3. Dezember 1994

Rede anlässlich der Meisterfeier der Handwerkskammer für München und Oberbayern in München

 

Lieber Herr Präsident Traublinger,

Herr Staatsminister,

Herr Oberbürgermeister,

meine Damen und Herren Abgeordnete,

sehr verehrte Damen und Herren

und vor allem liebe Jungmeisterinnen und Jungmeister,

 

wir feiern heute einen für Sie sehr bedeutenden Tag. Das ist Ihre Stunde. Ich freue mich, dass wir als musikalischen Auftakt einen Triumphmarsch von Edvard Grieg gehört haben. Diese fröhliche Musik entspricht dem feierlichen Anlass, den wir begehen. Sie haben allen Grund zur Freude. Daher richte ich mein erstes Wort an Sie, es ist ein Wort der herzlichen Gratulation zu Ihrem Meisterbrief.

Während der letzten Jahre haben sie erlebt, dass „Lehrjahre keine Herrenjahre" sind. Ihren Erfolg haben Sie durch Fleiß, Ausdauer und unermüdliche Arbeit erreicht. Daher können Sie zu Recht stolz auf sich sein. Sie haben sich damit die besten Voraussetzungen für Ihren weiteren persönlichen Lebensweg geschaffen. Diese Stunde ist auch Anlass, innezuhalten und auf Ihren bisherigen Lebensweg zurückzublicken. Danken Sie an dieser Stelle auch denjenigen, die Ihnen besonders nahe stehen. Partner, Familie und Freunde haben Ihnen stets Mut gemacht und Sie hilfreich unterstützt. Dieser Dank gilt auch den Lehrgesellen und Meistern, die Sie in den letzten Jahren bestärkt haben, diesen Weg zu gehen. Durch sie wurden Ihnen Fachkenntnisse, berufliche und persönliche Erfahrungen sowie wertvolle Traditionen des deutschen Handwerks vermittelt.

An dieser Stelle möchte ich die Arbeit der Handwerkskammer würdigen. Ebenso gilt die Anerkennung den Industrie- und Handelskammern in Deutsehland, die im Bereich der Berufsausbildung beispielhafte Leistungen erbracht haben. In ihren Ausbildungseinrichtungen werden den Lehrlingen erstklassige Ausbildung, handwerkliche Fähigkeiten und fachliches Können vermittelt.

Der Große Befähigungsnachweis hat sich in Deutschland bewährt. Der Meisterbrief ist ein Gütesiegel für hervorragende Arbeit und Ausbildung. Mein Wunsch geht an Sie alle, liebe Jungmeisterinnen und Jungmeister, dass Sie sich selbstständig machen und versuchen, eine eigene Existenz aufzubauen. Natürlich weiß ich, dass nicht jeder diesen Schritt gehen wird. Aber ich bitte Sie zu bedenken, ob es für Ihr eigenes Lebensglück letztlich nicht eine größere Herausforderung ist, wenn sie sich sagen: Ich wage den Weg in die Selbständigkeit.

Unser Land braucht junge Menschen, die sich zutrauen, ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen, und die nicht schon im Alter von 20 Jahren ihre Rentenansprüche berechnen. Hier sind diejenigen gefragt, die als Selbständige Beschäftigung für sich und andere schaffen. Dies ist eine wichtige Grundlage für eine gute Zukunft Deutschlands. Die bestandene Meisterprüfung bringt natürlich auch eine neue Verantwortung für Sie mit sich. Ihre Lehr- und Gesellenjahre sind vorbei. Nun haben die Meisterjahre begonnen, und Sie haben zugleich das Recht erworben, junge Menschen auszubilden.

Als Meisterinnen und Meister vermitteln Sie dabei aber nicht nur handwerkliche Fähigkeit und fachliches Wissen. Sicherlich ist es wichtig, dass Sie das, was Sie in fachlicher Hinsicht gelernt haben, an den Lehrling weitergeben. Aber ich sage Ihnen auch, für sich allein gesehen ist das zu wenig. Als Ausbilder geben Sie auch ein persönliches Beispiel, wirken durch die Art des Umgangs mit den Jugendlichen und durch Ihre positive Einstellung zu Leistung und Beruf. Dazu gehört, dass Sie auch einmal einen menschlichen Rat geben und Vorbild sein können. Diese jungen Menschen, die am Anfang ihres Lebenswegs stehen, werden ihnen die Hilfe zu einer positiven und aktiven Lebenseinstellung danken.

Damit gehören Sie zur Leistungselite - nicht durch Geburt, sondern durch eigenes Können -, die für die Zukunft unseres Lands unerlässlich ist. Vor diesem Hintergrund müssen wir uns heute erneut fragen, was wir eigentlich unter Bildung und Ausbildung verstehen. Das duale System der beruflichen Bildung ist ein Qualitätsmerkmal für Deutschland. Hier wird die wichtigste Ergänzung von Theorie und Praxis gewährleistet. Ich setze mich daher leidenschaftlich dafür ein, dass dieses System erhalten bleibt und in das zusammengewachsene Europa eingebracht wird. Jedoch halte ich die jüngste Entwicklung einer zunehmenden Verakademisierung in der Berufswelt für bedenklich. Es stehen heute fast 1,9 Millionen Studenten nur noch 1,6 Millionen Lehrlingen gegenüber. Man muss diese Zahlen zwar relativieren, da die Studienzeit länger dauert als die Lehrzeit. Dennoch bleibt es eine alarmierende Zahl. Ich plädiere hier wohlgemerkt nicht für eine Ausbildungsvision von vorgestern, der zufolge lediglich diejenigen, deren Eltern vermögend sind, das Abitur erreichen und die Hochschule besuchen zu können. Es sollte vielmehr das Leistungsprinzip gelten. Rund ein Viertel der Studenten - in manchen Studienfächern bis zur Hälfte - erlangen keinen Abschluss. Vor allem aber haben diese jungen Menschen die besten Jahre ihres Lebens erfolglos an der Hochschule verbracht, und es fehlt ihnen danach häufig die erforderliche Kraft, einen neuen Ausbildungsweg zu beschreiten. Dies ist menschlich nicht zu vertreten und ökonomisch unsinnig.

Die Bundesregierung wird daher die Gleichwertigkeit beruflicher und akademischer Bildung anstreben. Wir müssen weg von der Denkart, erst beim Akademiker beginne gleichsam der Mensch. Wir brauchen auch in Zukunft Handwerker, Kaufleute und qualifizierte Facharbeiter. Ein Schreinermeister zum Beispiel, der sein Handwerk versteht, erbringt eine wertvolle Leistung, die es entsprechend zu würdigen gilt.

In der vor uns liegenden Legislaturperiode wird die Bundesregierung die Stellung der beruflichen Bildung entscheidend verstärken. Das wird zunächst eine Reform der Ausbildungsforderung mit sich bringen, mit der die berufliche Aufstiegsfortbildung erleichtert wird. Handwerksmeister und Techniker sollen in Zukunft einkommensabhängig gefördert werden, damit mehr unternehmerische Selbständigkeit möglich wird.

Ebenso streben wir die Gleichstellung beruflicher und schulischer Abschlüsse an. Hochschulen in Deutschland sollen in Zukunft für qualifizierte Bewerber auch ohne Abitur geöffnet werden. Für Ihre Zukunft, die Zukunft Ihrer Kinder und für die Zukunft unseres Landes muss jetzt Handlungsfähigkeit gezeigt werden.

Die Sicherheit eines ausreichenden Angebots von Ausbildungsplätzen in Ost- und Westdeutschland bleibt in der beruflichen Bildung nach wie vor vorrangig. Auch in diesem Jahr konnte in ganz Deutschland allen Jugendlichen, die dies wollten und die notwendigen Anforderungen erfüllten, ein Ausbildungsplatz zur Verfügung gestellt werden. In den neuen Bundesländern haben Bund und neue Länder mit der Gemeinschaftsinitiative „Lehrstellen - Ost" in diesem Jahr 14 000 außerbetriebliche Ausbildungsplätze zur Verfügung gestellt.

Ich möchte an dieser Stelle Meister und Unternehmer aufrufen, weiterhin junge Menschen auszubilden. Sie investieren hier in eine Zukunft für Ihren eigenen Betrieb, aber auch für unser Gemeinwesen. Ich bitte Sie, die Verantwortung für die Zukunft der jungen Menschen ernst zu nehmen.

Allerdings darf die Berufsausbildung nicht allein Aufgabe der Handwerksbetriebe sowie der kleinen und mittleren Unternehmen sein. Ich beobachte mit Sorge, dass Großunternehmen sich zunehmend aus der Verantwortung für die berufliche Ausbildung in unserem Land zurückziehen. Dies kann nicht so bleiben. Das Handwerk ist ohnehin besonders stark in der Ausbildung. Jeder dritte Lehrling in Deutschland wird im Handwerk ausgebildet. Ich danke daher jedem, der heute Ausbildungsplätze bereitstellt, ganz herzlich. Wie ich höre, wurden auch in Ihrem Kammerbezirk im abgelaufenen Ausbildungsjahr mehr Lehrverträge abgeschlossen als im Jahr zuvor.

Dass das Handwerk Herzstück unserer Sozialen Marktwirtschaft ist, das wissen wir. Rund 770000 Handwerksbetriebe im gesamten Bundesgebiet mit weit über fünf Millionen Beschäftigten 1994-davon allein in den neuen Ländern über eine Million Beschäftigte - bestätigen dies. Dabei leugne ich nicht, dass wir die Arbeitsplätze in der Großindustrie und bei Bund, Ländern und Gemeinden genauso benötigen. Doch zeigt uns die Tatsache, dass sich jeder siebte Arbeitsplatz in einem Handwerksbetrieb befindet, dass das Handwerk ein wichtiger Wirtschaftsbereich in unserem Land ist. Rund ein Viertel aller mittelständischer Betriebe gehört dem Handwerk an. Damit ist das Handwerk Kernbereich des Mittelstands.

Dennoch ist die Bedeutung des Mittelstands nicht allein an ökonomischen Kennzahlen ablesbar. Der Mittelstand steht für den Inbegriff von Leistung, lebendigem Wettbewerb und Eigenverantwortung. Er ist zugleich Symbol für unternehmerische Freiheit und Selbständigkeit jedes einzelnen. Hier wird Mut zum Risiko eingegangen, hier lebt der Unternehmergeist in unserem Land. Die Menschen zeigen ihre Bereitschaft, mit Tatkraft und Initiative Verantwortung zu übernehmen. Sie reagieren auf wirtschaftliche und gesellschaftliche Änderungen flexibel und vor allem schnell und kreativ.

Es ist wahr, dass in mittelständischen Betrieben am schnellsten und häufigsten Innovationen durchgesetzt, moderne Produkte entwickelt und neue Märkte erschlossen werden. Hier liegt der Grundstein für die Wirtschaftskraft der Zukunft und die Schaffung dauerhafter Arbeitsplätze in unserem Land. Deutschland braucht an der Schwelle zu einem neuen Jahrtausend eine neue Bereitschaft, unternehmerische Initiative zu wagen.

Deutschland steht heute vor neuen, großen Herausforderungen. In der nächsten 25 Jahren wird sich die wirtschaftliche Welt stärker verändern als in den vergangenen 100 Jahren. Es sind weltweite wirtschaftliche Gewichtsverlagerungen zu erkennen. In einigen Ländern Asiens, wie zum Beispiel Südkorea, Taiwan und zunehmend auch China, sind neue Wachstumszentren entstanden.

Beim Gipfeltreffen der asiatisch-pazifischen Wirtschaftskooperationen in Indonesien wurde Mitte November die Einrichtung einer Freihandelszone im pazifischen Raum vereinbart. 18 Staaten dieser Region mit 40 Prozent der Weltbevölkerung erzeugen die Hälfte des Weltsozialprodukts. In sechs Jahren - zur Jahrtausendwende - werden sieben Länder aus dieser Gruppe unter den zehn führenden Wirtschaftsnationen der Welt rangieren. Diese Tatsachen müssen ernst genommen werden. Hier zeigt sich, dass wir nicht schlechter geworden sind, aber andere Länder in großen Schritten aufholen.

Es ist an der Zeit zu begreifen, dass eine erfolgreiche Zukunft für mehr Beschäftigung nicht zum Nulltarif zu haben ist. Auch in Mittel- und Osteuropa bekommt Deutschlands Wirtschaft neue Konkurrenz. Diese Entwicklung erfordern von uns die Bereitschaft zum Umdenken. Es geht um mehr als nur darum, den Aufschwung für die nächsten Jahre zu sichern. Wir dürfen die Zukunft unseres Landes nicht verschlafen.

Natürlich ist es erfreulich, dass der Aufschwung in Deutschland immer mehr Breite und Kraft gewinnt. Die Wachstumsprognose für dieses Jahr wurde vom Sachverständigen kürzlich erneut nach oben korrigiert: Wir erwarten jetzt drei Prozent reales Wachstum für ganz Deutschland. Seit Jahresbeginn ist die Inflation deutlich gesunken. Mit 2,8 Prozent im Oktober hat die Inflationsrate im Westen jetzt die Zwei vor dem Komma erreicht. Schließlich hat der Aufschwung - auch in Ostdeutschland - den Arbeitsmarkt erreicht. Die Arbeitslosigkeit geht deutlich zurück. Dennoch ist sie weiterhin besorgniserregend hoch. Insbesondere der Sockel der Arbeitslosigkeit ist nach jeder Rezession höher. Deshalb müssen wir handeln.

Unser Land befindet sich heute in einer ähnlichen Situation wie zu Beginn der fünfziger Jahre. Damals ging es um den Aufbau der ehemaligen Bundesrepublik und um das Ziel, Wohlstand für jeden zu erreichen. Jetzt ist es an der Zeit, das wiedervereinigte Deutschland für die Zukunft fit zu machen. Es geht darum, die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmer zu verbessern und damit eine Grundlage für neue, zukunftssichere Arbeitsplätze zu schaffen.

Dieser Verantwortung kann und darf sich niemand entziehen. Beschäftigung für alle muss unser gemeinsames Ziel sein. Dazu sind Unternehmen, Gewerkschaften und Staat gemeinsam gefordert. Ich habe deshalb mit den Spitzenvertretern von Wirtschaft und Gewerkschaften gemeinsame Gespräche vereinbart, um wichtige Zukunftsfragen, insbesondere die Bewältigung der Arbeitsmarkt- und Beschäftigungsfragen, zu erörtern.

Für die Zukunftssicherung Deutschlands ist entscheidend, dass privater Initiative, Leistungskraft und Ideenreichtum mehr Freiräume gegeben werden. Das heißt vor allem, den Staat schlanker zu machen und Bürokratie abzubauen. Die Bürger sind durch eine Unzahl von Formularen und Anträgen, Veranlagungen und Erklärungspflichten eingeengt. Investoren werden durch eine Flut von Gesetzen, Verordnungen und Vorschriften traktiert. Dadurch wird die Schaffung neuer Arbeitsplätze verzögert oder gar verhindert.

Mittelständische Unternehmen und Handwerksbetriebe sind dabei besonders stark betroffen. Sie können sich keine eigenen Beraterstäbe leisten, um immer kompliziertere Rechtsvorschriften und Genehmigungsverfahren zu beherrschen.

Die Bundesregierung wird den Bürokratieabbau in den nächsten Jahren fortsetzen. Sie wird die Zahl der Bundesbehörden verringern und deren Personalbestand um ein Prozent jährlich senken. Das Steuerrecht soll spürbar vereinfacht werden. Die Instrumente der Wirtschaftsforderung sind zu straffen und Antrags verfahren zu erleichtern. Statistische Auskunftspflichten der Unternehmen müssen auf das absolut Notwendige reduziert werden. Die Planungs- und Genehmigungsverfahren werden wir weiter verkürzen. Vieles muss auf dem Prüfstand gestellt werden.

„Schlanker Staat" bedeutet aber ebenso, dass der Anteil der Staatsausgaben am Sozialprodukt zurückgeführt werden muss. Wir wollen wieder eine Staatsquote von 46 Prozent wie vor der Wiedervereinigung erreichen. Der strikte Kurs der Haushaltskonsolidierung wird fortgesetzt. Sparsamkeit heute schafft finanzielle Spielräume für morgen. Damit nehmen wir auch die Verantwortung gegenüber unseren Kindern und Enkeln wahr.

Die Begrenzung der Staatsausgaben ist Voraussetzung für die schrittweise Verminderung der Steuer- und Abgabenlasten von Bürgern und Unternehmen. Damit werden wir an unser Erfolgsrezept der achtziger Jahre anknüpfen. Damals wurden die Staatsquote verringert und die Steuern gesenkt. Das Ergebnis waren über drei Millionen neue Arbeitsplätze.

Den Solidaritätszuschlag werden wir baldmöglichst abbauen und das Existenzminimum den Bürgern ab 1996 steuerlich freistellen. Die Steuerreform wird fortgesetzt. Die Zielsetzung ist dabei, das Schaffen von Arbeitsplätzen gerade auch im Mittelstand zu erleichtern. Das Investieren in Arbeitsplätze darf Unternehmen nicht belasten. Die Unternehmenssteuerreform ist ein wichtiger Beitrag zum weiteren Abbau der Arbeitslosigkeit. Unternehmen werden deshalb gezielt dort entlastet werden, wo sie im internationalen Vergleich wettbewerbsverzerrende Sonderlasten tragen. Das betrifft insbesondere die Gewerbekapitalsteuer, die Vermögenssteuer und die Gewerbeertragssteuer.

Den Staat schlanker zu machen heißt aber nicht, ihn zu schwächen. Die Konzentration auf das Wesentliche macht ihn stark, die Aufgaben entschlossen anzugehen, die er wirklich lösen muss. Ich nenne hierzu ein wichtiges Beispiel: Die Aufgabe des Staates, Innere Sicherheit zu garantieren. Die Steuerzahler erwarten zu Recht, dass der Staat seine Einnahmen vor allem auch für den Schutz von Leben, Freiheit, körperlicher Unversehrtheit und Eigentum seiner Bürger verwendet. Zur Lösung von Aufgaben dieser Art muss der Staat vor allem in der Lage sein können.

Für die Sicherung der Zukunft unseres Landes und neue Arbeitsplätze in Deutschland reicht es aber nicht allein aus, dem Staat eine Schlankheitskur zu verpassen. Wir brauchen die Erneuerung und Zukunftsorientierung von Wirtschaft und Gesellschaft insgesamt. Zuallererst ist das Umdenken jedes einzelnen gefordert. Statt lähmendem Status-quo-Denken ist jetzt fortschrittsorientiertes Zukunftsdenken gefragt.

Wir leben heute nicht in einer „Risikogesellschaft", sondern können von einer „Chancengesellschaft" sprechen. Wann je hatten die jungen Menschen in unserem Land mehr Chancen als heute? Die jungen Männer hier im Saal gehören einer Generation an, die nach menschlichem Ermessen Zeit ihres Lebens in keinen Krieg mehr ziehen wird. Das ist Grund zur Dankbarkeit.

Der heutige Wohlstand kann ohne eine positive Einstellung unserer Gesellschaft zum technischen Fortschritt nicht dauerhaft gesichert werden. Der Industrie- und Technologie Standort Deutschland kann sich beispielsweise eine pauschale Ablehnung von Chemie, Gentechnologie oder Kernenergie nicht leisten. Sicherlich ist nicht alles, was heutzutage machbar ist, auch ethisch zu vertreten. Aber Forschung, Technologie und Innovation sind die wichtigsten Quellen für Wachstum und Arbeitsplätze von morgen. Gerade als rohstoffarmes Land ist Deutschland besonders darauf angewiesen, dass die Menschen ständig neues Wissen und neue Fertigkeiten lernen und auch anwenden.

Wir müssen daher auf Erneuerungen setzen. Bei ethisch verantworteter Nutzung der Möglichkeiten bieten sich große Chancen, Deutschlands Zukunft erfolgreich zu gestalten. Die Bundesregierung wird deshalb zum Beispiel trotz ihrer Sparzwänge den Forschungsetat im Bundeshaushalt überproportional steigern. Der Technologietransfer zwischen Wissenschaft und Wirtschaft muss verstärkt werden. Ich werde daher einen „Rat für Forschung, Technologie und Innovationen" ins Leben rufen.

Zugleich ist es auch wichtig, jenen Arbeitsplätze anzubieten, die geringere Chancen am Arbeitsmarkt haben. Ich spreche zum Beispiel von älteren Männern und Frauen, Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen und denjenigen, die mit gewachsenen Qualifikationsanforderungen der modernen Arbeitswelt nicht Schritt halten.

Das „Ausrangieren" der Fünfzigjährigen und Älteren mit dem Hinweis, dass sich Umschulung nicht mehr lohnt, ist nicht akzeptabel für mich. Ältere Fachkräfte dürfen nicht durch die Zweckentfremdung der Vorruhestandsregelung in Unternehmen zu Lasten der Sozialversicherung ausgemustert werden. Behinderte und weniger Qualifizierte in Beschäftigungsmaßnahmen abzuschieben, kann keine Lösung sein. Wir leben in einer Sozialen und nicht Freien Marktwirtschaft. Unser Land braucht junge erfolgreiche Menschen, die sich etwas zutrauen. Wir brauchen aber ebenso auch die Älteren, denn ihre Lebenserfahrung darf uns nicht verlorengehen.

Daher gilt es, neue Beschäftigungsmöglichkeiten zu nutzen. Wir wollen beispielsweise private Haushalte als Arbeitgeber für den regulären Arbeitsmarkt gewinnen. Dazu werden steuerliche Abzugsmöglichkeiten etwa für Pflege-. Haushalts- und Familienhilfen erweitert und verbessert werden.

Die Offensive für mehr Flexibilität im Arbeitsleben und mehr Teilzeitbeschäftigung muss gemeinsam mit der Wirtschaft und den Gewerkschaften fortgesetzt werden. Darüber hinaus wollen wir Sozialhilfeempfängern eine Brücke für den Einstieg in die Beschäftigung schlagen. Die Möglichkeit vorübergehend geringer entlohnter Beschäftigung kann ihnen beispielsweise ein Sprungbrett zu dauerhafter Beschäftigung bieten. Für die Betroffenen ist es wichtig, sich aus der Abhängigkeit von der Sozialhilfe befreien zu können.

Zugleich wird damit ein Beitrag für den unumgänglichen Umbau des Sozialstaats geleistet. Ich spreche hier nicht vom Abbau. Aber rund ein Drittel unseres Bruttosozialprodukts wird heute für soziale Leistungen ausgegeben. Dieser Anteil ist nicht mehr zu steigern. Trotzdem gibt es in Deutschland viele Menschen, die in materieller Not stehen oder in Einsamkeit leben.

Soziale Hilfe muss daher auf diejenigen konzentriert werden, die unsere Unterstützung am dringendsten brauchen. Ich verbinde dies mit einem Aufruf, den auch Sie, Herr Präsident, an die Jungmeisterinnen und Jungmeister gerichtet haben: Engagieren Sie sich nicht nur in Ihrem Beruf, sondern auch für andere, zum Beispiel diejenigen, die aus Gründen, die sie nicht zu vertreten haben, nicht so belastbar sind wie Sie. Hier gibt es, ebenso wie auch in anderen Bereichen, viel zu tun. Deshalb meine Bitte an Sie: Machen Sie mit in Vereinen, in der Politik oder in Ihrer Handwerkskammer, um auch anderen helfen zu können.

Es geht heute darum, Deutschland eine gute Zukunft zu sichern. Vorrangig sind dabei die Schaffung neuer, zukunftssicherer Arbeitsplätze, die Bewahrung unseres Wohlstands und der sozialen Sicherheit. Wir wollen die innere Einheit Deutschlands vollenden. Gleichzeitig wollen wir die europäische Einigung unumkehrbar machen, dies ist auch ein Werk des Friedens in Interesse unserer Kinder und Enkel.

Es kommt aber nicht nur auf die Politik an. Entscheidend sind die Menschen - ihr Denken, ihre Einstellung und ihr Engagement. Dazu gehören Weltoffenheit, Fleiß und Leistungsbereitschaft, aber auch Mitmenschlichkeit und Hilfsbereitschaft. Die neunziger Jahre sind das glücklichste Jahrzehnt für die Deutschen. Lassen sie uns heute alle gemeinsam daran arbeiten, auch die Chancen des kommenden Jahrhunderts zu nutzen.

Liebe Jungmeisterinnen und Jungmeister, Sie werden Ihren Erfolg heute sicherlich, guter bayerischer Tradition entsprechend, feiern. Sie tun recht daran. Nur wer Feste feiern kann, kann auch feste arbeiten. Halten Sie aber auch mal inne, heute ist ebenso ein Tag der Besinnung.

Ich wünsche mir für Sie, dass Ihnen der Meisterbrief hilft, Ihre zukünftige Existenz so zu gestalten, wie Sie es sich vorstellen. Sie treffen wichtige Entscheidungen für Ihren weiteren persönlichen Lebensweg. Mit Ihrem Meisterbrief haben Sie eine gute Perspektive vor sich. Daher möchte ich Ihnen zurufen: Genießen Sie diesen glücklichen Tag unbeschwert, und gehen Sie mit Mut und Zuversicht an die vor Ihnen liegenden Aufgaben. Für Ihren weiteren Weg wünsche ich Ihnen alles Gute und Gottes Segen.

Quelle: Bulletin des Presse- und Informationsamts der Bundesregierung Nr. 116 (14. Dezember 1994).