29. September 1997

Rede anlässlich der Festveranstaltung "100 Jahre Verband evangelischer Einrichtungen für Menschen mit geistiger und seelischer Behinderung e.V." in Bad Oeynhausen

 

Lieber Pfarrer Eltzner,
meine sehr verehrten Damen und Herren,

 

als Erstes sage ich meinen herzlichen Glückwunsch. 100 Jahre Verband evangelischer Einrichtungen für Menschen mit geistiger und seelischer Behinderung - das ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Grund zur Freude und Dankbarkeit.

 

Ich bin gekommen, um zu gratulieren. Aber - und das sage ich ganz besonders gerne hier - ich bin auch gekommen, um für Ihre Sache, die auch die meine ist, zu demonstrieren. Ich demonstriere heute für Ihre wichtige Arbeit, durch die in vielen Jahren und Jahrzehnten diese Institution fest in unserem Land und in der Gesellschaft verankert ist. Sie leistet einen unverzichtbaren Beitrag zu Menschlichkeit und Geborgenheit in unserem Land.

 

Schon die Zahlen sprechen für sich: Rund 600 Einrichtungen der Behindertenhilfe gehören Ihrer Organisation an. Etwa 60000 Mitarbeiter betreuen fast 90000 Menschen mit Behinderungen. Aber die Bedeutung Ihrer Arbeit geht weit über diese Zahlen hinaus. Was hier im Wittekindshof und den vielen anderen Behinderteneinrichtungen Ihres Verbandes Tag für Tag geschieht, ist, ohne daß viel darüber geredet wird, praktiziertes Christentum - Seelsorge und Diakonie. Es ist gleichzeitig Vorbild für eine solide Ausbildung junger Menschen.

 

Jeder Behinderte erhält hier die ihm entsprechende Pflege, Versorgung und Förderung. Er bekommt Hilfe zur Selbsthilfe, erfährt Zuneigung, ja ganz praktische Nächstenliebe. Er erlebt eine Gemeinschaft, die ihn trägt und die ihm ein Zuhause schenkt - ein Zuhause, in dem er sich wohlfühlen kann. Dies ist auch für die Angehörigen eine große Hilfe. Gerade für Eltern ist es keine leichte Entscheidung, ihr behindertes Kind in andere Hände zu geben. Aber sie wissen, daß hier für ihr Kind immer gesorgt wird.

 

Behinderte wollen integriert und anerkannt werden. Deshalb ist es gut, daß sie hier nicht außerhalb, sondern mitten in der Gesellschaft leben. Sie gehören ins Stadtbild. Behinderte als Partner anzunehmen, das heißt, sie zu fordern, ihre Fähigkeiten zu fördern und mit ihnen gemeinsam Ziele zu setzen. Es geht darum, ihnen zu helfen, so weit wie möglich eigene Entscheidungen zu treffen. All dies erfordert oft viel Geduld und Einfühlungsvermögen. In einer Zeit, in der Geduldhaben bei vielen als Zeitverschwendung betrachtet wird, ist das vielleicht nicht "in". Aber ohne Geduld erreichen Sie gar nichts. Deswegen danke ich allen, die sich - hier wie in anderen Teilen unseres Landes - mit großer Einsatzbereitschaft in diesen Dienst am Nächsten stellen. Sie geben damit ein großartiges Beispiel auch für andere.

 

Im Jahr 2000 werden wir im Rahmen der "EXPO 2000" in Hannover Gelegenheit haben, unser Land der Welt zu präsentieren. Man kann auf einer solchen Weltausstellung vieles darstellen - modernste Technik und alles, was dazugehört. Aber wenn dabei das Bild eines kalten Landes entstünde mit einem kalten menschlichen Klima, dann wäre das ein schlimmes Ergebnis.

 

Die Menschlichkeit einer Gesellschaft zeigt sich eben darin, wie wir mit den Schwächsten umgehen - mit den Kindern, den Alten und den Behinderten. Wer eine Gesellschaft für richtig hält, in der ein reines Nützlichkeitsbetrachten vorherrscht, der schafft keine Gesellschaft, die menschliche Kultur hat. Das wäre ein armes Land. Deswegen wäre unser Land um vieles ärmer, wenn sich nicht Menschen - wie hier - in so vorbildlicher Art ihrer Mitmenschen annehmen würden.

 

Ich möchte Sie alle, ob Sie in der Betreuung, in der Förderung, in der Seelsorge oder im organisatorischen Bereich des Verbandes tätig sind, ermutigen, diese Arbeit unverdrossen fortzusetzen. Denken Sie - bei allen notwendigen Fragen des Geldes - auch immer daran, daß dies auch ein pastoraler Auftrag ist. Die Kirchen würden entscheidend versagen, wenn dieser Auftrag unterginge.

 

Meine Damen und Herren, vor 100 Jahren fand hier die erste Vorsteherkonferenz in der evangelischen Behindertenhilfe statt. Damit war der Grundstein für die Zusammenarbeit evangelischer Einrichtungen zum Wohle behinderter Menschen gelegt. Die Diakonische Einrichtung Wittekindshof steht zudem beispielhaft für die Entwicklung vieler anderer Behindertenstätten in ganz Deutschland.

 

Wenn man über diese 100 Jahre redet, soll man auch den Gründer erwähnen. Die Geschichte des Wittekindshofes ist untrennbar mit dem Namen des Pastors Hermann Krekeler verbunden. Er hat selber Jahre zuvor als Patient und dann als Mitarbeiter in Bethel gelebt und gearbeitet. Diese Erfahrung und seine enge Bindung zu Friedrich von Bodelschwingh, dem Gründer Bethels, haben ihn stark geprägt.

 

Es waren nicht große Heerscharen von Männern und Frauen, die damals den Durchbruch wagten. Es waren einige wenige, aber sie haben es gewagt. Sie haben nicht zuerst nach dem Gesetzgeber gerufen, sondern einfach etwas unternommen. Mit der Gründung des Wittekindshofes 1887 setzten Pastor Krekeler und seine Mitarbeiter - auch unter hohem persönlichen wirtschaftlichen Risiko - ein mutiges Zeichen christlicher Verantwortung. Als Hermann Krekeler 1898 verstarb, hinterließ er hier eine Einrichtung, an deren Notwendigkeit kein Zweifel mehr bestand. Sie war schon damals ein unverzichtbarer Bestandteil der westfälischen Diakonie geworden. In den Jahren danach wuchs der Wittekindshof schon bald zu einem "Dorf für Behinderte" heran. Wegweisend war dabei auch der systematische Aufbau des Schulwesens zur Förderung junger behinderter Menschen.

 

Die Entwicklung des Wittekindshofes spiegelt die ganzen Höhen und Tiefen der deutschen Geschichte in diesem Jahrhundert wider. Das dunkelste Kapitel war die Zeit der Nazi-Barbarei, in der das Leben vor allem geistig behinderter und psychisch kranker Menschen nichts mehr galt. Der Terror und Wahn der NS-Ideologie machte vor den Behindertenstätten nicht halt.

 

Heute wissen nur noch wenige aus eigener Erfahrung, was damals geschah. Gelegentlich habe ich den Eindruck, daß auch viele, die eigentlich intelligent genug sind, um das zu begreifen, nicht offen über diese Lektion der Geschichte sprechen. Aber das, was damals geschah, darf auf gar keinen Fall in Vergessenheit geraten. Es ist eine Mahnung für die Zukunft. Wir haben unsere Geschichte, der wir uns stellen müssen - nicht in der Weise, daß wir jeden Tag Buße in Sack und Asche tun. Davon halte ich überhaupt nichts. Es ist eine neue Generation herangewachsen. Aber wir müssen ihr sagen, daß niemand aus seiner Geschichte aussteigen kann, ob ihm das paßt oder nicht - weder in der eigenen Familie, noch im Leben seines Volkes.

 

Ebenso sollten wir aber gerade die jungen Menschen immer wieder daran erinnern, welche Werte und Tugenden nach dem Krieg den Neubeginn in unserem Land ermöglicht haben. Es war eine großartige Leistung jener Generation, die in einer ausweglos erscheinenden Lage mit Entschlossenheit und Zuversicht den Wiederaufbau in Städten, Dörfern und Fabriken gewagt hat. Auch die Verbandsarbeit wurde wieder belebt. Es entstand eine bunte Vielfalt traditioneller und neuer sozialer Einrichtungen. Medizinische und pflegerische Betreuung, Wohnstätten, Schulwesen, Ausbildungs- und Werkstätten wurden eingerichtet.

 

Was sich hier in Bad Oeynhausen getan hat, ist beispielhaft für diese Entwicklung. Heute ist der Wittekindshof mit seinen Zweigeinrichtungen das größte Dorf für Behinderte in der Bundesrepublik Deutschland. Es ist eine einmalige organisatorische und menschliche Leistung, daß hier rund 2200 behinderte Menschen betreut werden.

 

Man kann gar nicht genug hervorheben, was es heißt, daß hier in fünf Werkstätten 1300 Arbeitsplätze für Menschen mit Behinderungen angeboten werden. Vor allem weiß ich zu schätzen, was bei Ihnen und in vergleichbaren Einrichtungen und zur Ausbildung behinderter Jugendlicher geschieht. Das Berufsbildungswerk in Bad Oeynhausen gibt jungen Menschen eine gute Perspektive, eine Chance für ihren weiteren Lebensweg.

 

Wir sollten auch eine andere Dimension nicht vergessen, nämlich daß der Wittekindshof einer der großen Arbeitgeber der Region ist. Die Fort- und Weiterbildung Ihrer hochqualifizierten Mitarbeiter hat dabei besondere Bedeutung. Denn es geht nicht nur um Betreuung, sondern um die Förderung von Fähigkeit - der Fähigkeit von Behinderten, am gesellschaftlichen Leben im weitesten Sinne des Wortes so weit wie möglich teilzunehmen. Der Wittekindshof ist für mich ein großartiges Beispiel für gelebte Verantwortung - für Männer und Frauen, die sich in ihrem Leben und ihrer Arbeit christlichen Tugenden verpflichtet fühlen.

 

Meine Damen und Herren, das ist gerade heute - in einer zunehmend säkularisierten Gesellschaft - nicht selbstverständlich. Wenn heute viele Menschen aus den Kirchen austreten, so ist das ihre ganz persönliche Entscheidung. Aber zur Wahrheit gehört auch, daß ohne Kirchensteuern viele Einrichtungen im freien und gemeinnützigen Bereich überhaupt nicht möglich wären. Es ist schon ein gehöriges Maß an Heuchelei dabei, der Kirchensteuer ade zu sagen und gleichzeitig ein Krankenhaus der freien und gemeinnützigen Trägerschaft zu benutzen.

 

Wer hier im Wittekindshof oder in ähnlichen Einrichtungen arbeitet, der leistet einen Beitrag für das menschliche Antlitz unserer Gesellschaft. Damit bin ich beim Begriff der Leistungselite. Wir haben uns in Deutschland zu lange eine Diskussion darüber geleistet, daß der Begriff der Elite als zutiefst undemokratisch aus dem Sprachgebrauch gestrichen werden sollte. Unter Eliten verstehe ich nicht Eliten von Geburt an, sondern Leistungseliten. Es sind Leute, die ein Beispiel geben. Das kann beispielsweise im Hochleistungssport sein, denn ohne den Spitzensport gibt es keinen Breitensport. Das gilt aber auch für viele andere Bereiche.

 

All jene, die einen sozialen Dienst leisten, sind Leistungsträger einer menschlichen Gesellschaft im besten Sinne des Wortes. Sie übernehmen über das normale Maß hinaus Verantwortung und leisten Überdurchschnittliches. Das gilt in besonderer Weise für die Arbeit mit Behinderten, mit Alten und kranken Menschen.

 

Erfolgsstreben allein führt nicht zum Glück - Egoismus schon gar nicht! Praktische Nächstenliebe bereichert dagegen immer auch das Leben der Helfenden. Dies ist die Lebenserfahrung von vielen, die im karitativen Bereich arbeiten. Freude zu geben und Freude zu empfangen gehört zu Ihrer schweren Arbeit. Die echte Freude behinderter Menschen über eine freundliche Geste oder ein gutes Erlebnis ist mehr als eine Danksagung. Mutter Theresa hat es einmal so formuliert: "Man weiß nie, wieviel Gutes ein einfaches Lächeln tun kann." Das kann niemand von uns abmessen, aber gelegentlich beobachten wir die ermutigende Wirkung.

 

Meine Damen und Herren, auch und gerade in Zeiten großer wirtschaftlicher Herausforderungen und notwendiger Reformen ist es wichtig, die Werte und die Prinzipien nicht zu vergessen, die für eine Gesellschaft unverzichtbar sind. Deshalb sollten wir gerade jene immer wieder ermutigen, die Mitmenschlichkeit und Nächstenliebe im Alltag leben. In unserem Volk gibt es einen großen Reichtum an Menschen, die zum Beispiel über die Gabe verfügen, auf andere einzugehen, ihnen zuzuhören und ihnen Geborgenheit zu vermitteln. Viele Menschen leisten Enormes, indem sie anderen ganz einfach Zeit und Zuneigung schenken.

 

Sie kennen aus Ihrem Bereich viel mehr solcher konkreter Zeugnisse als ich. Vielleicht ist es für die Medien nicht besonders attraktiv, darüber zu berichten. Es ist für sie sehr viel lukrativer, über negative Erfahrungen zu berichten, als von der ganz einfachen Beobachtung, daß bei den Deutschen das Miteinander nicht versiegt ist.

 

Es ist doch einfach nicht wahr, daß eine ganze Generation junger Leute mit "null Bock" aufgewachsen ist. In diesem Sommer sehen alle völlig erstaunt im Fernsehen junge Soldaten, die beim Oderhochwasser bis zur völligen Erschöpfung die Deiche sichern. Das Bild von diesen Soldaten war doch ein ganz anderes, als es einem weitverbreiteten Vorurteil entspricht.

 

Die Deutschen haben in wenigen Tagen rund 130 Millionen D-Mark gesammelt. Man muß in Europa und in anderen Ländern schon weit gehen, um Vergleichbares zu finden. Dies war eine großartige Erfahrung. Ich wehre mich mit aller Entschiedenheit dagegen, menschliche Fähigkeiten, die am Markt vielleicht nicht gefragt sind, geringzuschätzen. Wer den Dienst an der Maschine höher bewertet als den Dienst am Menschen, der hat die Zukunft unseres Volkes vertan.

 

Wir alle - Staat, Kirchen, Verbände und die gesamte Gesellschaft - tragen Verantwortung in der Sorge um die Behinderten. Was wir gemeinsam erreicht haben, kann sich sehen lassen. Mit ihren staatlichen Leistungen für Behinderte steht die Bundesrepublik in Europa vorne an. In mehr als 600 Werkstätten arbeiten rund 150000 Personen, davon 25000 in den neuen Ländern. Der Bund versichert diese Menschen in der Rentenversicherung, und zwar nicht zu einem symbolischen Versicherungsbeitrag, sondern zu gut drei Viertel des Durchschnittsverdienstes. Hierfür gibt der Bund allein im nächsten Jahr 1,45 Milliarden D-Mark aus.

 

In 74 Berufsbildungs- und Berufsförderungswerken stehen für die berufliche Erstausbildung jugendlicher und für die Umschulung erwachsener Behinderter 27300 Plätze zur Verfügung - rund ein Fünftel davon in den neuen Ländern. Allein für die Einrichtungen in Ostdeutschland wird der Bund bis zum Jahr 2000 rund 600 Millionen D-Mark aufbringen.

 

Auch die Pflegeversicherung leistet einen substantiellen Beitrag für die Behinderten. Daß heute mehr als 1,7 Millionen Menschen Leistungen aus der Pflegeversicherung erhalten, zeigt, wie richtig es war, diese Versicherung 1995 einzuführen. Ich weiß, daß es gerade für Behinderte Abgrenzungsprobleme zwischen Sozialhilfe und Pflegeversicherung gibt. Aber bei gutem Willen wird das lösbar sein. Ich bin gern bereit, dabei zu helfen, denn dies ist mir ein wichtiges Anliegen.

 

Meine Damen und Herren, die genannten Beispiele sind ein Ausweis der Solidarität mit den Behinderten. Sie widerlegen im übrigen das Gerede vom Abbau des Sozialstaates zu Lasten der Schwächsten. Wir geben heute jede dritte D-Mark unseres Bruttosozialprodukts für soziale Leistungen aus. Das ist ein Spitzenwert in Europa. Ich will nicht gegen diese Summe angehen - damit das nicht falsch verstanden wird. Aber wenn wir umgerechnet 14000 D-Mark je Einwohner für Sozialleistungen ausgeben, dann muß man schon die Frage stellen, ob das Geld tatsächlich dort hingeht, wo es wirklich benötigt wird. Wir müssen Front machen gegen Trittbrettfahrer. Das gilt für die Steuerhinterziehung und für den Subventionsbetrug genauso wie für den Sozialbetrug.

 

Meine Damen und Herren, wir haben in Deutschland zur Zeit über vier Millionen Arbeitslose. Dieses Problem dürfen wir nicht pauschal sehen. Um die Arbeitslosigkeit wirksam zu bekämpfen, müssen wir viele Einzelprobleme angehen. Unter den 4,3 Millionen Arbeitslosen sind zum Beispiel über eine Million Langzeitarbeitslose. Darunter befinden sich gut 600000 Personen, die keine qualifizierte Ausbildung haben. Wir wissen, daß Ausbildung von heute über die Beschäftigungslage von morgen entscheidet.

 

Deshalb müssen wir offenkundige Mängel abstellen. So empfinde ich es als einen Skandal, daß zehn Prozent der jungen Menschen nach ihrer Schulzeit nicht ausbildungsfähig sind, weil ihnen Fertigkeiten wie Rechnen oder Schreiben fehlen. Die Bundesanstalt für Arbeit gibt jedes Jahr 850 Millionen D-Mark aus, damit junge Leute, die aus der Schule kommen, noch einmal nachgebildet werden und eine Lehre machen können. Das ist nun wirklich keine Sache des Bundes, sondern das geht uns alle gemeinsam an. Es ist Sache der Länder, Mängel in der Schulausbildung abzustellen.

 

Um die Zukunft des Landes zu sichern, müssen wir umdenken und vieles verändern. Wir müssen die Sozialleistungen auf die wirklich Bedürftigen konzentrieren. Der Sozialstaat wird nicht ab-, sondern umgebaut. Vor allem muß deutlich werden, daß auch im sozialen Bereich eine gewisse Denkart ein Ende findet: Die Staatskasse ist kein Steinbruch, aus dem man sich seine Brocken herausschlagen kann, egal, wie die Wirkung auf andere ist. Das darf nicht die Zukunft sein. Wenn wir das begreifen, dann kann ich nicht erkennen, warum uns die Finanzierung sozialer Aufgaben - auch Ihrer Arbeit - künftig vor unlösbare Probleme stellen sollte.

 

Natürlich stehen wir vor großen Herausforderungen. Es war bereits von der Rente die Rede. Ich habe bis heute nicht begriffen, warum wir in der Rentenfrage einen solchen Streit untereinander haben. Die Tatsachen, die uns dazu zwingen, die Rentengesetzgebung und das Rentenrecht zu ändern, haben die Deutschen in freier Entscheidung herbeigeführt. Neben den Italienern und Spaniern sind wir das Land mit der niedrigsten Geburtenrate in der Europäischen Union. Gleichzeitig steigt - und dies ist eine erfreuliche Entwicklung - die durchschnittliche Lebenserwartung der Menschen. Die Frauen haben heute eine mittlere Lebenserwartung von 79 Jahren und die Männer von 73 Jahren. Der Anteil der älteren Menschen in unserer Bevölkerung steigt weiter an: Er liegt heute bei 15 Prozent und wird sich bis zum Jahr 2030 auf 26 Prozent nahezu verdoppeln.

 

Zudem leisten wir uns den Luxus, daß wir unsere nachrückenden Akademiker wesentlich später ins Berufsleben schicken, als dies in anderen Länder der Europäischen Union geschieht. Wenn ein junger Akademiker mit 30 Jahren in den Beruf einsteigt und mit 60 Jahren in den Ruhestand geht, dann stehen rund 45 Jahren Ausbildung und Ruhestand nur 30 Jahre Berufsertrag gegenüber. Diese Rechnung kann nicht aufgehen; das muß Konsequenzen haben.

 

Wenn es darum geht, unser Land auf die Herausforderungen der Zukunft vorzubereiten, müssen wir in Zusammenhang mit der Frage der Demographie noch eine weitere Entwicklung sehen: Die Zahl der Single-Haushalte nimmt ständig zu. In Deutschland sind es derzeit 35 Prozent aller Haushalte, in Großstädten bis zu 50 Prozent. Was geschieht eigentlich, wenn all diese Singles 65 Jahre alt sind? Ich verstehe nicht, wie man unter diesen Gegebenheiten die Notwendigkeit der Pflegeversicherung überhaupt in Zweifel ziehen kann. Hier müssen wir doch in einer vernünftigen Weise miteinander für die Zukunft vorsorgen. Soweit dies möglich ist, muß das unter Wahrung der Verantwortlichkeit des einzelnen geschehen.

 

Meine Damen und Herren, wer jetzt nicht die notwendigen Konsequenzen für die Zukunftssicherung unseres Landes zieht, der versagt vor der Zukunft. Wir müssen handeln - egal, ob Wahltermine anstehen oder nicht. Damit bin ich bei dem Thema, das uns hier besonders beschäftigt: Ich habe bereits auf einige Leistungen hingewiesen, die wir in unserem Land für Behinderte erbringen. Aber Politik für Behinderte ist nicht nur eine Frage des Geldes. Behinderte Menschen haben Anspruch auf die Achtung der Würde ihrer Person. Das muß hier nicht betont werden. Aber in der breiten Öffentlichkeit müssen wir noch viel mehr um Verständnis und Rücksichtnahme werben.

 

Ich habe mich deshalb persönlich mit großem Nachdruck dafür eingesetzt, das Diskriminierungsverbot für Behinderte in unserem Grundgesetz zu verankern. Viele andere haben mitgeholfen; dafür bin ich dankbar. So ist es gelungen, 1994 den Artikel 3 unseres Grundgesetzes mit dem Satz zu ergänzen: "Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden." Ich wünsche mir, daß dieser Satz in der Gesellschaft ähnliche Wirkung entfaltet wie der Satz "Männer und Frauen sind gleichberechtigt"; dadurch wurde viel für die gesellschaftliche Stellung der Frau erreicht - auch wenn wir noch nicht am Ziel sind.

 

Dieselbe Hoffnung verbinde ich im Blick auf das immer enger zusammenwachsende Europa mit dem Vertrag von Amsterdam, auf den wir uns im Juni geeinigt haben. Er hebt die Behinderten gesondert hervor und macht es zur Aufgabe der Europäischen Union, gegen Benachteiligungen Behinderter vorzugehen. Gerade auch bei diesem Thema können wir Europäer gemeinsam noch viel erreichen.

 

Gleiches gilt für das Menschenrechtsübereinkommen zur Biomedizin des Europarats vom 4. April 1997. Ich spreche dieses Thema ohne Wenn und Aber an. Ich sage ganz offen, daß es mich belastet, wie manche meiner Kollegen in der Europäischen Union, die unsere historischen Erfahrungen nicht haben, beinahe unbefangen an diese Fragen herangehen. Es ist ganz selbstverständlich, daß dieses Thema in einem Haus wie diesem Erinnerungen an die dunkelsten Kapitel der Geschichte unseres Volkes wachruft.

 

Deswegen ist es ganz wichtig - und das ist meine Absicht als Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland -, daß wir uns unsere Entscheidung nicht leichtmachen und mit allen betroffenen Verbänden ausführlich sprechen, bevor wir zu einer Entscheidung über eine Unterzeichnung der Konvention kommen. Ich habe diesen Punkt im Kabinett vor wenigen Tagen erneut von der Tagesordnung abgesetzt, weil mir die bisherigen Gespräche nicht ausreichen. Gerade auch vor dem Hintergrund der Erfahrung der NS-Zeit müssen wir gegenüber den kleinsten Verletzungen der Menschenwürde wachsam sein.

 

Zugleich bitte ich Sie sehr herzlich, diese Diskussion aufrichtig zu führen. Es darf nicht der Eindruck erweckt werden, als habe die Konvention das Ziel, den umfassenden Schutz der Behinderten in unserer Rechtsordnung zu verringern. Das eigentliche Ziel der Konvention ist, in Europa insgesamt zu einem Katalog ethischer Grundprinzipien zu kommen, die jeder Staat und jeder einzelne beachten muß. Es geht darum, den Schutz der Behinderten zu verbessern. Aber es ist auch wahr - das ist für die Bundesregierung sehr wichtig -, daß wir in unserer Rechtsordnung Schutzvorschriften haben, die strenger sind. Bei diesem umfassenden Schutz - auch der Behinderten - muß es auf alle Fälle bleiben.

 

Meine Damen und Herren, wir haben in den vergangenen Jahren im Hinblick auf eine größere Chancengleichheit von Behinderten mit Nichtbehinderten manches erreicht. Aber dennoch besteht überhaupt kein Grund zur Selbstzufriedenheit. Es ist eine bleibende Aufgabe, noch bestehende Benachteiligungen abzubauen und Behinderten - soweit eben möglich - gleiche Chancen zu eröffnen.

 

Dies ist nicht allein eine Frage der Politik und von Gesetzen. Entscheidend ist der Bewußtseinswandel in unserer Gesellschaft. Hier kommt vor allem dem Elternhaus eine große Verantwortung zu. Wir müssen wieder mehr davon sprechen, daß vor Gott und den Menschen die Eltern die erste Verantwortung für ihre Kinder haben. Wenn ein Kind im Elternhaus, bei der eigenen Mutter und beim eigenen Vater, ein Beispiel an Mitmenschlichkeit erfährt, dann kann es das auch in die Schule tragen. Wenn das Elternhaus aber völlig ausfällt, dann ist es ziemlich sinnlos, diese Aufgabe dem Lehrer allein aufzubürden. Es wäre zu billig, die Schuld überall dort, wo die Gesellschaft versagt, auf die Schule zu schieben. Die Schule und der Lehrer müssen auch die notwendigen Voraussetzungen vorfinden. Das ist aber nicht nur eine Frage des Geldes, sondern auch eine Frage der Autorität, die man einem Lehrer oder einer Lehrerin einräumt.

 

Die Vorurteile gegen Behinderte - vielleicht täusche ich mich, aber ich glaube, daß es so ist - liegen heute nicht mehr so offen zutage wie früher, wenn ich etwa an meine Kinderzeit und an meine Schulzeit denke. Die Vorurteile, die man beobachtet, sind den Urteilenden häufig gar nicht bewußt. Für den Betroffenen sind sie deswegen aber nicht weniger grausam. Viele Behinderte werden viel zu schnell als nicht oder nur eingeschränkt arbeitsfähig angesehen. Das gilt insbesondere bei Schwerbehinderten.

 

Ich wende mich jedes Jahr und bei jeder Gelegenheit an Arbeitgeber, Behinderte - wenn irgend möglich - einzustellen und sich nicht durch die Zahlung der Schwerbehindertenabgabe freizukaufen. Aber hier geht es aber nicht in erster Linie um Geld. Vielmehr müssen wir wieder das Bewußtsein dafür stärken, daß es auch darum geht, Glück zu schenken. Das ist eine Sache von allen.

 

Die Betriebsräte und Personalräte sind mindestens genauso angesprochen wie die Personalchefs. Die vielen alten Ausreden, die ich in anderer Weise auch bei der Teilzeitarbeitsproblematik erlebe - etwa ein höherer Verwaltungsaufwand -, überzeugen mich gar nicht. Wenn man sieht, wie leistungsfähig die moderne Datenverarbeitung ist, dann ist so etwas kein überzeugendes Argument. 39 Prozent der beschäftigungspflichtigen Arbeitgeber, das sind fast 74000 an der Zahl, erfüllen ihre Beschäftigungspflicht nicht in vollem Umfang. Weitere 37 Prozent der pflichtigen Arbeitgeber - also 70500 - beschäftigen keinen einzigen schwerbehinderten Arbeitnehmer. Das ist kein Ruhmesblatt für unser Land.

 

Ich möchte die Gelegenheit, bei Ihnen zu sprechen, nutzen und von hier aus allen Mitbürgern in unserem Land zurufen und sie ermutigen: Gehen Sie auf Behinderte zu. Suchen Sie den Kontakt mit Behinderten; gehen Sie zu Heimfesten und Veranstaltungen, oder besuchen Sie einfach einmal Menschen in einem solchen Heim. Sie werden dort willkommen sein. Sie werden dort Freunde gewinnen und sehen, was es heißt, Freude zu schenken und selbst Freude zu erfahren.

 

In diesem Sinne wünsche ich dem Verband evangelischer Einrichtungen für Menschen mit geistiger und seelischer Behinderung sowie seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und allen, die Ihnen helfen, viel Glück. Ein herzliches Wort des Dankes für das, was Sie leisten! Ich wünsche allen, die hier im Wittekindshof leben und arbeiten, alles Gute, viel Kraft und Gottes Segen.

 

 

 

Quelle: Bulletin der Bundesregierung. Nr. 84. 21. Oktober 1997.