3. September 1996

Ansprache anlässlich des Staatsbanketts, gegeben vom Präsidenten der Ukraine, Leonid Danilowitsch Kutschma, im Marienpalais in Kiew

 

Herr Präsident, Exzellenzen,

meine sehr verehrten Damen und Herren,

zunächst möchte ich Ihnen, Herr Präsident, dem Herrn Ministerpräsidenten und all Ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern sehr herzlich für den freundschaftlichen Empfang danken, den Sie meiner Delegation und mir bereitet haben. Herr Präsident, wir hatten heute außerordentlich gute und intensive Gespräche. Dabei waren wir uns beide einig, wie sehr die zukünftige friedliche Entwicklung in Europa auch davon abhängt, daß die Ukraine ihren Weg ins 21. Jahrhundert als freies und souveränes Land geht. Wir werden die Ukraine dabei nach Kräften unterstützen.

Seit meinem letzten Besuch als deutscher Regierungschef in der unabhängigen Ukraine vor drei Jahren ist viel geschehen. In dieser Zeit haben wir auf vielen Gebieten in den deutsch-ukrainischen Beziehungen große Fortschritte erreicht. Die Ukraine hat weitreichende Schritte zu einem demokratisch verfaßten Rechtsstaat mit freier Marktwirtschaft unternommen. Das haben mir auch unsere heutigen Gespräche, Herr Präsident, deutlich bestätigt.

Die Ukraine, eines der größten Länder unseres Kontinents, nimmt heute einen festen Platz in der Familie der freien europäischen Völker ein. Niemand könnte heute die Unabhängigkeit und Integrität der Ukraine in Frage stellen, ohne zugleich die Stabilität und Sicherheit des ganzen europäischen Hauses in Frage zu stellen. Die konsequente Hinwendung der Ukraine zu Europa ist nicht zuletzt Ihr persönlicher Verdienst, Herr Präsident. Ich erinnere mich noch gut an unser erstes Gespräch im Juni 1993 hier in Kiew. Als damaliger Ministerpräsident haben Sie mir eindrucksvoll die Probleme des Übergangs für Ihr Land geschildert und zugleich die entschiedene europäische Ausrichtung der ukrainischen Politik bekräftigt.

Die Ukraine ist heute ein angesehenes Mitglied des Europarats. Sie ist der Europäischen Union durch ein Partnerschafts- und Kooperationsabkommen verbunden. Zugleich arbeitet Ihr Land aktiv am Programm "Partnerschaft für den Frieden" des Atlantischen Bündnisses mit. Es ist auch damit am Aufbau einer neuen europäischen Friedensordnung beteiligt.

Die Ukraine hat sich in den letzten Jahren als zuverlässiger Partner erwiesen: Sie hat entscheidende Schritte zur nuklearen Abrüstung unternommen und ist dem Nichtverbreitungsvertrag beigetreten. Ukrainische Soldaten leisten ihren Beitrag zur Friedenssicherung in Bosnien.

Deutschland hat die Einbeziehung der Ukraine in die europäischen und internationalen Institutionen mit besonderem Nachdruck gefördert. Wir werden dies auch in Zukunft tun. Die Ukraine wird nicht in eine politische oder sicherheitspolitische Zone der Ungewißheit geraten. Ich weiß, daß die Ukraine gegenwärtig eine schwierige Periode des Übergangs erlebt. Systemwandel und marktwirtschaftliche Reformen verlangen vielen Menschen in Ihrem Lande beträchtliche Opfer ab.

Die Annäherung der Ukraine an die Europäische Union soll dazu beitragen, die wirtschaftliche Integration zu fördern und die Übergangszeit für die Menschen zu erleichtern. Für unsere Zusammenarbeit ist es weiterhin unerläßlich, die begonnenen Reformen konsequent fortzuführen. Die kürzlich verabschiedete neue Verfassung ist dafür eine wichtige Grundlage. Die Einigung auf eine neue Verfassung beweist zugleich, daß in der Ukraine - trotz aller Unterschiede in den politischen Auffassungen - Grundkonsens über eine demokratische Neugestaltung besteht.

Herr Präsident, Deutschland und seine Partner in der Europäischen Union haben Ihrem Land in den vergangenen Jahren durch tatkräftige finanzielle und wirtschaftliche Unterstützung in der Zeit des Übergangs geholfen. Wir sind uns bewußt, daß die Ukraine weiter auf Unterstützung angewiesen ist. Bei unseren heutigen Gesprächen haben wir auch darüber gesprochen, wie und in welchen Bereichen dies geschehen kann. Das gilt bilateral aber auch für die Unterstützung durch die Europäische Union.

Die Ukraine ist aufgrund des hohen Ausbildungsstandes ihrer Bevölkerung, des industriellen Potentials, des Fleißes der Menschen hier, aber auch der Geographie ein attraktiver Partner für die deutsche Wirtschaft. Es ist daher gut, daß so viele Vertreter der deutschen Wirtschaft in meiner Begleitung mit nach Kiew gekommen sind.

Wir haben heute gemeinsam in einigen Gesprächen sehr offen über die Probleme und Möglichkeiten wirtschaftlicher Zusammenarbeit diskutiert und gesprochen. Es geht vor allem darum, Hindernisse für Zusammenarbeit und Investitionen zu beseitigen und ganz allgemein die Rahmenbedingungen für ausländisches Engagement in der ukrainischen Wirtschaft zu verbessern.

Unsere Zusammenarbeit im Energiebereich ist besonders wichtig. Herr Präsident, Sie wissen um mein sehr persönliches Engagement im G7-Kreis für eine zügige Umsetzung des Gesamtpakets zur Schließung von Tschernobyl. In diesem Zusammenhang gilt der Rehabilitierung von Kohlekraftwerken unsere besondere Aufmerksamkeit. Ich hoffe, daß wir hier bald zu konkreten Entscheidungen kommen.

Für die Beziehungen unserer Völker kommt es aber nicht nur auf unsere wirtschaftliche Zusammenarbeit an. Auch auf kulturellem und wissenschaftlichem Gebiet haben sich unsere - zum Teil sehr alten - Beziehungen erfreulich entwickelt. Gerade die Kontakte zwischen ukrainischen und deutschen Universitäten - nicht zuletzt in den neuen Bundesländern - haben dabei besondere Bedeutung. Ich habe mich besonders über das Zusammentreffen mit Studenten anläßlich der mir heute verliehenen Ehrendoktorwürde der Taras-Schewtschenko-Universität gefreut.

Herr Präsident, Sie haben aus gutem Grund die Geschichte angesprochen - auch die schlimmen Kapitel der Geschichte. Ich glaube, es ist wichtig, daß man auch diese Erfahrungen nicht wegschiebt. Sie sind allgegenwärtig. Ich bin Ihnen und Ihrer Regierung sehr dankbar, daß Sie mitgeholfen haben, daß der neu angelegte Friedhof für deutsche Soldaten jetzt weiter ausgebaut wird. Wir konnten ihn heute besuchen. Für mich und für viele meiner Landsleute sind solche Besuche immer wieder sehr bewegend. Auch mein Bruder ist mit 19 Jahren im Zweiten Weltkrieg gefallen - ein Schicksal, das viele Familien hier in der Ukraine und bei uns in Deutschland teilen.

Krieg und Gewalt sind dunkle Kapitel unserer Geschichte, die wir nicht vergessen dürfen. Dieser deutsche Soldatenfriedhof in der Ukraine ist uns eine Mahnung, dafür zu sorgen, daß es nie wieder einen Rückfall in eine Zeit der Barbarei gibt. Wenn man die jungen Menschen hier - die Soldaten oder die Studenten - sieht, weiß man, daß es die Pflicht unserer Generation ist, alles zu tun, damit so etwas nie wieder passiert - damit der Frieden in Europa im 21. Jahrhundert enthalten bleibt.

Herr Präsident, meine Damen und Herren, die soeben erfolgte Unterzeichnung des Minderheitenschutzabkommens und die großzügige Rückgabe einiger kriegsbedingt verlagerter deutscher Kulturgüter sind Zeichen für das gewachsene Vertrauen und die neue Partnerschaft zwischen Deutschen und Ukrainern. Deutschland hat seinerseits ukrainische Kunstwerke zurückgegeben und ist bereit, Ihnen Hilfe bei der Restaurierung wertvoller Kunstschätze zu leisten. Ich weiß, daß diese Themen in Ihrem Lande Emotionen und Erinnerungen wachrufen. Umso mehr danke ich Ihnen, daß Sie sich im Interesse einer zukunftsgewandten Gestaltung unserer Beziehungen einer Regelung dieser Fragen persönlich angenommen haben.

Herr Präsident, meine Damen und Herren, mein heutiger Besuch in Kiew zeigt das große Interesse Deutschlands an einer freien, unabhängigen Ukraine. Die Ukraine ist ein Land im Aufbruch. Sie hat viele Probleme - sie wird sie überwinden. Deutschland wird Ihnen dabei ein verläßlicher Partner sein. Europa braucht eine unabhängige und demokratische Ukraine ebenso wie die Ukraine Europa braucht. Ich möchte Sie einladen, Herr Präsident, meine Damen und Herren, mit mir das Glas zu erheben auf eine glückliche Zukunft der Ukraine und auf die deutsch-ukrainische Freundschaft.

Quelle: Bulletin der Bundesregierung. Nr. 73. 17. September 1996.