3. November 1997

Rede auf der 36. Kommandeurtagung der Bundeswehr in Berlin

 

Herr Regierender Bürgermeister,
meine Damen und Herren Abgeordnete,
lieber General Bagger,
meine Herren Kommandeure,
meine sehr verehrten Damen und Herren,

 

gerne bin ich Ihrer Einladung gefolgt, heute hier in Berlin zu Ihnen zu sprechen. Ich sehe, daß hier im Saal viele Ehefrauen von Kommandeuren anwesend sind. Deshalb möchte ich gleich zu Beginn ein besonders herzliches Wort des Dankes an Sie, verehrte Damen, richten. Ich weiß, was der Soldatenberuf gerade auch den Ehepartnern und Kindern abverlangt. Beispielsweise ist das Leben eines Offiziers mit zahlreichen Umzügen verbunden. Davon sind ganz besonders die Angehörigen betroffen. Ich erwähne hier nur den häufigen Schulwechsel der Kinder und den Verzicht vieler Ehefrauen auf eine eigene Berufstätigkeit.

 

Wer mit einem Soldaten verheiratet ist, muß im Alltag vieles ertragen. Das fängt schon damit an, daß Soldaten, die etwa in Uniform zum Gottesdienst gehen, Diffamierungen ausgesetzt sind - und es reicht bis zu umstrittenen Gerichtsurteilen, die auch aus meiner Sicht völlig inakzeptabel sind.

 

Wenn wir über die Bundeswehr sprechen, dann sollten wir auch bedenken, daß der gute Ruf unserer Soldaten ohne Sie, meine Damen, nicht denkbar wäre. Ich finde, daß Ihre besondere Rolle und die Art und Weise, wie Sie am Erfolg unserer Bundeswehr teilhaben, in der Öffentlichkeit viel zu wenig gewürdigt werden.

 

Meine Damen und Herren, wenn man im Jahre 1997, wenige Jahre vor dem Ende des Jahrhunderts, über die Bundeswehr spricht und sich ihre Stationen bis zum heutigen Tag vergegenwärtigt, kann man ohne Wenn und Aber - und auch mit Stolz - feststellen: Die Geschichte unserer Bundeswehr ist eine Erfolgsgeschichte! Seit mehr als vierzig Jahren leisten die Soldaten der Bundeswehr im Rahmen des Atlantischen Bündnisses einen ganz entscheidenden Beitrag zur Sicherung von Frieden und Freiheit. Sie haben durch ihren Dienst maßgeblich dazu beigetragen, daß sich die Sehnsucht der Menschen nach Freiheit schließlich auch im östlichen Teil unseres Kontinents und unseres Vaterlandes durchsetzen konnte.

 

Die Entscheidung zur Wiederbewaffnung, die Aufstellung der Bundeswehr und der Beitritt zum Nordatlantischen Bündnis - all das waren wichtige Weichenstellungen auf dem Weg der Bundesrepublik Deutschland in die Gemeinschaft der freiheitlichen Demokratien des Westens. Wir haben immer fest an der Seite unserer Bündnispartner gestanden. So haben wir 1983/84 den Vollzug des NATO-Doppelbeschlusses durchgesetzt. Auch wenn viele es heute gern verschweigen: Ohne unsere Standfestigkeit wäre es nicht zum Umdenken in der sowjetischen Führung gekommen, der Kalte Krieg wäre nicht überwunden worden, und das kommunistische Imperium wäre nicht zusammengebrochen.

 

Ich weiß aus vielen Gesprächen, nicht zuletzt mit Michail Gorbatschow und George Bush, daß die Deutsche Einheit ohne das Vertrauen unserer Partner in die Zuverlässigkeit der Bundesrepublik nicht möglich gewesen wäre. Dieses Vertrauen hatten wir uns in Jahrzehnten erworben, und es war eine entscheidende Voraussetzung dafür, daß wir die Deutsche Einheit in Frieden und Freiheit mit Zustimmung all unserer Nachbarn erlangen konnten. Die Wiedervereinigung ist nach wie vor ein Grund zu großer Freude und Dankbarkeit. Sie ist ein wahres Geschenk!

 

Meine Damen und Herren, Ihr Tagungsmotto bringt gut zum Ausdruck, um was es heute geht: "An Bewährtem festhalten - Neue Aufgaben meistern." Bewahren und Verändern sind keine Gegensätze. Gerade wer etwas zum Guten verändern will, braucht einen Wertekompaß, der ihn sicher zum Ziel führt. Mit einer solchen wertkonservativen Einstellung wird es uns gelingen, die Zukunft zu meistern.

 

Die heutige Gelegenheit möchte ich nutzen, der Bundeswehr für ihre vorzüglichen Leistungen zu danken. Das gilt für die Soldaten und Zivilbediensteten gleichermaßen. Ich erinnere zunächst an die gewaltige Pionierleistung der Bundeswehr bei der Verwirklichung der inneren Einheit Deutschlands. Unsere Soldaten haben im Alltag vorgelebt, daß das Gerede von der "Mauer in den Köpfen" haltlos ist. Ihr Gemeinschaftsgeist hat sie dazu befähigt, viele schlimme Hinterlassenschaften aus vier Jahrzehnten kommunistischer Herrschaft aus dem Weg zu räumen: zahllose militärische Sperr- und Übungsgebiete der früheren Nationalen Volksarmee mußten saniert, riesige Mengen an Waffen und Munition vernichtet und eine marode Infrastruktur erneuert werden. Die Bundeswehr hat diese Herausforderungen mit Schwung angepackt. Sie hat die ihr gestellten Aufgaben vorbildlich gemeistert.

 

Zu ihren größten Erfolgen gehört für mich die Integration von Soldaten der ehemaligen Nationalen Volksarmee. Sie erfüllen heute ihren Auftrag Seite an Seite mit ihren Kameraden aus den alten Bundesländern. Sie als Kommandeure haben an dieser Entwicklung großen Anteil. Dahinter steckt auch eine besondere menschliche Leistung. Dafür gilt Ihnen mein herzlicher Dank.

 

Ich will aber bewußt auch ein Wort des Dankes richten an die Soldaten und Mitarbeiter, die gewöhnlich nicht im Rampenlicht stehen - Wehrpflichtige, Zeit- und Berufssoldaten, Reservisten und Zivilbedienstete der Wehrverwaltung. Sie alle prägen das Bild und die Leistung der Bundeswehr.

 

Es ist die persönliche Einsatzbereitschaft aller Soldaten, unserer Söhne und Töchter, die unsere Bundeswehr zu dem macht, was sie heute ist. Sie ist nicht - wie berufsmäßige Kritiker gelegentlich behaupten - eine "Zweiklassen-Armee", sondern sie ist eine Armee erster Klasse. Wir haben Grund, stolz auf sie zu sein. Die Leistungsfähigkeit der Bundeswehr findet zunehmend große Anerkennung - bei vielen Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes ebenso wie bei unseren Freunden und Partnern in der Welt. Viele Staatsgäste, die zu mir nach Bonn kommen, loben das gute Bild, das unsere Soldaten im Ausland abgeben.

 

Im Persischen Golf haben Boote unserer Marine Minen geräumt. Sie haben damit nicht nur die Grundlage für Operationen der verbündeten Seestreitkräfte geschaffen, sondern sorgten auch für die Sicherheit der zivilen Schiffahrt. In der Türkei haben Flugzeuge der Luftwaffe und Hubschrauber des Heeres mit ihren Einsätzen zur Linderung der Not nach dem schweren Erdbeben 1992 beigetragen. Ohne die Luftbrücke unserer Luftwaffe nach Sarajewo und den Abwurf von Hilfsgütern über Ostbosnien wäre die Not der Bevölkerung im ehemaligen Jugoslawien sicherlich noch viel größer gewesen.

 

Die Besatzungen der Flugzeuge haben gerade auch diese gefährlichen Aufträge unter großen persönlichen Risiken erfüllt - gemeinsam mit unseren Verbündeten. Dies gilt ebenso für die Marinesoldaten, die bei der Durchsetzung des Embargos in der Adria ihre Pflicht getan haben. Ich denke auch an die Einsätze der Bundeswehr unter dem Mandat der Vereinten Nationen und der OSZE - zum Beispiel in Kambodscha, im Irak, in Somalia und in der Kaukasus-Region. Im ehemaligen Jugoslawien sichern unsere Soldaten gemeinsam mit unseren Verbündeten und Partnern den immer noch brüchigen Frieden. Zur Zeit befinden sich dort rund 3000 Angehörige der Bundeswehr - Wehrpflichtige auf freiwilliger Basis und Reservisten genauso wie Zeit- und Berufssoldaten.

 

Wir müssen aber gar nicht so weit in die Ferne schauen: Wir haben alle miterlebt, wie im Sommer dieses Jahres bei der Jahrhundertflut an der Oder neben vielen anderen gerade die Soldaten unserer Bundeswehr ihren Einsatz leisteten. Wer dort dabei war, meine Damen und Herren, konnte eine junge Generation erleben, die mit ihrem Tun ein Beispiel gibt. Die jungen Soldaten haben mit ihren Offizieren gemeinsam Tag und Nacht gearbeitet. Sie haben alles getan, um die Gefahren des Hochwassers zu bannen. Viele haben sich bis an den Rand der physischen Erschöpfung eingesetzt. Zahlreiche dieser jungen Soldaten waren erst wenige Wochen beim Bund. Sie haben bewiesen, daß die Mär von der "Null-Bock-Generation" nicht zutrifft. Ihr Einsatz hat gezeigt, daß sie - genau wie junge Leute vor ihnen - in der Lage sind, ihre Pflicht zu tun, auch wenn sie dieses Wort nicht mehr so häufig verwenden.

 

Bürger in Brandenburg haben mir gesagt: Dies ist die Armee der Einheit! In diesen Tagen konnte man erleben, daß die Deutschen - jenseits von Angebot und Nachfrage - ganz selbstverständlich solidarisch denken und handeln können. Sie haben in kurzer Zeit weit über 100 Millionen D-Mark zur Linderung der Not gespendet.

 

Zu den guten Erfahrungen der letzten Monate gehört für mich, daß all dies auch im Ausland sehr positiv wahrgenommen worden ist. Einer der führenden Staatsmänner der Welt hat zu mir gesagt: "Das waren Bilder von den richtigen Deutschen." Ich wünsche mir, daß auch bei uns viele das so sehen. Lassen wir uns nicht einreden, daß unser Land sich von Leistungsbereitschaft und Mitmenschlichkeit verabschiedet hätte!

 

Meine Damen und Herren, in wenigen Jahren beginnt ein neues Jahrtausend. Die Zahl 2000 markiert Hoffnungen auf eine gute Zukunft, aber sie steht bei vielen auch für Ängste. Die Verunsicherung - das habe ich gestern vor der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland gesagt - hat auch etwas mit dem Verlust an Glauben in unserer Gesellschaft zu tun. Aber gerade in Zeiten großer Veränderungen brauchen wir ein Fundament, das Halt und Orientierung gibt.

 

Die Welt ist heute eine andere als vor 1989. Die Menschen in Deutschland begreifen, daß wir uns auf die dramatischen Umbrüche in der Welt einstellen müssen. Und diese Veränderungen sind noch längst nicht abgeschlossen. Als Exportnation Nummer zwei sind wir noch mehr als andere von diesen Tatsachen berührt. Allein zwischen 1980 und 1996 ist das Welthandelsvolumen von knapp 2000 Milliarden US-Dollar auf rund 5300 Milliarden US-Dollar gestiegen. Das Geschäft auf den internationalen Finanzmärkten explodiert geradezu. Die Ereignisse an den asiatischen Börsen in diesen Tagen haben uns deutlich vor Augen geführt, wie abhängig auch wir von diesen Entwicklungen sind. Anfang der achtziger Jahre betrug der weltweite Devisenhandel täglich rund 60 Milliarden US-Dollar, Anfang der neunziger Jahre bereits 1,2 Billionen US-Dollar. Wir Deutsche leben nicht in einer Nische, an der die Globalisierung vorbeigeht.

 

Auf die Dramatik des Umbruchs hat erst kürzlich die OECD hingewiesen: Heute leben gut fünf Milliarden Menschen auf der Welt. Im Jahr 2020 werden es wohl acht Milliarden sein. 2020 - das ist nicht so weit weg: Die Kinder, die heute geboren werden, sind dann erst 22 Jahre alt. In den Industrieländern wird die Bevölkerung im Durchschnitt immer älter. Das bedeutet höhere Ausgaben für Renten und Gesundheit - auch bei uns in Deutschland. Der Übergang zur Informationsgesellschaft bringt auf der ganzen Welt einen tiefgreifenden sozialen Wandel mit sich. Vor allem geringer qualifizierte Arbeitskräfte sind davon betroffen.

 

Diese Probleme sind aber nur ein Teil der Wirklichkeit. Deshalb sollten wir in Deutschland nicht nur über mögliche Risiken, sondern vor allem über die Chancen sprechen, die sich uns heute bieten: Noch nie in der deutschen Geschichte hatten wir gleichzeitig so gute, ja freundschaftliche Beziehungen zu Washington, Paris, London und Moskau. In den aufstrebenden jungen Industrieländern wird sich der Lebensstandard bis 2020 nahezu vervierfachen, in den OECD-Staaten wird er sich beinahe verdoppeln. Die Globalisierung wird - entgegen einem weit verbreiteten Vorurteil - eine Vielzahl neuer Arbeitsplätze bringen. Wenn wir jetzt die richtigen Entscheidungen treffen, profitieren auch wir davon.

 

Deutschlands Stellung in der Welt hängt ganz wesentlich davon ab, ob es uns gelingt, Wirtschaft und Gesellschaft unseres Landes auf die Zukunft in einer veränderten Welt einzustellen. Unsere innenpolitische Aufgabe Nummer eins ist dabei die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Diesem Ziel müssen wir vieles andere unterordnen. Das mag bisweilen unpopulär sein. Eine solche Politik hat jedoch nichts mit Sozialabbau zu tun, wie es manche behaupten. Das Gegenteil ist der Fall: Ohne eine Politik, die Investitionen in unserem Land attraktiver macht und damit neue Arbeitsplätze ermöglicht, ist unser Sozialstaat auf Dauer nicht zu halten.

 

In den vergangenen Jahren hat die Bundesregierung bereits wesentliche Reformen durchgesetzt. Die mit dem Programm für mehr Wachstum und Beschäftigung vom Frühjahr 1996 beschlossenen Maßnahmen haben wir fast vollständig umgesetzt. Ich erinnere hier nur an die Änderung der gesetzlichen Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, die Anhebung der Schwelle für den Kündigungsschutz sowie den erleichterten Abschluß befristeter Arbeitsverträge.

 

Vieles von dem, was wir beschlossen und durchgesetzt haben, ist leider viel zu wenig bekannt. Und auch die positiven Auswirkungen kommen in der öffentlichen Diskussion zu kurz: So konnte die deutsche Wirtschaft durch die Neuregelung der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall um mehr als zehn Milliarden D-Mark entlastet werden. Gleichzeitig sind die Fehlzeiten auf den niedrigsten Stand seit 20 Jahren zurückgegangen. Ich hätte mir gewünscht, daß die Tarifpartner diese Veränderungen in eigener Regie herbeigeführt hätten. Da dies aber nicht geschehen ist, mußte der Gesetzgeber handeln.

 

Jetzt geht es darum, unsere Reformpolitik konsequent fortzusetzen. Die deutlich verbesserten Wachstumserwartungen zeigen, daß wir auf dem richtigen Weg sind. In diesem Jahr wird das reale Wachstum zweieinhalb Prozent betragen. Als wir diese Erwartung zu Jahresbeginn äußerten, sind wir dafür von vielen verlacht worden. Für 1998 können wir ein Wachstum von drei Prozent erwarten. Das Exportgeschäft boomt, und ich bin sicher, daß auch das Inlandsgeschäft anspringen wird. Aber wir wissen: Das Wachstum wird allein nicht ausreichen, um die Probleme am Arbeitsmarkt zu lösen. Deshalb brauchen wir beides: Wachstum und strukturelle Reformen.

 

Für die Steuerreform hat die Bundesregierung Anfang dieses Jahres ein Konzept vorgelegt, das bei den Fachleuten im In- und Ausland breite Zustimmung erfahren hat. Wir brauchen diese Reform, damit Investitionen und Innovationen in Deutschland attraktiver werden, um der Erosion der Steuerbasis entgegenzuwirken und um das Steuerrecht transparenter, einfacher und gerechter zu machen. Ich werde nicht nachlassen, für die Durchsetzung des von der Bundesregierung ausgearbeiteten Konzepts zu kämpfen. So wie die Dinge sich entwickelt haben, wird nun der Wähler über die Steuerreform entscheiden. Ich sehe diesem Urteil mit großer Gelassenheit entgegen. Und ich sage Ihnen voraus: Die Steuerreform wird kommen! Sie muß kommen - sonst verlieren wir die Chance, im "Weltkonzert" mitspielen zu können.

 

Die Rentenreform haben wir bereits durchgesetzt. Sie war unerläßlich. Man kann es nicht oft genug sagen: Die demographische Entwicklung ist eine der dramatischsten Herausforderungen für unsere Gesellschaft. Die Menschen werden erfreulicherweise immer älter: Die durchschnittliche Lebenserwartung von Männern liegt bei uns in Deutschland inzwischen bei 74 Jahren, bei den Frauen sind es 80 Jahre. Gleichzeitig zählt Deutschland zu den Ländern mit der niedrigsten Geburtenrate in Europa, und die Zahl der Single-Haushalte nimmt weiter zu. Schon heute steht fest, daß sich der Anteil der 65jährigen und älteren Menschen an der Gesamtbevölkerung bis 2030 auf nahezu 30 Prozent fast verdoppeln wird.

 

Hinzu kommt ein weiters: Die jungen Menschen in Deutschland treten im Vergleich zu ihren Altersgenossen in anderen europäischen Ländern viel zu spät in das Berufsleben ein. So leisten wir uns den "Luxus", daß junge Akademiker nach Wehrdienst und Studium häufig erst mit 29 oder 30 Jahren die Universität verlassen. Dies liegt nicht etwa daran, daß die akademische Ausbildung bei uns besser wäre als sonst in Europa; es liegt vielmehr daran, daß wir bisher nicht fähig waren, in unserem förderalen System die notwendigen gemeinsamen Entscheidungen zu treffen. Handeln ist dringend geboten, denn bei einem Renteneintrittsalter von knapp 60 Jahren stehen in vielen Fällen 45 Jahren Ausbildung und Rente nur 30 Jahre Erwerbstätigkeit gegenüber. Diese Rechnung kann nicht aufgehen.

 

Wir müssen uns darüber im klaren sein, daß die demographischen Veränderungen nicht nur enorme Auswirkungen auf die Alterssicherung haben; auch in unserem Gesundheitssystem müssen wir Veränderungen vornehmen. Aber es bleibt für mich ganz selbstverständlich, daß jedem Menschen im Rahmen der Solidargemeinschaft auch in einem späten Lebensabschnitt jede medizinisch erforderliche Operation zusteht. Daß notwendige Eingriffe - wie anderswo in Europa - nicht mehr von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen werden, halte ich für indiskutabel. Die Solidarität mit der älteren Generation hat auch etwas mit der Würde und dem Selbstverständnis unseres Landes zu tun.

 

Ich wehre mich dagegen, in der Reformdiskussion nur in Zahlen zu denken und nicht die Betroffenen selbst zu sehen. Wer heute 75 oder 80 Jahre alt ist, gehört zu jenen Geburtsjahrgängen, die mehr als je zuvor in der deutschen Geschichte Lasten getragen haben. Nach dem Krieg haben diese Menschen unsere Bundesrepublik aus Schutt und Asche aufgebaut. Sie haben das Heutige erst möglich gemacht. Andererseits dürfen wir der jungen Generation von heute keine Lasten aufbürden, die sie nicht tragen kann. Deshalb ist es zum Beispiel unerläßlich, das die Formel für die Rentenanpassung um eine demographische Komponente erweitert wird. Darüber hinaus brauchen wir natürlich auch mehr Eigenverantwortung bei der Vorsorge für das Alter.

 

Meine Damen und Herren, unsere Reformen sind notwendig, damit wir die Arbeitslosigkeit in Deutschland nicht nur stoppen, sondern auch zurückführen. Ich bin überzeugt davon, daß wir Deutsche in der Lage sind, unsere materiellen Probleme zu lösen - nicht über Nacht; aber wir werden es schaffen, wenn wir nur wollen. Die entscheidende Veränderung muß in den Köpfen geschehen.

 

So müssen wir bei unserem Bemühen um neue Arbeitsplätze in erster Linie auf den Mittelstand setzen. Gerade hier brauchen wir einen neuen Aufbruch. Wir müssen die Gründung neuer Betriebe unterstützen, indem wir eine Wagniskultur, eine neue Kultur der Selbständigkeit fördern. Es gibt dabei inzwischen recht ermutigende Signale. Die Zahl der Selbständigen nimmt zu. Zwischen 1990 und 1995 haben sich in unserem Land zusätzlich etwa 1,9 Millionen Menschen selbständig gemacht - davon 500000 in den neuen Bundesländern. Wir haben schon viel erreicht, aber wir sind noch lange nicht am Ziel.

 

In diesem Zusammenhang müssen wir auch zur Kenntnis nehmen, daß eine Welle von Betriebsübergaben bevorsteht. Bis zu 700000 Mittelständler, darunter etwa 200000 Handwerker, suchen in den nächsten zehn Jahren Nachfolger für ihren Betrieb. Darin liegen ungeheure Chancen für leistungsbereite und mutige junge Menschen. Deshalb müssen Elternhaus, Schule und Hochschule viel mehr zur Selbständigkeit erziehen und ermutigen. Es ist erschreckend, wenn über 40 Prozent der Hochschulabsolventen in den Öffentlichen Dienst streben. Mit solchen Einstellungen können wir die Zukunft nicht gewinnen!

 

Neue Arbeitsplätze entstehen kaum im Öffentlichen Dienst. Wir wollen den "schlanken Staat", und das bedeutet den Abbau von Bürokratie und eine Fortsetzung der Privatisierung. Neue Arbeitsplätze entstehen in großer Zahl auch nicht in der Großindustrie, die sich im internationalen Wettbewerb angesichts zunehmender Globalisierung behaupten muß.

 

Für eine gute Zukunft brauchen wir in unserer Gesellschaft mehr denn je die Bereitschaft zum Umdenken - und dazu gehört vor allem eine positivere Einstellung zur Selbständigkeit. Ich spreche immer wieder gern bei Freisprechungsfeiern von Handwerkskammern. Von den jungen Meisterinnen und Meistern, die bei einem solchen Anlaß auf die Bühne gerufen und ausgezeichnet werden, erwägen manche, sich selbständig zu machen. Wenn man von solchen jungen Menschen dann später erfährt, auf welche Reaktionen sie mit dieser Idee in ihrem Freundeskreis und in ihrer Verwandtschaft gestoßen sind, dann ist es kein Wunder, daß viele entmutigt sind.

 

Die Kammer wird natürlich denjenigen, der etwas Neues aufbauen will, offiziell unterstützen. Wenn aber der zuständige Berater dabei ein Gesicht macht, das einem jede Hoffnung nimmt, so ist der Ausgang des Vorhabens schon absehbar. Und wenn es dann schließlich bei der Bank um einen Kredit geht, dann wird dort erst einmal nach Sicherheiten gefragt, die man als Betriebsgründer natürlich in der Regel noch gar nicht bieten kann.

 

Wir müssen jungen Leuten - nicht nur in diesem Bereich - Ermutigung geben. Wir müssen sie motivieren und nicht demotivieren. Ich sage das nicht ohne Grund hier bei Ihnen, weil Sie mit vielen jungen Leuten zu tun haben - nicht zuletzt mit Wehrpflichtigen. Wir brauchen in unserer Gesellschaft wieder stärker eine Grundstimmung, daß es gut ist, etwas zu wagen. Wir sollten Initiative und neue Ideen nicht gleich von Bedenkenträgern zerreden lassen. Wenn wir dies erreichten, wären wir schon viel weiter.

 

Meine Damen und Herren, wenn wir über die Chancen der Deutschen an der Schwelle zum 21. Jahrhundert reden, dann gehört dazu für mich ganz wesentlich der Bau des Hauses Europa. Mit dem Vertrag von Amsterdam haben wir die europäische Einigung erneut ein gutes Stück vorangebracht. Ich weiß, daß daran auch Kritik geäußert wird. Aber die Fortschritte, die wir seit Beginn der achtziger Jahre Schritt für Schritt erreicht haben, sind durchweg erfreulich. Damals wurde der Zustand unseres Kontinents mit dem schlimmen Wort "Eurosklerose" beschrieben.

 

Auch nachdem das Binnenmarktprogramm schon auf den Weg gebracht worden war, konnte man noch lesen, daß es mit dem großen Gemeinsamen Markt bis Ende 1992 nie etwas würde. Später hieß es zum Vertrag von Maastricht, er werde niemals ratifiziert werden. Immer wurde nur von dem gesprochen, was angeblich nicht geht. Aber es ist anders gekommen. Es ist einer der größten Triumphe in der neueren Geschichte, daß die Europäer, die früher erbittert in Bruderkriegen gegeneinander gekämpft haben, sich in der Europäischen Union immer mehr zusammenfinden.

 

Jetzt steht die Osterweiterung der Europäischen Union an. Die Menschen in den jungen Demokratien Mittel-, Ost- und Südosteuropas sehen zu Recht im vereinten Europa - gemeinsam mit der Atlantischen Allianz - den Garanten für Frieden, Sicherheit und Wohlstand auf unserem Kontinent.

 

Ein Blick auf die Karte macht deutlich, wie sehr gerade wir Deutschen das europäische Einigungswerk brauchen. Wir sind das Land mit den meisten Nachbarn auf unserem Kontinent. Aufgrund seiner geographischen Lage hat Deutschland bei militärisch-strategischen Überlegungen in Europa stets eine zentrale Rolle gespielt; das gilt auch im politischen und im kulturellen Bereich.

 

Es ist für uns von existentieller Bedeutung, daß zur Vertiefung die Osterweiterung der Europäischen Union hinzukommt. Ein paar Kilometer von hier befindet sich die Ostgrenze Deutschlands - die Oder-Neiße-Grenze, die in der jüngeren Geschichte unseres Landes eine so große Bedeutung gehabt hat. Die Nazi-Barbarei und der Zweite Weltkrieg hatten den Verlust eines Drittels des ehemaligen deutschen Reichsgebiets zur Folge. Millionen von Flüchtlingen und Vertriebene mußten im westlichen Teil unseres Landes neu beginnen.

 

Im künftigen Europa kann die Ostgrenze Deutschlands nicht die Ostgrenze der Europäischen Union bleiben. Ich wünsche mir, daß diese Grenze die gleiche Bedeutung erlangt wie die Grenze zwischen meiner pfälzischen Heimat und dem benachbarten Elsaß. Wir wollen auch zu unseren Nachbarn im Osten neue Brücken bauen, über die mehr und mehr Menschen im Alltag zusammenfinden und Freundschaften schließen. Mit dem Beitritt unserer östlichen Nachbarstaaten erfüllt sich für uns die Hoffnung, daß dies zunehmend Wirklichkeit wird.

 

Gelegentlich gibt es Stimmen, die sagen, wir sollten die Erweiterung verschieben. Ich kann nur warnend entgegnen: Das wäre ein Verrat an den Völkern, denen wir über Jahrzehnte versichert haben: "Wenn Ihr eines Tages den Kommunismus abgeschafft habt, seid Ihr uns in der Gemeinschaft der freien Völker Europas herzlich willkommen." Es ist sehr wichtig, daß wir an dieser Position festhalten und uns nicht durch tagespolitische Schwierigkeiten von unseren Zielen abbringen lassen. Prag, Budapest, Warschau und Krakau sind genauso europäische Städte wie Bonn, Berlin, Rom und Paris.

 

Wenn wir Europäer uns immer enger zusammenschließen, dann gewinnen wir gemeinsam die Zukunft. Dies kann aber nur gelingen, wenn jeder von uns seine eigene Identität wahrt. Winston Churchill hat nach dem Krieg in seiner wegweisenden Züricher Rede das Bild von den "Vereinigten Staaten von Europa" geprägt. Ich habe Konrad Adenauer als ganz junger Pennäler und noch als Student davon sprechen hören. Aber dieser Begriff kann in die Irre führen, denn die Verhältnisse in den Vereinigten Staaten von Amerika lassen sich nicht auf Europa übertragen. Wir sind - und bleiben - Deutsche, Franzosen oder Italiener. Oder um es mit Thomas Mann zu sagen: Wir sind deutsche Europäer und europäische Deutsche.

 

Eines der Schlüsselprojekte auf dem Weg zum geeinten Europa ist die Wirtschafts- und Währungsunion. Sie ist die logische und notwendige Ergänzung des europäischen Binnenmarktes mit seinen mehr als 370 Millionen Menschen. Der Euro hat schon lange vor seiner Einführung viele positive Auswirkungen: Niedrige Inflationsraten, niedrige Zinsen und stabile Wechselkurse - das sind die Früchte der gemeinsamen Vorbereitungen auf die europäische Währungsunion.

 

Ich weiß, meine Damen und Herren, daß der Abschied von der D-Mark den Deutschen nicht leichtfällt. Das stößt im Ausland häufig auf Unverständnis. Wenn Sie, meine Herren Kommandeure, mit ausländischen Kameraden zusammen sind, erklären Sie ihnen doch auch einmal, welche Bedeutung diese D-Mark für uns Deutsche hat. Sie ist älter als die zweite deutsche Republik, sie wurde vor unserer Nationalhymne und Bundesflagge eingeführt.

 

Als die D-Mark im Sommer 1948 mit der Währungsreform in den Westzonen eingeführt wurde, lag unser Land noch in Trümmern. Sie galt als "Besatzungskind", und viele gaben ihr keine Chance. Aus dieser D-Mark hat die Aufbaugeneration die drittwichtigste Währung der Welt - neben Dollar und Yen - gemacht. Der Aufstieg unseres Landes zu beachtlichem Wohlstand ist untrennbar damit verbunden. Deswegen ist es uns ernst mit der Forderung: Wir wollen, daß die Stabilitätskriterien eingehalten werden, daß der Euro eine wirklich stabile Währung sein wird.

 

Meine Damen und Herren, die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion ist auch ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur politischen Union. Sie bindet die Europäische Union als Friedens- und Freiheitsordnung für das 21. Jahrhundert noch enger zusammen. Die Erfahrung im früheren Jugoslawien hat uns eindringlich gezeigt, daß der Bau des Hauses Europa auch eine Frage von Krieg und Frieden ist. François Mitterrand hat in seiner testamentarischen Rede wenige Tage vor seinem Ausscheiden aus dem Amt und wenige Monate vor seinem Tod den Parlamentariern im Europäischen Parlament zugerufen: "Nationalismus - das ist der Krieg." Natürlich haben wir jetzt keine Kriegsgefahr in unserem Teil Europas. Aber Sie wissen so gut wie ich: Vor sieben Jahren hätte niemand in diesem Saal geglaubt, daß in einem benachbarten Teil Europas - im ehemaligen Jugoslawien - Massenmord, Massenvergewaltigungen und andere Untaten wieder möglich würden.

 

Wenn wir Europa handlungsfähig für das 21. Jahrhundert machen wollen, müssen wir nicht nur die Vertiefung der europäischen Integration und die Erweiterung der Europäischen Union, sondern auch den Aufbau gemeinsamer Sicherheitsstrukturen für Europa voranbringen. Mit dem Vertrag von Amsterdam haben wir die Grundlagen für eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Union wesentlich gestärkt: Dies gilt für die Außenpolitik im klassischen Sinne, aber auch für die Verteidigung.

 

Der Vertrag von Amsterdam hat die operativen Fähigkeiten der Westeuropäischen Union und damit ihre Rolle als Bindeglied zwischen der Europäischen Union und der NATO herausgestellt. An der existentiellen Bedeutung des Atlantischen Bündnisses für unsere Sicherheit ändert sich nichts. Ich sage es in der Sprache Konrad Adenauers: Die deutsche Außen- und Sicherheitspolitik muß auf zwei Säulen gleichermaßen ruhen - zum einen auf dem Atlantischen Bündnis mit engen freundschaftlichen Beziehungen vor allem zu den Vereinigten Staaten von Amerika und zum anderen auf der europäischen Einigung. Es gibt hier kein Entweder-Oder, sondern nur ein Sowohl-Als-auch!

 

Wir müssen unseren amerikanischen Freunden immer wieder sagen: Europa braucht die USA, aber die USA brauchen auch Europa. Mit Präsident Bill Clinton bin ich mir einig, daß die angemessene Präsenz unserer transatlantischen Partner auf dem europäischen Kontinent in unserem gemeinsamen Sicherheitsinteresse liegt.

 

Mit der Grundakte zwischen der NATO und der Russischen Föderation ist die Voraussetzung geschaffen worden für dauerhaften und umfassenden Frieden im euro-atlantischen Raum. Dieses wahrhaft historische Ereignis liegt erst wenige Monate zurück. Wir können froh sein, daß wir mit Präsident Boris Jelzin einen so verläßlichen Partner im Kreml haben. Wir haben gemeinsam große Fortschritte gemacht. So sichern heute russische, amerikanische und deutsche Soldaten zusammen mit ihren Verbündeten und Partnern den Frieden in Bosnien. Dergleichen wäre vor zehn Jahren noch völlig undenkbar gewesen!

 

Die Qualität dieses Miteinanders zeigt, daß die geplante Erweiterung der NATO nicht zu Lasten russischer Sicherheitsinteressen geht. Rußland muß jedes Interesse daran haben, daß westlich seiner Grenzen stabile Demokratien bestehen.

 

Die NATO-Öffnung und die sie begleitenden Maßnahmen werden den Weg der jungen Demokratien Mittel-, Ost- und Südosteuropas zu politischer und wirtschaftlicher Stabilität nachhaltig fördern. In Madrid haben wir die Weichen für eine neue NATO gestellt. Sie trägt in Zielsetzung und Struktur der grundlegend verbesserten Sicherheitslage in Europa Rechnung. Im Dezember werden die Außenminister die Beitrittsverhandlungen der NATO mit Polen, Ungarn und der Tschechischen Republik abschließen.

 

Begreifen wir eigentlich, was das heißt? Sie, meine Herren Kommandeure, haben noch ganz konkrete Erinnerungen daran, wie sich NATO und Warschauer Pakt mitten im geteilten Deutschland hochgerüstet gegenüberstanden. Was uns in den vergangenen fünf Jahrzehnten zum Beispiel mit den Franzosen und Niederländern gelungen ist, das verwirklichen wir am Ende dieses Jahrhunderts mit den Polen und Tschechen.

 

Das Bündnis bleibt für neue Mitglieder offen. Deshalb müssen wir auch die Zusammenarbeit mit denjenigen Partnerstaaten vertiefen, die der Allianz zunächst nicht beitreten werden. Die Bundeswehr hat in diesem Kontext eine enorme Aufgabe: Gemeinsame Übungen und Ausbildungsabschnitte unter dem Dach der Partnerschaft für den Frieden sind von großer Bedeutung. Ich freue mich, daß die Bundeswehr auch in diesem Rahmen international höchstes Ansehen genießt und ein geschätzter Kooperationspartner ist.

 

In der Welt von morgen werden multinationale Verbände eine immer größere Rolle spielen. Das ist eine großartige Herausforderung für jeden Kommandeur. Truppenteile, die sich aus Angehörigen mehrerer Nationalitäten zusammensetzen, sind für uns ja längst nicht mehr neu; mit der Schaffung des EUROKORPS und dem Deutsch-Niederländischen Korps haben wir wichtige Schritte auf diesem Wege unternommen.

 

In der letzten Woche ist in Greifswald eine Patenschaft zwischen einer dänischen, polnischen und deutschen Division besiegelt worden. Auch dieses Beispiel zeigt, daß die Visionäre eines freien Europas die großen Realisten der Geschichte sind. Die scheinbaren Realisten vergangener Tage haben mit ihren Protestmärschen nicht recht behalten.

 

Meine Damen und Herren, das SFOR- Mandat für Bosnien-Herzegowina läuft im Juni nächsten Jahres aus. Die Bundesregierung wird - gemeinsam mit unseren Verbündeten - rechtzeitig entscheiden, auf welche Weise der Friedensprozeß am besten weiter abgesichert werden soll. Zunächst einmal kommt es darauf an, auf die Konfliktparteien weiter Druck zur Zusammenarbeit auszuüben - politisch, wirtschaftlich und militärisch. Dabei dürfen wir auch nicht nachlassen, alle Kriegsverbrecher vor dem Gerichtshof in Den Haag zur Rechenschaft zu ziehen.

 

Die Unterstützung für den Wiederaufbau muß Hand in Hand gehen mit der Rückkehr von Flüchtlingen. Es gibt in diesen Tagen einige, die den Deutschen Ausländerfeindlichkeit vorwerfen. Ich will deshalb hier nochmals daran erinnern, daß in der Bundesrepublik Deutschland weit über 300000 Flüchtlinge aus Bosnien Zuflucht gefunden haben. Manche unserer Etat-Probleme haben damit zu tun, daß wir mehr Hilfe als andere leisten.

 

Dies ist für mich kein Grund zur Klage. Ich sehe es vielmehr als eine selbstverständlich menschliche Pflicht, die wir erfüllen. Bei uns wissen noch viele Menschen aus eigener Erfahrung, was es heißt, als Flüchtling die Heimat verlassen zu müssen. Es ist unser Ziel, daß in Bosnien-Herzegowina so schnell wie möglich bessere Verhältnisse geschaffen werden, damit die Menschen nach Hause zurückkehren können. Es wäre für alle Beteiligten sehr viel besser, wenn wir das Geld, das wir hier für soziale Unterstützung der Flüchtlinge ausgeben und an dem nicht gespart werden kann, dafür verwenden könnten, daß vor Ort, in den Dörfern und Städten, vernünftige Lebensbedingungen geschaffen werden.

 

Die NATO hat mit ihrem Eingreifen dafür gesorgt, daß dem Blutvergießen ein Ende gemacht wurde. Einem Wiederaufflammen des Bürgerkrieges dürfen wir keine Chance geben. Deshalb will ich keineswegs ausschließen, daß die NATO auch über SFOR hinaus weiter militärisch präsent sein wird - mit Beteiligung der Bundeswehr. Doch es ist heute zu früh, über das Mandat, den Umfang und die Zusammensetzung der Kräfte zu sprechen.

 

Ich sage Ihnen bei dieser Gelegenheit: Die Mitglieder der Bundesregierung - vor allem auch ich selbst - machen es sich bei der Entsendung deutscher Soldaten in andere Länder nicht leicht. Ganz im Gegenteil: Wir als politische Entscheidungsträger wissen sehr wohl, welch hohe Verantwortung wir tragen. Wir dürfen unsere Söhne und Töchter nur entsenden, wenn dies bei Abwägung aller Umstände zwingend geboten ist: zum Schutz der Menschenrechte, zur Wahrung der Interessen unseres Landes und zur Erfüllung unserer Verpflichtungen in der Völkergemeinschaft.

 

Die Bundeswehr muß auch künftig in der Lage sein, trotz aller Konsolidierungszwänge bei den Finanzen ihren Auftrag zu erfüllen - das gilt für den Betrieb wie für die Investitionsseite. Dies wird unsere - und vor allem auch meine - Politik bleiben, was immer Sie in der Öffentlichkeit hören mögen.

 

Meine Damen und Herren, so wichtig eine erstklassige Technik auch ist - im Mittelpunkt steht der Soldat, der Mensch. Ich begrüße es, daß in der Ausbildung verstärkt auf Simulatoren und High-Tech zurückgegriffen wird. Aber es ist meine feste Überzeugung, daß Kameradschaft und Fürsorge durch Technik nicht ersetzt werden können. Deshalb bitte ich Sie, meine Herren Kommandeure, unbedingt an dem bewährten Prinzip der Inneren Führung festzuhalten. Sie alle tragen Verantwortung für junge Menschen, die als Wehrpflichtige zur Bundeswehr kommen.

 

Die Kombination von Innerer Führung und Wehrpflicht hat sich in den Jahrzehnten seit Gründung der Bundeswehr in hervorragender Weise bewährt. Die deutsche Bundeswehr ist ein wichtiges Element der demokratischen Kultur unseres Landes. Die Väter und Mütter unseres Grundgesetzes haben sich bewußt zum Grundgedanken der Wehrpflicht bekannt. Ich weiß, daß heute darüber diskutiert wird. Ich habe hier keine Ratschläge für andere zu geben. Aber eines steht fest: Solange ich Verantwortung in diesem Land trage, werden wir bei der Wehrpflicht bleiben - egal, was andere in anderen Ländern Europas tun.

 

Die Wehrpflicht ist eine Quelle der ständigen Erneuerung für unsere Streitkräfte. Darüber hinaus ist sie eine Klammer von Gesellschaft und Armee, von Tradition und Fortschritt, von Alt und Jung, von Politik und Militär. Sie verbindet unsere Gesellschaft durch alle gesellschaftlichen Schichten. In der Bundesrepublik Deutschland hat sich die Wehrpflicht zu einer prägenden Tradition verfestigt. Sie bedeutet Dienst an der Gemeinschaft und ist damit sichtbarer Ausdruck der Bürgerverantwortung in unserer Demokratie.

 

Deswegen tun wir alle gut daran, bei negativen, zum Teil auch schlimmen Erfahrungen, die wir von Zeit zu Zeit mit radikalen Erscheinungen in der Bundeswehr machen, etwas mehr Gelassenheit an den Tag zu legen. Ich wende mich entschieden dagegen, wenn bei solchen Gelegenheiten die Dinge in einer Weise dramatisiert werden, daß die Wirklichkeit unserer Bundeswehr völlig in den Hintergrund tritt. Es ist ganz selbstverständlich, daß das Notwendige getan wird, damit sich solche Vorkommnisse nicht wiederholen. Aber ich halte es für gänzlich inakzeptabel, wenn an manchen Tagen aufgrund von Einzelfällen der Eindruck erweckt wird - auch in Teilen der Medien -, als sei hier eine Entwicklung im Gang, die große Teile der Bundeswehr erfasse. Solche Behauptungen gehen an der Wirklichkeit vorbei, und deshalb widerspreche ich ihnen mit aller Deutlichkeit.

 

Im übrigen gehört zu dem Bild der Wirklichkeit ja auch - ohne daß ich jetzt demoskopische Daten überbewerte -, wie sich das Meinungsbild der jungen Generation verändert hat: Fast zwei Drittel der Jugendlichen haben Vertrauen in die Bundeswehr; rund 80 Prozent sind davon überzeugt, daß die Bundeswehr für die Landesverteidigung notwendig ist; und auch die Mitwirkung unserer Soldaten bei Missionen der Vereinten Nationen findet eine hohe Akzeptanz.

 

Ich führe dieses positive Meinungsklima nicht zuletzt auf ein geschärftes Wertebewußtsein bei den jungen Menschen in Deutschland zurück. Dies kann man zum Beispiel auch an den Buchtiteln auf der Frankfurter Buchmesse beobachten, die ich seit fast dreißig Jahren regelmäßig besuche. Das ist ein hochinteressanter Seismograph. In den Augen der meisten unserer Landsleute steht die Bundeswehr für Verantwortungsbereitschaft, Pflichtgefühl und Zuverlässigkeit. Das sind nicht nur militärische Tugenden, sondern zugleich unverzichtbare Wertvorstellungen einer freiheitlichen, humanen Gesellschaft.

 

Ich habe schon von den jungen Soldaten im Oderbruch gesprochen, die - ohne großes Aufheben davon zu machen - ihre Pflicht erfüllt haben. Sie finden viele solcher Menschen in allen Bereichen unserer Bevölkerung, ebenso in allen Altersgruppen. Wir sollten gerade diejenigen ermutigen, die solche Beispiele geben. Wir brauchen in Deutschland Menschen, die sich etwas zutrauen, die Verantwortung nicht abgeben, sondern sie übernehmen. Das gilt in der Politik genauso wie in der Wirtschaft und für die Gesellschaft insgesamt. Und es gilt nicht zuletzt auch in der Bundeswehr.

 

Ich bin sicher, daß wir Deutschen die Kraft und Fähigkeit besitzen, unsere wirtschaftlichen und sozialen Probleme zu lösen. Dabei ist das Materielle nicht das Entscheidende. Es kommt auf die immateriellen Voraussetzungen an - auf die Bedeutung, die wir in Deutschland Werten und Tugenden einräumen.

 

Sie, meine Herren Kommandeure, haben dabei einen ganz wichtigen Auftrag. Sie prägen in Ihrem Alltag die nachwachsende Generation ganz wesentlich mit. So tragen Sie - mit anderen im Lande - Verantwortung dafür, wie unser Land in der Mitte des nächsten Jahrhunderts aussehen wird. Ich weiß, daß Sie sich Ihrer Verantwortung bewußt sind. Wenn jeder in unserem Land seine Pflicht so ernst nimmt wie die Soldaten unserer Bundeswehr, dann können wir mit Zuversicht nach vorn blicken.

 

Wir haben überhaupt keinen Grund zu jenem Kulturpessimismus, den man uns in vielen Talk-Shows tagtäglich einzureden versucht. Ich bleibe dabei: Wir Deutsche haben alle Chancen für eine gute Zukunft. Wann je hatte eine junge Generation in Deutschland die berechtigte Aussicht, ihr ganzes Leben in Frieden, Freiheit und Wohlstand verbringen zu können?

 

Lassen Sie uns gemeinsam an die Arbeit gehen. Ich finde, die beste Formulierung dafür bleibt immer noch: Lassen Sie uns gemeinsam unsere Pflicht tun!

 

 

 

Quelle: Bulletin der Bundesregierung. Nr. 99. 10. Dezember 1997.