonders wichtig, daß wir unsere Kraft auf die Gewinnung der Zukunft ausrichten, und daß auch alle Ressourcen der Max-Planck-Gesellschaft dafür zur Verfügung stehen, denn es hat sich ja einiges geändert in den letzten Jahren. Und zu jener Änderung gehört auch, daß man wieder aufmerksame Zuhörer und Zustimmende findet für die These, daß wir uns wieder mehr mit der Zukunft und etwas weniger mit der Freizeit beschäftigen, obwohl dies ja eine schöne Sache ist, möglichst viel Freizeit zu gewinnen.

Sie haben sich in diesem Jahr in Bremen versammelt, einem Zentrum für zukunftsweisende Arbeiten auf dem Gebiet der Meeres- und Polarforschung sowie der Luft- und der Raumfahrttechnik. Ich glaube, das ist symbolisch für die Notwendigkeiten, die sich jetzt in der Bundesrepublik ergeben.

Wir sind gegenwärtig dabei, das Bewußtsein für die Bedeutung von Wissenschaft und Forschung für die Zukunft unseres Landes zurückzugewinnen. Die Gründe dafür liegen auf der Hand: Es sind die weltweit rasante Entwicklung auf allen Gebieten der Wissenschaft und Technologie, besonders auf dem Gebiet der Informationstechnologie mit ihren teilweise noch gar nicht absehbaren Möglichkeiten, die Bedeutung von technischen Spitzenprodukten für die Zukunftschancen unseres Landes auf weltweiten Wachstumsmärkten und damit auch für das Wirtschaftswachstum und die Beschäftigung in der Bundesrepublik Deutschland, und die Einsicht, daß wir als rohstoffarmes Land unsere Ressourcen an wissenschaftlicher Kreativität und technischem Können umfassend nutzen müssen.

Wie Politik und Wissenschaft zueinander stehen und was sie voneinander erwarten, das ist das Thema, das der heutige Anlaß erfordert. Aus politischer Erfahrung und aus Verantwortung für das Land möchte ich im Dialog mit der Wissenschaft vor allem drei Fragen in diese Diskussion einbringen:

Die erste ist die nach dem inneren Konsensus, den die technisch-industrielle Zivilisation braucht.

Neue Technologien werfen neue Probleme ihrer ethischen Bewältigung auf. Ich bin ganz sicher, daß Sie diese Erfahrung gerade auch in den letzten Tagen hier in Bremen in der eben erfreulicherweise beschriebenen Diskussion mit Schülern gemacht haben. Darf der Mensch alles tun, was er kann?

Die alte Frage nach Zielen und Maßstäben wissenschaftlich-technischer Entwicklung ist neu gestellt. Damit ist die herkömmliche Zweckbestimmung, daß Wissenschaft und Technik dem Menschen dienen, erweitert um die Frage seiner Selbstbehauptung, und dies im Zeitalter nuklearer Waffen mit einer ungeheuren Dynamik.

Die Besetzung dieses Themas und die Formulierung der Antwort Ideologen zu überlassen, die heute Flucht oder gar Ausstieg fordern, wäre für die Politik, aber nicht nur für den Politiker, sondern für jeden bewußt lebenden Staatsbürger, verantwortungslos. Und es wäre ganz gewiß für die Wissenschaft katastrophal. Dadurch geriete zuerst die Leistungsfähigkeit unserer Gesellschaft in Gefahr, dann der soziale Frieden und endlich auch die außenpolitische Handlungsfähigkeit, und damit auch die Chance, einen Beitrag zum Frieden zu leisten.

Die zweite Frage, die ich in diesem Zusammenhang stellen muß, ist nämlich die nach den technisch-wissenschaftlichen Voraussetzungen unserer Stellung im westlichen Bündnis.

Auf den Import des Wortes „Angst" in die amerikanische Politiksprache haben die Amerikaner mit dem Begriff des „Europessimismus" geantwortet. So unberechtigt, wie ich doch sagen möchte, in der Sache dieser Vorwurf ist, so sehr ist er als politisches Warnsignal ernst zu nehmen. Denn als einer der führenden Staaten der westlichen Welt hat die Bundesrepublik Deutschland hohe Verantwortung für die gemeinsame Sicherheit, also auch für die eigene Leistungsfähigkeit.

Für uns gibt es keine Alternative dazu, die wissenschaftlich-technische Herausforderung unserer stärksten Konkurrenten anzunehmen. Für die Bundesrepublik Deutschland muß der Satz gelten: Zweitbester zu sein, kann und darf uns nicht zufriedenstellen.

Damit aber stellt sich die dritte Frage: Wie ist die notwendige Spitzenleistung zu fördern und zu stabilisieren und zugleich mit unserem Bild vom Menschen und vom ethischen Maßstab der Politik zusammenzuführen?

Und gerade dies erfordert auch, den Dialog zwischen den technisch-naturwissenschaftlichen Disziplinen und den Geisteswissenschaften und Sozialwissenschaften stärker zu beleben. Wir haben uns die Frage vorzulegen, wie die Verbindung zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit gestaltet werden kann, so daß die Sprache, die Definition der Probleme und die Lösung der Probleme oder die Lösungsvorschläge dem Bürger im Alltag noch erfaßbar bleiben.

Die Bundesrepublik als moderner Kulturstaat steht hier vor wissenschaftlichen und politischen Anforderungen, die ein enormes Umdenken verlangen.

Verzicht auf Forschung und technischen Fortschritt, Desinteresse an der Wissenschaft kann sich unser Land nicht leisten. Es würde sonst seinen Rang als eine der führenden Industrienationen verlieren und damit nicht nur seinen Wohlstand, sondern auch seine soziale Stabilität aufs Spiel setzen.

Es gilt aber, mit dem Fortschritt in Technik und Wissenschaft verantwortungsbewußt umzugehen, mit wachem Sinn für die Gefahren und für die Chancen.

Für uns bleibt der Mensch als Geschöpf Gottes das Maß aller Dinge. In den Dienst des Menschen und seiner Kultur müssen und wollen wir die technischen und materiellen Möglichkeiten unserer Zivilisation stellen.

Wir sind ganz gewiß nicht wissenschaftsgläubig in dem Sinne, daß wir meinen, Forschung allein könne unsere existentiellen Probleme - auch die Sinnfragen - lösen. Und wir wissen, daß Wissenschaft und Forschung mitunter zu Ergebnissen führen, die mehr Probleme schaffen als lösen. Aber Denkverbote darf es nicht geben, gibt es nicht, denn die Ergebnisse von Wissenschaft und Forschung sind in ihrem Nutzen nicht steuerbar.

Die Frage der politischen Verantwortung stellt sich insbesondere dort, wo es um die praktische Verwertung solcher Resultate geht.

Es gilt, die Chancen zu nutzen, die uns Wissenschaft und Forschung bieten - mit dem Ziel, das menschliche Leben zu erleichtern und Leiden mildern zu helfen. Gerade in der Medizin wird ganz deutlich, daß Verzicht auf Forschung eine Unterlassungssünde wäre. In der aktuellen Diskussion um die Einschränkung von Tierversuchen muß dies mitbedacht werden. Und lassen Sie mich da noch ein sehr persönliches Wort anfügen: Ich bin ganz gewiß dafür, daß wir hier eine Linie der Vernunft finden, aber ich bin doch gelegentlich betroffen, wieviel Briefe mich erreichen im Blick auf Tierversuche und wieviel weniger Briefe mich erreichen im Blick auf Kinder in unserem Vaterland.

Die Bundesregierung hat im Rahmen ihrer verfassungsmäßigen Möglichkeiten bereits sehr viel dafür getan, daß wir bei der wissenschaftlichen und technischen Entwicklung gleichziehen können mit dem Besten, was es weltweit gibt. Wir haben nach langen Jahren der politischen Ungewißheit, auch des Zögerns, in der Energiepolitik eine klare Position bezogen: zugunsten der Nutzung aller zur Verfügung stehenden Energieformen.

Die Entwicklung von Spitzentechnologien wie Informationstechnik und Mikroelektronik treiben wir mit Nachdruck voran. Wir haben die Erforschung der Waldschäden auf den Weg gebracht und die Entwicklung umweltfreundlicher Technologien verstärkt. Wichtige Impulse geben wir mit dem Programm Fertigungstechnik, mit der Intensivierung der Materialforschung sowie mit der Förderung von Gen-Zentren zur Zusammenfassung bestehender Potentiale.

Auch für die Grundlagenforschung haben wir wichtige Beschlüsse gefaßt. Ich erinnere an unsere Entscheidung für das Großprojekt HERA in Hamburg.

Wir geben in der Bundesrepublik Deutschland jährlich viele, viele Milliarden DM für Forschung und Entwicklung aus. Bezogen auf das Bruttosozialprodukt liegen wir mit dieser Summe ganz vorne in der Welt. Der Haushalt des Bundesforschungsministers wie auch der Haushalt der Max-Planck-Gesellschaft hatten dabei in den vergangenen Jahren Zuwachsraten, die über der Durchschnittsrate des Bundeshaushalts lagen.

Doch Forschungspolitik - und dies will ich betonen - ist mehr, so wichtig das Geld ist, als die Bereitstellung finanzieller Mittel.

Forschung braucht ein günstiges Klima, braucht Atmosphäre, braucht Freiraum, braucht Vertrauensvorschuß. Dazu gehören auch die Unabhängigkeit und die Eigenständigkeit unserer Forschungsinstitutionen. Der Erfolg der Max-Planck-Gesellschaft beruht nicht zuletzt, das ist meine feste Überzeugung, auf ihrer privatrechtlichen Organisationsform, die trotz weitgehend öffentlicher Finanzierung den Freiraum für die autonome Bestimmung der Forschungsziele und der Methoden sichert.

Wir setzen in der Bundesregierung mit unserer Forschungspolitik auf Eigeninitiative und Leistungsbereitschaft. Der Staat kann, der Staat soll den Rahmen setzen, soll Anreize bieten. Und diese sollten insbesondere dazu beitragen, die Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Praxis zu fördern. Das gilt für die Naturwissenschaften ebenso wie für die Geisteswissenschaften. Forschung ist Vorstoß ins Unbekannte, Forschung stellt Fragen, die das Bekannte überschreiten, sie braucht für die Antwort unermüdlichen Fleiß und sie sucht weiterführende Lösungen. Ich glaube, daß es für die Forschung entscheidend auch auf die Begabung, den Spürsinn und die persönliche Begeisterung des Forschers ankommt - ungeachtet des heute durchweg erforderlichen finanziellen Aufwandes, der Abhängigkeit von Großgeräten und der Notwendigkeit von Teamarbeit. Individualität und Freiheit sind und bleiben unentbehrliche Elemente des Forschungsprozesses.

Auch für den Standard der Forschung in unseren Hochschulen kommt es auf diese Grundeinstellung an, auf die Grundeinstellung derer, die dort lehren und forschen, auf ihre Aufgeschlossenheit im Umgang miteinander, auch auf die Offenheit für Ideen und Anfragen etwa von Studenten und jungen nachwachsenden Wissenschaftlern.

Jeder ist wichtig, der sich an seinem Platz und nach seinen Fähigkeiten bewährt. Aber gerade in Wissenschaft und Forschung brauchen wir Vordenker und Vorbilder, brauchen wir eine Leistungselite, die sich selbst den höchsten Maßstäben aussetzt und die an sich selbst vor allem höchste Ansprüche stellt. Wer hier seine Dienststunden zählt, hat offenbar Zeit zu verlieren. In der Wissenschaft genügt nicht Subsistenz, sie benötigt Substanz.

Dafür brauchen wir bei den Hochschulen mehr Wettbewerb, mehr Vielfalt, breiteren Spielraum zur Eigeninitiative, größere Durchlässigkeit für Talente und für Hochbegabte.

Wenn ich dies hier ausspreche, heißt das, selbstkritisch die Anfrage an die Politik zu richten, und zwar nicht nur an eine parteipolitische Richtung, sondern an alle, die Verantwortung getragen haben und tragen, ob das gegenwärtig geltende Hochschulrecht diesen Anforderungen auch nur annähernd entspricht. So wie ich die Frage formuliere, wird offenkundig, daß ich glaube, hier muß einiges geschehen.

Die Öffnung unserer Hochschulen und die Erweiterung der Studienchancen für mehr junge Menschen war richtig. Ob auch die unübersehbare Tendenz zum Absenken der Anforderungen, des Niveaus für das Abitur richtig war, ist füglich zu bezweifeln. Die Tatsache, daß wir am vergangenen Dienstag auf dem europäischen Gipfel in Fontainebleau über die Anerkennung der europäischen Diplome und Zertifikate miteinander sprachen und daß bei der Vorbereitung für dieses Gespräch - und wir wollen hier sehr rasch weiterkommen - sich dann eben die Frage stellt, wer alles in Europa das durchschnittliche deutsche Abitur noch anerkennt oder nicht, ist bezeichnend für den Standard unseres Abiturs in der Bundesrepublik Deutschland.

Chancengleichheit für alle und Zulassung zum Studium für viele dient aber dem Allgemeinwohl ganz gewiß am besten, wenn gleichzeitig nicht die Pflicht aus den Augen verloren wird, Hochbegabte besonders zu fördern.

Auf Freiraum und Förderung von Spitzenleistungen ist ganz besonders die Grundlagenforschung angewiesen. Sie muß und wird einen hervorragenden Platz in unserer Forschungspolitik behalten. Nur auf ständig sich erneuernden Grundlagen kann Neues wachsen. So sehr wir von der Politik her bei der angewandten Forschung darauf drängen, daß wirtschaftlicher Nutzen möglichst frühzeitig erreicht wird, so wenig sollten wir im Rahmen der Grundlagenforschung kurzfristige Nützlichkeitsbeweise verlangen.

Wir wollen zum einen die materielle Basis der Grundlagenforschung sichern und sie zum anderen von bürokratischen Fesseln befreien.

Wer als Wissenschaftler Entbürokratisierung und weniger Staatskontrolle verlangt, der muß selbst auf die Bürger zugehen, muß ihre Fragen ernst nehmen und Verständnisbarrieren abbauen. Dies liegt auch im Interesse der Forschung selbst, denn was die Menschen nicht begreifen, das empfinden sie oft gerade auch im wissenschaftlichen Bereich als Bedrohung. Und ebenso wichtig ist es, meine Damen und Herren, daß die unterschiedlichen Disziplinen miteinander im Gespräch bleiben.

Gerade der Dialog zwischen Naturwissenschaften und Technik einerseits und Geistes- und Sozialwissenschaften andererseits ist notwendig, damit die Integration des technischen Fortschritts in unsere Wertordnung und damit die Einordnung in die kulturelle Tradition unseres Landes gelingt.

Die Arbeit an tragfähigen Verbindungen zwischen Geistes- und Naturwissenschaften erscheint mir eine ganz wichtige Aufgabe für die kommenden Jahre. Eine Institution wie die Max-Planck-Gesellschaft, die in beiden Bereichen tätig ist, trägt hier eine besondere Verantwortung und Ihre Tagung in Ringberg zeigt, daß gerade Ihnen auch dieses Problem bewußt ist.

Weil Forscher und Forschung ständig Horizonte erweitern, dürfen sie der umfassenden und dauerhaften Auseinandersetzung mit moralischen Anfragen und ethischen Maßstäben nicht ausweichen.

Forschung und Technik setzen uns heute in die Lage, auf die Grundlagen menschlichen Lebens einzuwirken, ja sie sogar zu verändern. Wo wir den Weg der Beherrschung von Natur und menschlichen Leben gehen, begegnen wir immer der Frage, ob der nächste Schritt noch verantwortbar ist.

Daß menschliches Wissen zum Guten wie zum Schlechten eingesetzt werden kann, das ist eine der bitteren Erfahrungen dieses Jahrhunderts und ganz gewiß nicht allein ein Problem der Wissenschaft. Gerade ein Tag wie heute, an dem die Gedanken zurückgehen, 50 Jahre zurück, an dem sich schwarze Horden aufmachten zum ersten brutalen Rechtsbruch am 30. Juni 1934, kommt diese Erinnerung in einer besonders durchdringenden Weise auf uns zu.

Für den Wissenschaftler ergeben sich aus dieser uns alle treffenden Verantwortung für die Folgen unseres Tuns ganz besondere Konsequenzen. Wo er auf Grund seiner Kenntnisse Gefahren sieht oder für möglich hält, hat er die ethische Pflicht darauf hinzuweisen und dazu beizutragen, daß die Forschungsergebnisse beherrschbar bleiben.

Vor allem auf dem Feld der Biotechnologie bewegen wir uns heute immer dichter auf die Grenzlinien zu, an denen wir uns fragen müssen, ob wir das Denk- und Machbare auch tun dürfen, ob es verantwortbar ist.

Die Fortschritte in der Biotechnologie eröffnen eine Fülle positiver Möglichkeiten für die Medizin, für die Landwirtschaft, die Rohstoffgewinnung und für ganz andere Bereiche.

Solche Fortschritte und jeder spürt dies, könnten aber-insbesondere auf dem Feld der Gentechnik - auch zur Folge haben, daß der Mensch in seiner unverwechselbaren Eigenheit, in seiner Individualität zur Disposition gestellt wird.

Hier geht es um ganz grundsätzliche ethische Fragen. Es geht um die Achtung vor der Natur als Schöpfung, es geht um die Achtung vor dem Menschen als Ebenbild Gottes. Auch abgesehen von allen religiösen Überzeugungen ist hier der Kern unserer abendländischen Auffassung von der menschlichen Person, von ihrer Integrität und von ihrer unantastbaren Würde berührt.

Eine unmißverständliche und ganz klare Position aller ethischen, rechtlichen und sozialen Aspekte erscheint mir für diese Diskussion unerläßlich. Hier müssen wir unbedingt eine breite Übereinstimmung der Grundsätze, von denen wir ausgehen, anstreben. Es ist deshalb gut und es entspricht auch meiner Vorstellung, daß der Bundesforschungsminister, der Bundesjustizminister bereits vor einiger Zeit eine gemeinsame Arbeitsgruppe von vielen engagierten Experten eingesetzt haben, um die ethischen und rechtlichen Fragen der Gentechnologie zu erörtern. Auch der Deutsche Bundestag, unser Parlament, wird sich schon in sehr kurzer Zeit mit diesem Thema intensiv zu befassen haben.

Lassen Sie mich hierzu auch ein sehr persönliches Wort deutlich sagen: Unter gar keinen Umständen dürfen wir eine Richtung einschlagen, bei der durch Veränderung des Erbgutes Menschen für bestimmte Zwecke manipulierbar gemacht werden.

Der Forscher soll schöpferisch sein, aber nie vergessen: Der Schöpfer ist er nicht.

Und lassen Sie mich hinzufügen: Selbstdisziplin gehört nicht nur zum Ethos des Naturwissenschaftlers, sie muß genauso in den Erziehungs- und in den Sozialwissenschaften geübt werden.

Nach so manchen unglücklichen Experimenten im Bildungsbereich sollte uns allen längst wieder klar sein, wie lebenswichtig es für unser Gemeinwesen ist, daß auch unser geschichtliches Erbe der nachwachsenden Generation so umfassend wie möglich vermittelt wird. Die jungen Leute unseres Landes müssen die geschichtlichen Ursprünge unseres Landes kennen, die kulturellen wie die politischen. Diese Generation braucht festen Boden unter ihren Füßen, um auch ihre Zukunft sicher gestalten zu können.

Weil wir der Persönlichkeit des Forschers besondere Verantwortung für die Zukunft beimessen, gehört eine fundierte, eine erstklassige Ausbildung des wissenschaftlichen Nachwuchses zu den wichtigsten Pflichten der Zukunftsvorsorge. Unter den Nachwuchswissenschaftlern von heute sind die Spitzen der Leistungseliten von morgen. Aber nicht allein deshalb müssen wir uns heute intensiv um bessere Berufsaussichten für den wissenschaftlichen Nachwuchs bemühen.

Wenn wir hier nicht eine besondere Anstrengung unternehmen, werden viele junge Nachwuchswissenschaftler weder an den Hochschulen noch in privaten oder staatlichen Forschungseinrichtungen eine Aufgabe finden, die ihrer Begabung, ihrem Können, ihrem Interesse entspricht, sie werden die Chance verlieren, unsere Zukunft mitzugestalten. Strukturelle Fehlentwicklungen der zurückliegenden Jahre dürfen nicht zu Berufsblockaden für eine ganze Generation wissenschaftlich begabter junger Leute werden.

Wie Sie wissen, hat die Bundesregierung im letzten Jahr einen Gesetzentwurf zur Promotionsförderung vorgelegt, der das frühere Graduiertenförderungsgesetz ersetzen sollte. In langen und intensiven Gesprächen mit den Regierungschefs der Bundesländer haben wir uns inzwischen darauf verständigt, die von der Bundesregierung vorgeschlagene Maßnahme auf der Ebene der Länder durchzuführen, und es sind bereits eine ganze Reihe Landesgesetzentwürfe vorgelegt. Für den wissenschaftlichen Nachwuchs ist es nicht entscheidend, wer sich der Förderung annimmt, wenn gefördert wird. Ich füge aber hinzu: Ich werde sehr persönlich darauf achten, welche Entwicklung diese Frage nimmt. Ich habe zugestimmt, daß dies auf der Ebene der Länder geschieht, unter der Voraussetzung, daß es geschieht. Für den Fall, daß ich feststellen sollte, daß es in einer Weise geschieht, die jedenfalls die Bundesregierung nicht zufriedenstellt, werde ich auf diese Frage alsbald noch einmal zurückkommen.

Der Max-Planck-Gesellschaft darf ich bei dieser guten Gelegenheit danken dafür, daß sie sich nicht nur auf ihrem ureigensten Gebiet, der Wissenschaft und Spitzenforschung, Aufgaben der Nachwuchsförderung vorgenommen hat, sondern auch in einer ganz erheblichen Zahl Ausbildungsplätze für gewerbliche Berufe zur Verfügung stellte.

Ich appelliere auch heute und von diesem Platz aus an alle Verantwortlichen, in ihren Anstrengungen für den wissenschaftlichen Nachwuchs nicht nachzulassen. Wir werden als Bundesregierung die Mittel für die Begabtenförderungswerke im nächsten Jahr aufstocken. Wir haben bereits das Nachwuchsprogramm der Großforschungseinrichtungen finanziell abgesichert. Wir haben damit begonnen, Nachwuchswissenschaftler in technologischen Schlüssel- und Wachstumsbereichen bei Forschungseinrichtungen gezielt zu unterstützen, in der Erwartung, daß sie später Aufgaben in der Wirtschaft übernehmen.

Junge Wissenschaftler, meine Damen und Herren, brauchen aber mehr als finanzielle Unterstützung, besonders in dem Zeitraum zwischen Examen und Promotion. Gerade in dieser menschlich wie wissenschaftlich wichtigen Phase sind sie auf Anregungen, auf Mittun, auf kollegiale Kritik und vor allem auch auf eine intensive wissenschaftliche Betreuung angewiesen. In den Max-Planck-Instituten werden mit den Nachwuchswissenschaftlern regelmäßige Gespräche über ihre Zukunftsperspektiven geführt. Ich halte dies für eine ganz vorbildliche Übung und wünsche mir, daß solche Gespräche auch in den Hochschulen zu einer Selbstverständlichkeit werden.

Junge Menschen brauchen Motivation und Zukunftsorientierung. Nachwuchs braucht Perspektive. Thematische Flexibilität und Mobilität in jungen Jahren gehören zu den besten Grundlagen für den Erfolg, auch im beruflichen Leben. Aber Mut zum Risiko und zur Selbständigkeit muß auch honoriert werden. Wir können von den Vereinigten Staaten lernen, wie junge Wissenschaftler und Techniker im Falle eines Fehlschlags ihre zweite oder auch dritte Chance bekommen.

Wir wissen, daß Forschung immer ein Weg ins Unbekannte ist und daß Forschung immer mit Risiken behaftet ist. Aber diese Herausforderung können wir nur bestehen, wenn wir sie annehmen.

Meine Damen und Herren, über Forschung und ihre Verantwortung für die Zukunft können wir nicht reden, ohne einen Blick auf die europäische Zusammenarbeit zu werfen.

Schon in der Vergangenheit war vor allem das Feld der naturwissenschaftlichen Grundlagenforschung ein Musterbeispiel europäischer und internationaler Kooperation. Die häufig enormen Kosten der notwendigen Großgeräte waren ein heilsames Korrektiv gegen nationale Alleingänge und gegen überzogenes Prestigedenken.

Auch für die Zukunft sollten wir jede Chance nutzen, um besonders auf dem Gebiet der Grundlagenforschung europäische Zusammenarbeit zu praktizieren.

Ich denke, daß die Bundesrepublik Deutschland dabei auch ganz vorzügliche Standortbedingungen bietet. Darüber sind wir mit unseren europäischen Partnern im Gespräch, zuletzt noch am vergangenen Dienstag in Fontainebleau. Ich hoffe, daß wir sie auch dafür gewinnen können, einzelne Standortfragen auch in unserem Sinne zu entscheiden. Ich denke dabei zum Beispiel an den Europäischen Transschall-Windkanal, der in Köln gebaut werden soll.

Europäische Zusammenarbeit auf dem Gebiet von Wissenschaft und Forschung ist auch das Feld, lieber Herr Professor Lust, das Ihre zukünftige Aufgabe ist.

Ich freue mich darüber, daß Sie Ihr neues Amt als Generaldirektor der Europäischen Weltraumorganisation in einem Augenblick antreten, in dem nach den Erfolgen von Spacelab und Ariane über die weitere Entwicklung dieser Spitzentechnologie in Europa Entscheidungen getroffen werden. Daß ich Ihnen Erfolg wünsche, ist selbstverständlich, denn Ihr Erfolg ist unser Erfolg, und unser Erfolg ist nicht nur ein deutscher Erfolg, es ist zunächst und vor allem auch ein europäischer Erfolg. Und Sie haben ja gespürt in diesen Tagen bei allen Schwierigkeiten, die ich ganz gewiß nicht geringachte, und ich sehe sie auch für die nächsten Jahre: Es ist ein neuer Anlauf genommen worden in den entscheidenden europäischen Ländern. Ich glaube deshalb, Ihr Neubeginn steht unter einem guten Stern. Was ich tun kann, um zu helfen, werde ich selbstverständlich tun.

Sie waren zwölf Jahre lang Präsident der Max-Planck-Gesellschaft. Als Ratgeber der Bundesregierung, aller Bundesregierungen in diesen Jahren, aber auch des Parlaments - ich kenne das ja auch von der anderen Seite noch als Oppositionsführer -, haben Sie in einer vorzüglichen Weise Ihre Pflicht getan, Ihren patriotischen Dienst getan. Ich will das einmal so formulieren. Sie haben weit tragende Entscheidungen mitgeformt und mitgeprägt. Und Sie haben einen ganz wesentlichen Anteil an dem hohen Niveau der Wissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland.

Dafür darf ich Ihnen im Namen der Bundesregierung und auch sehr persönlich in meinem Namen für manchen guten Rat in diesen Jahren herzlich danken.

Ihnen, lieber Herr Professor Staab, gratuliere ich herzlich zu Ihrem neuen Amt. Wir werden gerade in dieser Phase eines neuen Durchbruchs auf Ihren Rat zählen. Die Bundesregierung wird - das sage ich auch ganz offen - gewiß nicht alle Ihre Wünsche erfüllen können. Aber Sie finden in uns stets einen aufgeschlossenen Gesprächspartner.

Wir haben begriffen - und ich denke, viele haben das wieder begriffen -, daß Zukunft für die Bundesrepublik Deutschland, ein ressourcenarmes Land, immer bedeutet Investition in Forschung, materielle Investitionen in Geräte, aber auch Investitionen in Menschen, in Nachwuchs. Und das ist eben nicht nur im Materiellen getan. Dazu gehört ein Klima, in dem Leistung sich wieder lohnt und in dem wir nicht nur beim Spitzensport, sondern auch bei Spitzenleistungen unserer Wissenschaft ein Gefühl dafür entwickeln, wie notwendig, wie wertvoll dies sein kann.

Ich wünsche Ihnen für Ihre neue Aufgabe alles Gute und der Max-Planck-Gesellschaft für die vor uns liegende Zeit, daß sie wie bisher ihren Beitrag für das Ganze, für die Zukunft unseres Vaterlandes leisten kann.

Quelle: Bundeskanzler Helmut Kohl: Reden 1982-1984. Hg. vom Presse- und Informationsamt der Bundesregierung. Bonn 1984, S. 474-488.