Zielvorstellungen und Chancen für die Zukunft Europas
[...] Für mich ist es eine besondere Freude, viele von den ausländischen Partnern und Freunden hier zu treffen, mit denen ich in den vergangenen Jahren eng zusammengearbeitet habe. Mein Dank gilt der Bertelsmann-Stiftung, der es gelungen ist, eine so große Zahl hochrangiger Persönlichkeiten zusammenzuführen, um über die Zukunft unseres Kontinents zu diskutieren.
Niemand kann von sich behaupten, er habe für die Zeit nach dem Ende des Ost-West-Konflikts, das wir mit der Charta von Paris im November 1990 feierlich besiegelt haben, ausgereifte Pläne in der Schublade gehabt. Ich glaube auch nicht, dass es zu diesem Zeitpunkt sinnvoll ist, detaillierte Pläne zu entwerfen. Es geht vielmehr darum, klare gemeinsame Ziele und Prioritäten für unser politisches Handeln zu definieren. Ein solches Vorgehen gibt uns das notwendige Maß an politischer Flexibilität, die wir vor allem in einer Zeit des Übergangs brauchen. Klare Zielvorstellungen, Prinzipienfestigkeit und Flexibilität sind auch das wirksamste Mittel gegen jenen Kleinmut, der in Europa vielerorts wieder aufkommt. Wenn uns die vergangenen Jahre eines gelehrt haben, dann dies: Geschichte ist - wie Karl Popper in seinem Werk über „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde" darstellt - nicht das Ergebnis eines blinden, unentrinnbaren Schicksals, sondern des Denkens und Handelns von Menschen. Wir Menschen sind nicht Spielball, nicht passives Objekt angeblicher „historischer Gesetzmäßigkeiten", sondern aktive Subjekte der Geschichte. Wenn wir uns dies immer wieder bewusst machen, dann haben wir keinen Grund zur „Furcht vor der Freiheit", sondern allen Grund, uns über die Chancen der Gegenwart zu freuen und sie beherzt zu ergreifen.
Das Gesicht Europas hat sich in den vergangenen drei Jahren grundlegend gewandelt. Der Eiserne Vorhang - Inbegriff der Spaltung Europas und der Konfrontation zwischen kommunistischer Diktatur und freiheitlicher Demokratie - ist verschwunden. Vergessen wir nicht, wie sehr noch bis vor kurzem unsere Gedanken um das Problem der militärischen Sicherheit und der Abschreckung der tödlichen Bedrohung von Frieden und Freiheit kreisten. Heute sind wir in der historisch einmaligen Lage, dass alle wesentlichen Kräfte in Europa in ihren politischen Zielvorstellungen einig sind. Die Länder Mittel-, Ost- und Südosteuropas fühlen sich heute den gleichen Ordnungsprinzipien verpflichtet wie wir: der parlamentarischen Demokratie, dem Rechtsstaat, den Menschen- und Bürgerrechten und der Sozialen Marktwirtschaft. In dieser weiteren Übereinstimmung spiegelt sich der historische Triumph der Idee der Freiheit. Die Ideen der Französischen Revolution von 1789 haben damit 200 Jahre später - 1989 - endlich das ganze Europa erfasst. Auf dem Weg zu dem Europa der Zukunft haben wir zwei große Aufgaben zu bewältigen: erstens den Ausbau und die Vertiefung der EG hin zur Europäischen Union und zweitens die endgültige Überwindung der Spaltung des Kontinents in Ost und West.
In Maastricht haben wir den Grundstein für die Vollendung der Europäischen Union gelegt. Der Vertrag über die Europäische Union leitet eine neue, entscheidende Etappe des Europäischen Einigungswerks ein, die in wenigen Jahren dazu führen wird, das zu schaffen, was die Gründungsväter des modernen Europa nach dem letzten Krieg erträumt haben: die Vereinigten Staaten von Europa.
Maastricht hat uns - mit klaren inhaltlichen und zeitlichen Vorgaben - folgende Aufgaben auftragen:
Erstens: Die stufenweise Schaffung der Wirtschafts- und Währungsunion auf der Grundlage von klaren, objektiven Kriterien.
Zweitens: Die Erarbeitung einer gemeinsamen Außenpolitik - Europa muss in den nächsten Jahren dazu kommen, in allen wesentlichen Fragen der Außenpolitik mit einer Stimme zu sprechen und - vor allem - auch gemeinsam zu handeln.
Drittens: Die Herausbildung einer eigenständigen europäischen Sicherheits- und Verteidigungsidentität. Dies bedeutet konkret, dass wir die Westeuropäische Union zu ihrer Verteidigungskomponente in enger Abstimmung mit der Atlantischen Allianz ausbauen.
Viertens: Die Vergemeinschaftung der Kernbereiche der Innen- und Justizpolitik. Dies gilt insbesondere für die Asylpolitik wie auch für Fragen der Einwanderung. Ferner geht es darum, eine europäische Polizei - EUROPOL -zum Kampf gegen den Drogenmissbrauch und das Organisierte Verbrechen ins Leben zu rufen.
Fünftens: Eine umfassende demokratische Kontrolle auf europäischer Ebene - wir müssen die Rechte des Europäischen Parlaments weiter stärken und dessen Kompetenzen denen der nationalen Parlamente soweit wie möglich -und soweit vergleichbar - annähern.
Sechstens: Die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Österreich, Schweden und Finnland - vielleicht sogar mit allen EFTA- Mitgliedsstaaten, sofern sie dies wünschen. Diese Verhandlungen wollen wir bis Mitte der neunziger Jahre abschließen. Ich bin davon überzeugt, dass diese - vierte - Erweiterung die Europäische Union nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch stärken wird.
Siebtens: Eine gründliche Prüfung der Frage, wie eine erweiterte und zugleich mit neuen Zuständigkeiten ausgestattete Gemeinschaft institutionell gefestigt werden kann. Wir haben in Maastricht gewisse Fortschritte zur Verbesserung der Effizienz und der Handlungsfähigkeit der EG-Institutionen und Mechanismen erreicht, sie sind aber angesichts der vor uns stehenden Herausforderungen nicht ausreichend.
Achtens: Eine Rückbesinnung auf das Subsidiaritätsprinzip als Ausgangspunkt für eine Art vertikaler Gewaltenteilung In Europa. Wir dürfen nicht dahin kommen, dass wir alle Fragen zentralistisch in Brüssel regeln wollen. Dabei werden wir auch prüfen müssen, ob wir in einem vielleicht gut gemeinten Perfektionismus in einigen Bereichen nicht schon zu weit gegangen sind. Das vereinte Europa kann und darf kein Schmelztiegel sein. Es soll vielmehr die nationale Identität. Kultur und Lebensweise eines jeden Volkes und Landes bewahren und fördern.
Insgesamt geht es darum, eine Europäische Union zu vollenden, mit der sich auch unsere Brüder identifizieren können. Wenn wir dies stets vor Augen haben, besteht auch nicht die Gefahr sogenannter Europamüdigkeit. Es kann und darf nicht darum gehen, für Europa eine Weltmachtrolle im Stile des 19. Jahrhunderts anzustreben. Ebenso wenig wollen wir die Neuauflage eines europäischen Konzerts, in dem ein Land die erste Geige spielt. Die Europäische Union kann und wird nur funktionieren auf der Grundlage der Gleichberechtigung ihrer Mitglieder. Wir wollen keinen europäischen „Leviathan". sondern „Einheit in Vielfalt" - darin wird die Stärke einer künftigen Europäischen Union liegen.
Sicher: Es wird auch weiterhin diejenigen geben, die meinen, es gehe zu schnell oder wir wollten zuviel auf einmal. Natürlich müssen auch in der europäischen Politik die Dinge reifen. Nur: Das Ziel dürfen wir nicht aus dem Auge verlieren oder gar in Frage stellen. Es gibt keine Alternative zu einer Politik, die auf den Zusammenschluss setzt, es sei denn, wir wollten das Schicksal herausfordern und den Weg zurück in die Kleinstaaterei und die Rivalitäten von gestern oder vorgestern antreten. Meine Politik war von Anfang an, die Deutsche Einheit und die politische Einigung Europas untrennbar miteinander zu verknüpfen. Sie sind für mich zwei Seiten ein und derselben Medaille.
Es wäre ein historisches Versagen, wenn wir in diesem Augenblick, wo sich die ganze Hoffnung unserer Nachbarn in Mittel-, Ost- und Südosteuropa auf uns richtet, den Weg zur künftigen Europäischen Union verlangsamen oder gar abbrechen würden - einen Weg, der uns bis heute Frieden, Freiheit und Wohlstand beschert hat. Wir werden vielmehr den Westen und Osten Europas zusammenführen können, wenn wir die bestehende Gemeinschaft vertiefen und damit in die Lage versetzen, auch künftig den Stabilitätsanker für ganz Europa zu bilden. Nur eine starke Europäische Union kann mit den neuen Risiken und Unwägbarkeiten fertig werden, mit denen die Auflösung staatlicher und gesellschaftlicher Ordnungen im östlichen Teil unseres Kontinents behaftet ist.
Dies ist keine Absage an ein größeres Europa, aber wir werden dieses größere Europa nur schaffen können, wenn wir das Kerneuropa unwiderruflich voranbringen.
Beides muss weiterhin auf der Agenda obenan stehen: die Europäische Union und das größere europäische Haus. Es gibt hier auch kein „Entweder-Oder", sondern nur ein „Sowohl-als-auch".
Die Skeptiker werden uns entgegenhalten, dass wir es in Europa mit gegenläufigen Entwicklungen in West und Ost zu tun haben: Integration hier und Desintegration dort. Richtig ist sicher, dass die Spaltung Europas tiefer gereicht und mehr zerstört hat, als wir früher annahmen. Zusammenbruch oder akute Gefährdung staatlicher und wirtschaftlicher Ordnung, das Wiedererstehen alter Nationalismen - all dies scheint der Verwirklichung des größeren Europas entgegenzustehen. Ich verkenne nicht, dass aus diesen Prozessen neue Gefährdungen unserer Sicherheit und der gesamteuropäischen Stabilität entstehen können. Die neuen Risiken und Gefahren sind vor allem ökonomischer, sozialer, aber auch politischer Natur. Sie können - auch das ist wahr -zur Quelle neuer militärischer Risiken werden. Erstrangiges Feld der Zusammenarbeit in einem größeren Europa bleibt deshalb die Sicherheit. Sicherheit nicht mehr voreinander, sondern miteinander.
George Kennan hatte schon am Ende des Zweiten Weltkriegs geschrieben: „Einer der gefährlichsten Augenblicke für die internationale Stabilität wird kommen, wenn eines Tages die Herrschaft Russlands" - er meinte natürlich die Sowjetunion - „ anfängt zusammenzubrechen." Er hat recht behalten. In der Tat muss - bei aller Besorgnis über bestimmte Entwicklungen im Mittelmeerraum oder im benachbarten Nahen Osten unsere erste Aufmerksamkeit dem Schicksal der Länder gelten, die in der Mitte, im Osten und im Südosten Europas liegen.
Die Mitgliedsstaaten der KSZE - inzwischen 51 - bilden den geopolitischen Raum für künftige europäische Sicherheitspolitik. Erstes Ziel muss es sein, die frühere militärische Gegnerschaft in eine echte Sicherheitspartnerschaft umzuwandeln. Der Anker für die europäische Sicherheit muss dabei die NATO bleiben. Denn auch hier gilt - ähnlich wie für die EG -, dass es ein kapitaler Fehler wäre, Bewährtes abzubauen oder gar aufzugeben, um Neues zu gewinnen. Vor allem - das wird auch in der Zukunft entscheidend sein - kann allein die NATO die notwendige Präsenz der USA in Europa sichern.
Die gewandelte NATO begreift sich heute als Faktor für die gesamteuropäische Stabilität und Sicherheit. Damit wird die ursprüngliche Zielsetzung der NATO als transatlantisches Bündnis zur Abwehr äußerer Gefahren nicht aufgegeben. Über den neu gegründeten Kooperationsrat wollen wir aber die Nichtmitgliedsstaaten immer näher an diese Organisation heranführen. Zugleich muss die KSZE in Sicherheitsfragen eine größere Handlungsfähigkeit gewinnen. Es stellt sich insbesondere auch die Frage nach einem effizienten Steuerungsgremium zur Verhütung bzw. frühzeitigen Entschärfung militärischer Konflikte.
Es geht schließlich darum, Probleme nicht nur zu diskutieren, sondern tatsächlich zu lösen. Ich sage aber in diesem Zusammenhang auch an unsere eigene Adresse: Deutschland kann dabei nicht abseits stehen.
Dabei sollten wir auch darüber nachdenken, ob und wie die WEU - und in besonderen Fällen die NATO - bei der Beilegung von Konflikten im KSZE-Rahmen künftig einbezogen werden könnten. Der Konflikt in Jugoslawien hat deutlich gemacht, wo derzeit die Grenzen für unsere - die europäischen - Handlungsmöglichkeiten liegen. Es geht um präventive Politik: derjenige, der glaubt, politische Ziele mit Gewalt durchsetzen zu können, muss wissen, dass er auf den Widerstand aller Europäer stößt.
Wir dürfen die Augen vor der Tatsache nicht verschließen, dass der in Ost- und Südosteuropa an verschiedenen Stellen aufbrechende Nationalismus mit zum Teil expansiver Ausrichtung an Dynamik gewinnt. Wir verstehen, dass die Völker Ost-. Mittel- und Südosteuropas nach dem Zusammenbruch des Kommunismus sich wieder auf ihre nationale Eigenständigkeit besinnen. Aber Ziel muss sein, diesen nationalen Aufbruch mit der Idee der Freiheit, der Demokratie und der Minderheitenrechte zu verbinden. Ethnisch/territoriale Probleme dürfen am Ende dieses Jahrhunderts nicht in einer Weise gelöst werden, wie dies - mit verhängnisvollen Folgen - zu Anfang dieses Jahrhunderts versucht wurde.
Neben den Sicherheitsfragen ist das Problem der wirtschaftlichen Stabilisierung und allmählichen Heranführung der östlichen Volkswirtschaft an das westliche Niveau die zentrale Aufgabe der westlichen Staatengemeinschaft. Wir Deutschen erleben derzeit im eigenen Lande, wie schwierig diese Aufgabe ist. Trotz enormen Transfers vor allem finanzieller Ressourcen in die neuen Bundesländer geht der Prozess des Zusammenwachsens in Deutschland nicht so schnell und reibungslos vonstatten, wie wir dies wünschen.
Wenn wir heute Butter, Milchpulver, Fleisch und grundlegende Medikamente nach Russland und in andere Republiken der GUS schaffen müssen, wird jedoch klar, wie weit der Weg für diese Länder bis zu einer vollwertigen Partnerschaft mit den entwickelten Volkswirtschaften des Westens ist. Dabei wird es zunächst in erheblichem Maße um längerfristiges politisch/wirtschaftliches Krisenmanagement gehen. Wir haben aber keine Wahl: Eine vernünftige Alternative zu einer umfassenden und kontinuierlich angelegten Unterstützung der Reformpolitiken in diesen Ländern gibt es nicht. Kosten, die heute eingespart würden, würden in absehbarer Zeit in mehrfacher Höhe auf uns zurückfallen: Blieben die neuen Demokratien allein mit ihren wirtschaftlichen Schwierigkeiten, käme es unweigerlich zu unkontrollierbaren politischen Reaktionen.
Die Folgen wären Flüchtlingsströme in Richtung Westen und in letzter Konsequenz möglicherweise neue, hohe Aufwendungen für militärische Sicherheit. Mit einem Wort: Sich jetzt aufs Abwarten zu beschränken und an der falschen Stelle zu sparen, wäre die denkbar schlechteste Investition in unser aller Zukunft. [...] Zentrale Bedingung für eine erfolgreiche Politik des Westens ist, dass es den neuen Führungen in Mittel-, Ost- und Südosteuropa gelingt, die Menschen vom Sinn und Zweck der eingeleiteten Reformen und der damit verbundenen Erschwernisse zu überzeugen. Wir müssen deshalb alles tun, um die Akzeptanz der politischen und wirtschaftlichen Reformen soweit wie möglich zu verbreitern. Dies tun wir bereits
Mittel- und längerfristig ist der menschliche Faktor das entscheidende Moment, sowohl bei uns, als auch in den Empfängerländern. Daher müssen wir möglichst viele Experten und Berater längerfristig vor Ort arbeiten lassen. Dies gilt im Bereich Wirtschafts- und Verwaltungsreform, im Legislativbereich, bei der Justiz, wie auch bei der Fortbildung von Fach- und Führungskräften der Wirtschaft.
Meine Regierung wird hier einen Schwerpunkt ihrer künftigen Ostpolitik setzen. Die geschichtliche Aufgabe der ökonomischen Zusammenführung Europas muss im Wege einer großen multilateralen Anstrengung erfolgen.
Kein Land allein kann die Lasten der vor uns Siegenden Aufgaben tragen. Auch die EG-Staaten allein können dies nicht. So, wie der gesamte Westen einschließlich Nordamerikas, Japans und Australiens ein Interesse an einem Wandel in Stabilität im östlichen Teil Europas hat, so müssen auch die Lasten verteilt werden.
Ich habe kürzlich vor dem Nordischen Rat in Helsinki vorgeschlagen, die Erfahrungen der Nachkriegszeit mit der OEEC für die Koordinierung bei der Entwicklung des wirtschaftlichen Aufbaus in Mittel- und Osteuropas zu nutzen, und wiederhole diesen Vorschlag hier. Wir sollten dabei von folgenden Schwerpunkten ausgehen:
Erstens: Der Westen muss bereit sein, den neuen Demokratien in viel stärkerem Maße Zugang zu seinen Märkten zu eröffnen, damit Einkünfte geschaffen und eigenes Kapital überhaupt angesammelt werden kann. In diesem Sinne müssen unsere sonstigen finanziellen und wirtschaftlichen Leistungen ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Hilfe zur Selbsthilfe erbracht werden. Dies gilt gerade für die Landwirtschaft.
Zweitens: Die Stabilität der Währung ist ein wesentliches Element für den marktwirtschaftlichen Neubeginn. Hierbei und bei der Umstrukturierung der staatlich verfassten Wirtschaftsordnung kommt den internationalen Finanzinstitutionen eine erstrangige Rolle zu.
Drittens: Auf dem Felde der Wirtschaft stellt sich die Frage nach institutioneller Einbindung. Ich denke, so wie die NATO im Sicherheitsbereich ist die EG auf ökonomischem, zunehmend auch auf politischem Felde das Gravitationszentrum. Die Assoziierung Polens, der CSFR und Ungarns sind substanzielle Schritte, aber auch politische Zeichen, zur Einbeziehung dieser Länder in die künftige Europäische Union. Die volle Mitgliedschaft in der EG wird aber erst erfolgen können, wenn die politischen und ökonomischen Voraussetzungen geschaffen sind.
Viertens: Mit den Staaten der ehemaligen Sowjetunion sollte die EG entsprechend, aber nicht gleichartig verfahren. Nicht Assoziation, sondern spezielle Ostverträge, die über normale Kooperationsabkommen hinausgehen, sind das richtige Mittel. Unser realistisches Ziel muss es sein, die Staaten der GUS bei ihrem Streben nach echter wirtschaftlicher Integration untereinander zu unterstützen. Die ehemalige Sowjetunion, auch wenn sie nicht zuletzt an ihrer zentralen Kommandowirtschaft zerbrochen ist, wird ein einheitlicher Wirtschaftsraum mit Schwerpunkt Europa bleiben.
Unser Ziel muss es sein, eine erweiterte EG und einen Wirtschaftsraum GUS eng miteinander zu verflechten. Diese beiden Wirtschaftsräume sollten langfristig die gemeinsam tragenden ökonomischen Säulen des einen Europas werden, wobei der östliche Kreis die Brücke von Europa nach Asien schlägt. Ich fuge allerdings hinzu: Die neuen Demokratien in der Mitte und im Osten Europas können auf westliche Hilfe vernünftigerweise nur rechnen, wenn sie ihre Militärausgaben den neuen Gegebenheiten anpassen, das heißt, diese drastisch reduzieren. Westlicher Ressourcentransfer nach Osten muss von östlicher Ressourceneinsparung im Militärbereich begleitet werden.
Wir stellen jetzt die Weichen für das 21. Jahrhundert in Europa. Die vor uns liegenden Aufgaben sind schwierig, für ihre Bewältigung gibt es keine Vorbilder in der Geschichte. Wir werden Mut und Solidarität brauchen, um die von mir skizzierten Herausforderungen zu bewältigen. Wir haben die Chance und die Pflicht, an dem einen gemeinsamen Europa zu bauen. Der größte Fehler wäre es, angesichts der Größe der Aufgabe zu resignieren. Die Chancen für die Zukunft Europas sind weitaus größer als die Risiken.
Quelle: Bulletin des Presse- und Informationsamts der Bundesregierung Nr. 38 (8. April 1992).