3. Mai 1991

Ich setze auch jetzt auf Sieg

 

Interview mit Christoph Bertram, Nina Grunenberg und Werner A. Perger, veröffentlicht in „Die Zeit"

DIE ZEIT: Herr Bundeskanzler, Sie haben in Ihrem politischen Leben schon viele Berg- und Talfahrten erlebt. Einsamen Höhepunkten folgten katastrophale Niederlagen. Wie lange wollen Sie das noch machen? Oder unterschätzen wir Sie mit dieser Frage schon wieder?

KOHL: Sie unterschätzen mich, solange ich mich erinnern kann.

Ich bin jetzt achtzehn Jahre Vorsitzender der Bundespartei. Wenn ich alle katastrophalen Prognosen aus dieser Zeit zusammennehme, schaue ich mir meine Zukunft mit großer Ruhe an. Wie lange ich das noch mache, weiß ich nicht. Ich bin keine Spur von amtsmüde, sondern fühle mich - wie man heute sagt - motiviert wie selten zuvor in meinem Leben. Denn ich kann im Moment an der Realisierung eines Traums mitwirken, den ich seit meiner Schülerzeit hatte.

DIE ZEIT: Der Traum Deutschland und der Traum Europa?

KOHL: Als ich Ende 1946 zur CDU und zur Jungen Union kam, haben wir angefangen, von deutsch-französischen und europäischen Visionen zu reden. Wir haben uns 1948 mit jungen Franzosen an der deutschfranzösischen Grenze getroffen, haben Lieder gesungen und geglaubt, so könnten wir Europa schaffen. Die Idee von der deutsch-französischen Aussöhnung und von Europa war für mich immer ein ganz wichtiges Anliegen.

DIE ZEIT: Wichtiger als die nationale Frage?

KOHL: Die Frage der nationalen Einheit war in der Pfalz damals ebenfalls ganz wichtig - auch vor dem Hintergrund von manchen separatistischen Bestrebungen. Vor der ersten Bundestagswahl 1949 haben wir mit der pfälzischen CDU eine große Kundgebung veranstaltet - da war ich Oberprimaner und bin mit dem Lautsprecherwagen herumgefahren. Zu jener Zeit hatten die Franzosen noch das Singen des Deutschlandliedes verboten, ein französischer Offizier saß zur Kontrolle dabei. Der spätere Kultusminister Albert Fink, der die Versammlung leitete, aber hat zum Schluss in den Saal gerufen: „Auch wenn es dem Oberst nicht gefällt, wir beenden unsere Kundgebung mit der deutschen Nationalhymne!"

Da haben Sie die zwei Ziele, die mein politisches Leben ungeachtet von Höhen und Tiefen sehr geprägt haben. Dass ich das jetzt erlebe und gar in diesem Amt, war nie vorherzusehen.

Es ist für mich eine phantastische Sache, dass im letzten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts die beiden Ziele, die die gescheiten Männer und Frauen im Parlamentarischen Rat mit ihren Worten in der Präambel des Grundgesetzes verankert haben - deutsche Einheit und europäische Einigung -, verwirklicht werden.

DIE ZEIT: Hinterlässt es denn gar keine Spuren, wenn man gestern noch der Held des Jahres war und heute der Schurke sein soll?

KOHL: Überhaupt nicht. Im übrigen sind weder „Held" noch „Schurke" passende Worte.

DIE ZEIT: Sind Sie gegen Krisen so resistent?

KOHL: Ich will es so formulieren: Wenn man achtzehn Jahre Vorsitzender einer großen Volkspartei ist und nicht gelernt hat, Niederlagen wegzustecken, ist man fehl am Platze. Ich habe aber auch keinen Grund zu jammern. Es hat mich niemand gezwungen, Parteivorsitzender zu werden, und erst recht hat mich niemand gezwungen, Bundeskanzler zu werden.

Natürlich gibt es auch immer wieder Rückschläge. Entgegen allen Empfehlungen habe ich 1976 gesagt: „Ich gehe nach Bonn, ich bin nicht nur Kanzlerkandidat, sondern auch Oppositionsführer" - und dann kamen aus heiterem Himmel die Kreuther Beschlüsse. Damit hatte ich nun wirklich nicht gerechnet.

DIE ZEIT: Das ist jetzt fünfzehn Jahre her. Aber sind Sie heute, angesichts der jüngsten Unzufriedenheit in der CSU, noch so sicher, dass Ihnen das nicht jetzt auch passieren kann?

KOHL: Die Situation ist heute eine völlig andere als damals. CDU und CSU sind gemeinsam in einer Regierungskoalition und leisten dort innen- wie außenpolitisch eine außergewöhnlich erfolgreiche Arbeit. CDU und CSU sind eigenständige Parteien, jedoch als Schwesterparteien seit jeher denselben Zielen und Werten verpflichtet. Und das kommt nicht zuletzt in meiner engen und freundschaftlichen Zusammenarbeit mit Theo Waigel zum Ausdruck.

DIE ZEIT: Sie bleiben also bei dem Motto „Weiter so!"?

KOHL: Wenn Sie sich etwas vorgenommen haben, müssen Sie den Wagen ziehen, egal ob die Sonne scheint oder ob es stürmt und schneit. Die Bilder wechseln ganz rasch: An einem Tag sind Sie der „neue Bismarck" - ein absoluter Unsinn, das bin ich nicht -, am anderen Tag ein „Versager". Das bin ich ganz gewiss nicht. Es ist jetzt ganz klar voraussehbar, wie die Entwicklung in den neuen Bundesländern sein wird. Es geht aufwärts, und in drei, vier Jahren werden die Leute natürlich sagen: „Der hat ja doch recht behalten." Und das wird sich ja auch bei der Bundestagswahl 1994 zeigen.

DIE ZEIT: Aber wir sprechen mit Ihnen nach einer schweren Niederlage der CDU in Rheinland-Pfalz - in einer Situation zumal, in der die Schwierigkeiten der deutschen Einheit offensichtlich sind. Wieweit werden Sie Ihre beiden Träume in Ihrer angeschlagenen Situation verwirklichen können?

KOHL: Ich bin doch nicht angeschlagen. Wo denn? Wir haben eine Wahl verloren. Das ist bitter, auch für mich - zumal in meinem Heimatland Rheinland-Pfalz. Dennoch ist die Grundlinie der Politik richtig, und für die kämpfe ich.

DIE ZEIT: Aber Ihr Fundament wankt.

KOHL: Wo denn? Wir haben jetzt ein Tief. Aber da kommen wir wieder heraus. Wie oft habe ich schon den Wind frontal ins Gesicht bekommen. Ich bin nun einmal der Parteivorsitzende - und der bin ich nicht zur Dekoration, sondern ich bin es wirklich, zum Leidwesen vieler.

DIE ZEIT: Um Ihre Partei steht es aber nicht besonders.

KOHL: Die CDU hat schon so manchen Sturm überstanden. Wir werden selbstverständlich die Lage sehr genau analysieren und aus Fehlern, die wir gemacht haben, die notwendigen Konsequenzen ziehen.

DIE ZEIT: Konservative Parteien haben das Messer schneller zur Hand.

KOHL: Sie wollten wohl „bürgerliche Parteien" sagen - aber was meinen Sie denn mit dem Messer? Das Messer ist doch auf dem Parteitag 1989 in Bremen ausprobiert worden. Und was ist dabei herausgekommen? Also!

DIE ZEIT: Selbst Siegfried hatte noch eine verwundbare Stelle.

KOHL: Ich bin weder Siegfried noch unverwundbar. Die große Mehrheit meiner Partei weiß, dass wir eine Durststrecke durchstehen müssen, dass wir große Schwierigkeiten zu bewältigen haben. Aber sie weiß auch, dass die Vollendung der deutschen Einheit eine einmalige Herausforderung ist.

Und sie weiß ebenso gut, dass sie mit diesem Mann an der Spitze immerhin zur Regierungsverantwortung gekommen ist. Mit diesem Partei Vorsitzenden ist ein CDU-Kanzler an die Macht zurückgekehrt, haben wir in drei Bundestagswahlen klare Mehrheiten erzielt, und die SPD hat während meiner Amtszeit von Bundestagswahl zu Bundestagswahl an Boden verloren.

Wir haben auch mit Blick auf die deutsche Einheit die Mehrheit gewonnen - bei der Volkskammerwahl am i8.März 1990 und bei der ersten gesamtdeutschen Bundestagswahl am 2. Dezember 1990. Diese Mehrheit hing doch nicht davon ab, ob ich gesagt hätte: „Ich weiß noch nicht, ob wir die Steuern erhöhen, aber ich schließe nichts aus." Das wäre gewiss klüger gewesen, denn wir hätten deswegen sicherlich keine Stimmen verloren. Den Wahlerfolg haben wir errungen, weil die Menschen auf unsere Kraft zur Gestaltung der deutschen Einheit vertrauen. Und sie werden uns bei der nächsten richtigen Gelegenheit - und das ist vor allem das Jahr 1994 mit insgesamt achtzehn Wahlterminen - ihr Vertrauen schenken.

DIE ZEIT: Wir schauen uns die anderen Parteien an und haben schon das Gefühl, dass es bei denen, im Gegensatz zur CDU, unterhalb der obersten Führungsebene eine Reihe von Leuten gibt, die für die Zukunft zu Kristallisationsfiguren werden können.

KOHL: Wir haben doch viele ausgezeichnete Leute. Wahr ist aber auch: Alle großen Parteien haben zunehmend Probleme mit qualifiziertem Nachwuchs. Der Stressberuf des Politikers schreckt viele ab. Es gibt in unserem Volk viele politische Begabungen, aber leider stellen sich zu wenige zur Verfügung. Wer bloß aus materiellen Gründen in die Politik geht, gehört schon deswegen davongejagt, weil er die Grundrechenarten nicht beherrscht.

Im übrigen habe ich meine Erfahrungen: Wie war es denn 1972? Wer wollte da Parteivorsitzender werden? Damals haben viele gesagt, die CDU werde eine Dreißig-Prozent-Partei, und bei der Bundestagswahl 1976 haben wir dann 48,6 Prozent erreicht. Und wo steht geschrieben, dass wir uns bei der nächsten Bundestagswahl in dreieinhalb Jahren in dem Tal befinden werden, das wir jetzt bei dieser Landtagswahl in Rheinland-Pfalz erlebt haben? Ich habe, als ich CDU-Bundesvorsitzender wurde, auf Sieg gesetzt, ich setze auch jetzt auf Sieg.

DIE ZEIT: Kein Einschnitt also, nur eine Durststrecke? Der Kurs wird gehalten?

KOHL: Für mich ist Rheinland-Pfalz eine bittere Niederlage, auch emotional. Dies ist das Bundesland, das ich mit aufgebaut habe. Glauben Sie, das wischt man einfach weg?

DIE ZEIT: Man hat den Eindruck, als ob Sie es schon weggewischt hätten.

KOHL: Nein, dieser Eindruck wäre total falsch. Die innere Bindung an das Land, an die Menschen, an die Partei dort ist das eine - und dass die Niederlage bitter ist und schmerzt, ist ebenfalls klar. Unser Gespräch betrifft jedoch nicht meine persönliche Befindlichkeit, sondern die Frage, wie es weitergeht. Ich bestreite nicht, dass ich in Details angreifbar bin. Aber wenn ich die Grundzüge der Politik betrachte, die ich vertrete - im Inneren und nach außen -, dann weiß ich nicht, warum ich die Flagge einziehen sollte. Ich nenne nur unsere Erfolge bei der Abrüstung, die Fortschritte in der Europäischen Gemeinschaft, die Aussöhnung mit allen unseren Nachbarn, den ununterbrochenen wirtschaftlichen Aufschwung in den vergangenen acht Jahren, die Festigung und den Ausbau unserer sozialen Sicherungssysteme, verstärkte Leistungen für Familien mit Kindern und unsere enormen Anstrengungen zum Schutz der Umwelt und der natürlichen Lebensgrundlagen. Die Sozialdemokraten sind jetzt dabei, sich neu zu formieren. Ich habe nichts dagegen. Wenn die Sozialdemokratie wieder stärker wird und meine eigene Partei sich dadurch herausgefordert fühlt, ist das eine gute Voraussetzung, die CDU zur Höchstleistung zu bringen.

DIE ZEIT: Das Wahlergebnis von Rheinland-Pfalz also als ein Anstoß zur Besserung?

KOHL: Da gibt es gar keinen Zweifel. In Rheinland-Pfalz waren wir 43 Jahre in der Regierungsverantwortung. Es ist das einzige Bundesland, wo die CDU ohne Unterbrechung so lange in der Verantwortung war - ich selbst habe ja meinen Anteil daran. In einer so langen Zeit - das sage ich jetzt ohne Vorwurf- fahren sich natürlich manche Strukturen fest.

DIE ZEIT: Ist denn Rheinland-Pfalz nur eine temporäre Niederlage für den Kanzler und seine Partei oder vielmehr Ausdruck für einen strukturellen Niedergang der CDU?

KOHL: Es gibt - wie die letzte Bundestagswahl zeigt - keinen strukturellen Niedergang der CDU. Wahr ist, das Verhalten der Wählerschaft hat sich in der Bundesrepublik ab Mitte der sechziger Jahre geändert. Traditionelle Bindungen sind schwächer geworden. Früher war eine Landtagswahl für viele eine Grundsatzentscheidung. Heute ist man eher bereit, bei einer solchen Wahl auch einmal einen „Denkzettel" zu erteilen - wozu unser System mit seinen ständigen Landtags- und Kommunalwahlen ständig Gelegenheit bietet. Nur in den neuen Bundesländern sind die Wahltermine jetzt noch gebündelt.

DIE ZEIT: Sollte man sie nicht lieber gebündelt lassen und die im Westen auch bündeln?

KOHL: Ich halte das verfassungsrechtlich nicht für machbar - zum Beispiel haben die einen Legislaturperioden von vier, die anderen von fünf Jahren. Daran lässt sich von Bundes wegen nichts ändern. [...] Bei uns sind praktisch dauernd Wahlen, und auch das muss bei Entscheidungen bedacht werden. Aber eine Bundesregierung kann ihre Verantwortung nur wahrnehmen, wenn sie auch zu unpopulären Entscheidungen bereit ist - und das heißt: Sie müssen bei Regionalwahlen dafür bezahlen. In Rheinland-Pfalz spielte beides eine Rolle: Hausgemachtes und Fehler, die wir in Bonn gemacht haben.

DIE ZEIT: Was waren Ihre Fehler?

KOHL: Wir hätten - das war nicht primär mein Fehler - die Regierungsbildung vor Weihnachten beenden müssen.

DIE ZEIT: Hatten Sie das nicht vorgehabt?

KOHL: Ja, sicher, aber manche haben geglaubt, dass sie, wenn es länger dauert, in den Koalitionsverhandlungen besser abschneiden.

Zudem haben ich und andere nicht erwartet, dass der Golf krieg sich so entwickelt. Ich hatte, nicht zuletzt aufgrund meiner Informationen, gehofft, dass der irakische Diktator Einsicht in die Realitäten zeigen würde. Am Dienstag und Mittwoch vor dem Ausbruch der Kampfhandlungen habe ich noch stundenlang mit Bush und Gorbatschow hin und her telefoniert, auch um Botschaften zu übermitteln. Ich hoffte, dass Saddam Hussein auf den letzten Vermittlungsversuch Gorbatschows eingehen würde. Denn er wusste zu diesem Zeitpunkt ganz genau, was da gegen ihn aufmarschiert war.

DIE ZEIT: Da haben nicht nur Sie sich getäuscht. Haben Sie sich auch über die Kosten der deutschen Einheit falsche Vorstellungen gemacht?

KOHL: Ich war davon überzeugt, dass wir das ohne Steuererhöhung hinbekommen würden. Es gab zwei Gründe dafür, dass es dann doch anders kam. Der eine Punkt war: Niemand von uns hat die Dimension der Kosten des Golfkriegs richtig eingeschätzt.

DIE ZEIT: Steuererhöhung also nur wegen des Golfkriegs?

KOHL: Die Kosten des Golfkrieges haben uns nicht allein hineingerissen. Ein zweiter Punkt kam hinzu: Wir haben im Jahre 1990 im Osthandel der neuen Bundesländer noch 36 Milliarden Mark erwirtschaftet. Experten rechneten zwar bereits im Herbst letzten Jahres mit einem spürbaren Rückgang, aber den nahezu vollständigen Zusammenbruch konnte niemand voraussehen. Ich selbst ging von einer Halbierung aus und habe ein Volumen von bis zu fünfzehn Milliarden Mark für denkbar gehalten.

DIE ZEIT: Hat bei Ihrer Einstellung zur Frage, ob die Wiedervereinigung eine Steuererhöhung nötig macht, auch die Überzeugung mitgespielt, dass die Bürger keine Opfer bringen wollen?

KOHL: Niemand zahlt gern mehr Steuern.

DIE ZEIT: Auch nicht, wenn man ihn richtig anspricht?

KOHL: Die Deutschen sind sehr wohl opferbereit, das beweisen sie dauernd. Denken Sie an die gewaltige Bereitschaft, etwas zu tun, als bekannt wurde, wie schlecht es den Menschen in der Sowjetunion geht. Aber ich bin zutiefst davon überzeugt, dass der wirtschaftliche Erfolg der Bundesrepublik in den letzten Jahren auch auf die Steuersenkung zurückzuführen ist. Deshalb ist mir die Entscheidung schwergefallen, selbst einer zeitlich begrenzten Steuererhöhung zuzustimmen.

DIE ZEIT: Hätte es aber nicht auch einen pädagogischen Wert haben können, wenn Sie der Opferbereitschaft der Deutschen mehr vertraut hätten?

KOHL: Darüber kann man diskutieren. Ich habe aber auch im Wahlkampf klar gesagt, dass wir durch ein tiefes Tal müssen, dass die deutsche Einheit Opfer verlangt, dass das harte Arbeit kostet, dass der Wohlstand auch in den alten Bundesländern nicht vom Himmel gefallen ist. Ich habe das alles immer gesagt, und ich habe es vor Millionen Menschen gesagt.

DIE ZEIT: Aber das Ausmaß dessen, was zu tun ist, hat Sie überrascht?

KOHL: Überrascht bin ich nicht wegen der wirtschaftlichen Probleme. Die können wir auch lösen. So groß die Schwierigkeiten heute auch sind, wird es - dies ist meine feste Überzeugung - zu einem neuen „Wirtschaftswunder" - ich mag das Wort nicht - kommen. Die Probleme liegen tiefer. Ich nenne nur wenige Beispiele: Das SED-Regime hat den Mittelstand in den östlichen Bundesländern zerstört, die Akademikerschaft, vor allem in den Geisteswissenschaften, ist in einer bestimmten Richtung ausgebildet und geprägt worden, hervorragende Leute sind vor und nach dem Mauerbau gegangen. Die fehlen jetzt natürlich alle.

Und wir haben uns auseinandergelebt: In der „alten" Bundesrepublik herrscht ein beachtlicher Wohlstand. Es gibt hier allerdings auch zum Teil eine nur schwererträgliche Arroganz im menschlichen Umgang mit den Landsleuten in den neuen Bundesländern. Dort gibt es umgekehrt verständliche Angst, wenn in einer Stadt dreißig, vierzig, im Einzelfall vielleicht fünfzig Prozent der arbeitenden Menschen den Arbeitsplatz wechseln oder sich umschulen lassen müssen.

DIE ZEIT: Oder keine Arbeit finden.

KOHL: Die meisten davon werden in Zukunft Arbeit finden. Sie haben nur im Augenblick keine, und viele können das Licht am Ende des Tunnels noch nicht erkennen. Hinzu kommen aber noch andere Probleme. [...]

Aber was ist die Alternative? Wir können doch die Uhr nicht zurückdrehen. Also müssen wir den Blick nach vorn richten, die Ärmel hochkrempeln und alle mit anpacken.

DIE ZEIT: Warum haben Sie so lange gebraucht, bis Sie nach der Wahl wieder in die neuen Länder gegangen sind? Gab es bei Ihnen innere Vorbehalte?

KOHL: Nein, selbstverständlich nicht. Ich verstehe mich immer auch als Sachwalter der Interessen der Menschen in den neuen Bundesländern. Im übrigen war ich bereits im Januar mehrmals dort, im Brandenburgischen, dann auch im Ostteil Berlins.

DIE ZEIT: Aber es waren keine öffentlichen Auftritte.

KOHL: Aus zwei Gründen habe ich keine öffentlichen Veranstaltungen gemacht: Der erste Grund war, dass ich in der Tat hier enorm viel in Bonn zu arbeiten hatte. Wir mussten die Koalitionsverhandlungen abschließen, parallel dazu beschäftigte uns der Golfkonflikt. Dann war es für mich das wichtigste - und das hat in unserem föderalen Staat lange gedauert -, das Hilfspaket für die neuen Bundesländer zusammenzuschnüren. Denn ich kann ja nur dorthin gehen, wenn ich den Landsleuten sagen kann, was wir konkret tun. Als dann das „Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost" beschlossen war, alles zusammengerechnet immerhin über hundert Milliarden Mark, bin ich in die neuen Bundesländer gefahren.

DIE ZEIT: Man hatte den Eindruck, Sie seien erst unter Druck gegangen.

KOHL: Ach was, das wurde zwar geschrieben, aber das war falsch. Wenn man mich unter Druck setzen will und jemand öffentlich auf einer Demonstration sagt: „Der muss jetzt kommen", tue ich es allein deswegen nicht. Aber ich bin diesmal wirklich, bei aller physischen Kraft, pausenlos im Stress gewesen. Und dann bin ich in den Urlaub gefahren, weil ich zum einen meine jährliche Fastenkur immer um die Osterzeit mache und zum zweiten weil dies eine gute Gelegenheit ist, die Gedanken zu ordnen. [...] Bevor ich aus Bonn abreiste, waren die sieben Termine für meine Besuche in den neuen Bundesländern bis zum Juni in meinem Kalender schon längst blockiert.

DIE ZEIT: Sie haben selbst gesagt, dass für Sie die wirtschaftliche Seite der Einheit nicht das entscheidende Problem ist. Es sind vielmehr die menschlichen, geistigen, ethischen Fragen, die die deutsche Vereinigung so schwierig machen. Bedarfes da nicht einer Art von politischer Führung, die über das Wirtschaftliche hinausgeht?

KOHL: Einverstanden.

DIE ZEIT: Und haben Sie selbst das Gefühl, dass Sie das geleistet haben?

KOHL: Das kann kein Mensch von sich sagen, und das kann auch niemand innerhalb weniger Monate erwarten. Ich muss doch noch einmal in Erinnerung rufen: Die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion trat am 1. Juli 1990 in Kraft. Die staatliche Einheit ist am 3. Oktober vollendet worden, die Bundestagswahl fand am 2. Dezember statt - all das ist weniger als ein Jahr her. Wenn die Menschen Angst um ihren Arbeitsplatz haben, wenn Betriebe schließen müssen, geht es zunächst darum, die wirtschaftlichen Probleme zu lösen. Mit der früheren DDR durchleben wir jetzt einen Zeitabschnitt, der in manchem vergleichbar ist mit der Lage im April 1949. Und ich möchte daran erinnern, dass - wie Sie wissen - die Union 1953, als sich unsere Politik als richtig erwiesen hatte, nach einem bösen Stimmungstief die Bundestagswahl gewonnen hat.

Und im Gegensatz zu damals operieren wir heute mit dem vollen Elan einer hervorragenden Konjunktur in den westlichen Bundesländern. Und ich behaupte sogar, dass die Produktivität vieler Betriebe, die jetzt in den neuen Ländern neu entstehen, die Produktivität der Betriebe in der „alten" Bundesrepublik übertrifft. Denn dort entstehen modernste Anlagen.

DIE ZEIT: Wie ernst ist es Ihnen mit dem Versuch, zumindest formal mit den Sozialdemokraten zu einem Konsens zu gelangen?

KOHL: Die Art des Umgangs, wie wir ihn in den vergangenen Jahren zwischen Regierung und Opposition hatten, die gelegentlich totale Polarisierung fand und finde ich einfach unsinnig. Das fing ja schon 1969 an, und das lag wirklich nicht an mir.

DIE ZEIT: Sie haben letztes Jahr noch Wert darauf gelegt.

KOHL: Aber im letzten Jahr hatte ich doch gar keine Alternative.

DIE ZEIT: Weil Wahljahr war.

KOHL: Nein, nicht deshalb, die Behauptung ist eine Fama. Ich will das einmal richtigstellen: Im Januar letzten Jahres war ich in meiner eigenen Partei in einer ziemlich unangenehmen Lage, weil nicht nur die Sozialdemokraten verkündet hatten: „Wir sind wieder im Kommen. Sachsen und die anderen Länder im Osten sind traditionelle Gebiete der deutschen Sozialdemokratie, die ganze DDR ist strukturell sozialdemokratisch."

Unsere Freunde in der CSU hatten mir freundlicherweise gesagt: „Wir haben ja unseren Partner drüben, aber wen habt ihr eigentlich? Die Blockpartei?" Das hieß doch: „Mit der Ost-CDU kann man nicht zusammengehen." Von der FDP und ihren Partnern in der DDR war bei alledem natürlich nicht die Rede.

Dann aber kam die Volkskammerwahl am 18. März, und wenn es je eine Nacht der langen Gesichter gab, dann war es die Nacht dieser Volkskammerwahl.

DIE ZEIT: Ihr bisher größter Erfolg ...

KOHL: ... vielleicht deshalb, weil ich früher als andere verstand, was die Menschen in der damaligen DDR wirklich bewegte. Die Grenze war offen, und schon nach ein paar Wochen sagten sich die Menschen: Das alles dauert uns zu lange. Und dann haben wir erlebt, was ich in die Formel gefasst habe: Wenn die D-Mark nicht zu den Leipzigern kommt, kommen die Leipziger zur D-Mark.

Die Einführung der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion war doch nicht von langer Hand geplant. Sie war die einzig vernünftige Antwort auf die dramatisch anschwellenden Übersiedlerzahlen, die mir Wolfgang Schäuble täglich berichtete. Da kamen innerhalb kürzester Zeit weit über 500000 Übersiedler in den Westen, gleichzeitig über 300.000 Aussiedler - nach dem Ende des Ceausescu-Regimes aus Rumänien, aber auch aus Polen und nicht zuletzt aus der Sowjetunion. Plötzlich waren bei uns alle Turnhallen voll.

Wo aber war da ein Gespräch mit der Opposition möglich? Die SPD hatte ihre Haltung klipp und klar erklärt. Sie können nachlesen, was der Ministerpräsident des Saarlandes damals gesagt hat. Es war nicht so, dass da einer kam und gefragt hätte: „Wie wollen wir das gemeinsam bewältigen?", sondern es hieß: „Ihr habt die Verantwortung!"

DIE ZEIT: Gegen Oskar Lafontaine hat der SPD-Partei- und Fraktionsvorsitzende Jochen Vogel damals aber den „Runden Tisch" gefordert.

KOHL: Aber die Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion ist doch von der Mehrheit der Sozialdemokraten bekämpft worden. Im übrigen haben wir uns ja nicht einmal über die Wahltermine einigen können. Das nächstliegende wäre doch gewesen - da wir dauernd von der Befindlichkeit der Menschen im Osten redeten -, dass man gesagt hätte: Wir bestimmen jetzt für die Landtagswahlen in den fünf neuen Bundesländern und für die Bundestagswahl einen gemeinsamen Wahltermin. Die SPD hat aber bloß gemeint: Der Kanzler hat jetzt einen solchen Platzvorteil, da machen wir nicht mit.

Natürlich hatte ich den Platzvorteil. Aber den hatte ich doch auch verdient. Ich habe doch in diesen anderthalb Jahren gegen alle Widerstände Kurs gehalten. Wie war das denn am Abend des 10. November in Berlin vor dem Schöneberger Rathaus, als ich ausgepfiffen wurde? Das Auspfeifen war mir Wuscht, aber ich fand es schon ein starkes Stück, wie ein führender Sozialdemokrat den Menschen, die zu Zehntausenden herübergekommen waren, erklärte, es gehe nicht um Wiedervereinigung, sondern um Wiedersehen. Ich habe die Häme noch im Ohr, mit der er das sagte.

DIE ZEIT: Was hat sich inzwischen geändert? Räumen Sie der Zusammenarbeit mit der SPD jetzt eine bessere Chance ein?

KOHL: Zunächst einmal: Es bleibt bei der vom Grundgesetz gewollten Aufteilung der Verantwortlichkeiten zwischen Regierung und Opposition. Die Entscheidungen fallen in den gesetzgebenden Körperschaften Bundestag und Bundesrat. Vieles wird jetzt, nachdem die sozialdemokratisch geführten Länder die Mehrheit im Bundesrat haben, in den Vermittlungsausschuss gehen; dort hat im übrigen immer noch die Koalition aus CDU, CSU und FDP die Mehrheit. Unabhängig davon habe ich dem Kollegen Vogel vor Ostern gesagt: „Lassen Sie uns doch einmal versuchen, wieder zu einem umgänglichen Verhältnis miteinander zu kommen."

DIE ZEIT: Meinen Sie das, weil die Krise so schwer ist, dass alle Kräfte mobilisiert werden müssen?

KOHL: Das Gerede von der Großen Koalition ist natürlich nur aufgekommen - in der Opposition hätte ich das auch gemacht -, um den Wählern einzureden: Der ist am Ende, der kommt nicht weiter. Daraufhin habe ich ganz klar gesagt, wir brauchen kein Sauerstoffzelt. Aber ich habe nie gesagt, wir brauchen keine Opposition.

Eine Große Koalition wird es nicht geben. CDU und CSU haben im Bundestag die strategische Mehrheit. [...] Trotzdem wollen wir uns doch aber mit der sozialdemokratischen Opposition zusammensetzen, um bestimmte Fragen zu erörtern. [...]

DIE ZEIT: Offensichtlich gibt es aber -jedenfalls, was Berlin betrifft - eine Große Koalition der älteren Politikergeneration. Sie haben sich ja zur Überraschung vieler für Berlin ausgesprochen.

KOHL: Ich habe die Überraschung nicht verstanden.

DIE ZEIT: Auch wenn manche sagen, Sie hätten sich zu bedingt ausgesprochen?

KOHL: Was heißt „bedingt"?

DIE ZEIT: Mit einer zu langen Frist von zehn bis fünfzehn Jahren; das ginge schneller.

KOHL: Nein. Es geht nicht schneller.

DIE ZEIT: Willy Brandt sagt das.

KOHL: Willy Brandt schätze ich sehr, aber in der Beurteilung von Finanzfragen ist er kein so guter Ratgeber. Natürlich müssen wir bei dieser Frage den technischen und finanziellen Aufwand mit bedenken.

DIE ZEIT: Wann geht der Kanzler nach Berlin?

KOHL: Die Abstimmung im Bundestag hat noch nicht stattgefunden, und ich weiß noch nicht, wie sie ausgehen wird.

DIE ZEIT: Der künftige SPD-Parteivorsitzende Björn Engholm hat vorgeschlagen, wegen Berlin eine Volksabstimmung abzuhalten. Wäre das nicht der beste Weg, um den Streit der Berlin- und der Bonn-Anhänger zu schlichten?

KOHL: Nein. Wir halten uns an das, was im Einigungsvertrag vorgesehen ist. Dort haben wir vereinbart, dass die gesetzgebenden Körperschaften - also Bundestag und Bundesrat - die Entscheidung treffen.

DIE ZEIT: Welche Kriterien bestimmen Ihre Entscheidung für Berlin?

KOHL: Es sind viele Kriterien. Nur eines will ich nennen: Ich habe immer von Berlin als der deutschen Hauptstadt gesprochen, und damit meinte ich auch den Sitz von Parlament und Regierung.

DIE ZEIT: Die deutsche Einheit ist ja auch möglich, ohne dass man Berlin zum Regierungssitz macht.

KOHL: Wenn ich für die deutsche Einheit eingetreten bin, war für mich Berlin die Hauptstadt. Das habe ich wer weiß wie oft gesagt, und ich stehe zu meinem Wort. In jedem Fall wird Berlin eine europäische Metropole sein - nicht zuletzt im Blick auf unsere östlichen und südöstlichen Nachbarn.

DIE ZEIT: Gerade für einen überzeugten Europäer stellt sich aber doch die Frage: Muss Europa nicht erst gebaut werden, bevor es ausgeweitet werden kann?

KOHL: Ich habe nie gesagt, dass wir Länder wie Ungarn, die CSFR oder Polen schon morgen in die Europäische Gemeinschaft aufnehmen können.

DIE ZEIT: Noch in diesem Jahrzehnt?

KOHL: Immer schön der Reihe nach: Wir haben jetzt in der EG die beiden Regierungskonferenzen, die bis Ende dieses Jahres Vertragsentwürfe ausarbeiten sollen. Dann müssen diese Texte vom Europäischen Rat verabschiedet werden. Ich dränge darauf, dass dies zum Jahresende -auf dem EG-Gipfel im Dezember in Maastricht - geschieht, und ich wünsche mir, dass die Ratifikation durch die nationalen Parlamente bis Ende 1992 erfolgt. Und in diesen Verträgen muss natürlich ein Zeitplan enthalten sein, in dem beispielsweise steht - das ist jetzt aber nur eine Illustration -: „Bei der Wirtschafts- und Währungsunion nehmen wir uns jetzt soundsoviel Jahre vor zwischen der Ratifikation und dem Vollzug." Und zur Politischen Union sagen wir beispielsweise: „Das Parlament für 1994 bis 1999 wird weitergehende Rechte haben, das darauffolgende Parlament wird zusätzliche, möglichst die vollen Rechte erhalten."

Das alles geht nicht über Nacht. Auch unter Bismarck ist die deutsche Einheit nicht schneller vollzogen worden. Die meisten Leute haben das völlig vergessen. So ist die Reichsfinanzreform erst 1921 von Reichsfinanzminister Matthias Erzberger gemacht worden. Zwischen 1871 und 1921 gab es in Deutschland keine einheitliche Finanzverfassung - das muss man sich einmal vorstellen! Aber man hat es zu guter Letzt geschafft.

Um es ganz einfach zu sagen: Meine Aufgabe für Deutschland besteht darin, dass der Zug zur Europäischen Union auf der Schiene steht und in die richtige Richtung fahrt. Auf das Tempo - ob es ein Jahr früher oder ein Jahr später ist - kommt es mir nicht entscheidend an. Der Vorgang muss irreversibel sein, das ist das wichtigste.

DIE ZEIT: Und wie steht es mit der Erweiterung der EG?

KOHL: Natürlich sind uns Länder wie Österreich oder Schweden, um nur zwei Beispiele zu nennen, willkommen. Wollen wir denen denn sagen: „Ihr kommt erst im Jahre 2050 dran?" Wie ließe sich das eigentlich begründen? Und dann kommt die Frage einer EG-Mitgliedschaft Ungarns, der CSFR oder Polens. Wenn diese Länder die politischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen für einen Beitritt erfüllen, dann dürfen wir ihnen nicht die Tür verschließen. Und dann sind wir der Verwirklichung eines Traums entscheidend näher gekommen - unseres Traums vom vereinten Europa.

DIE ZEIT: Und das wäre die Grundlage für das gesamteuropäische Haus?

KOHL: Lassen Sie mich Ihnen als Antwort die folgende Geschichte erzählen. An einem heißen Sommerabend im Juni 1989 saß ich mit Michail Gorbatschow hier auf der Mauer am Rheinufer. Damals haben wir den deutsch-sowjetischen Vertrag, den großen Vertrag, der anderthalb Jahre später kam, in Umrissen konzipiert. Dieses Gespräch schuf auch eine sehr wichtige menschliche Grundlage zwischen uns, und das hat viel mit dem zu tun, was ein Jahr später möglich wurde - vor allem im Kaukasus. Ich habe damals zu ihm gesagt: „Dieser Strom erlebt die deutsche Einheit. Ob ich sie erlebe, weiß ich nicht." Und ich habe Michail Gorbatschow weiter gesagt: „Dieser Strom fließt aber auch durch Europa. Auch die europäische Einheit wird kommen."

Quelle: Die Zeit vom 3. Mai 1991.