3. September 1996

Rede anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde der Taras-Schewtschenko-Universität in Kiew

 

Verehrter Herr Rektor, meine Herren Minister,

meine Damen und Herren Dekane,

meine Damen und Herren Professoren,

Exzellenzen, meine sehr verehrten Damen und Herren

und vor allem: liebe Studentinnen und Studenten,

ich freue mich, heute bei Ihnen zu sein - herzlichen Dank für das freundliche Willkommen. Ihnen, verehrter Herr Rektor, und den Damen und Herren Ihres akademischen Senats danke ich für die hohe Ehrung, die Sie mir soeben verliehen haben. Ich empfinde die Verleihung der Ehrendoktorwürde als eine besondere Auszeichnung. Die heutige Ehrung erfüllt mich auch deshalb mit besonderer Freude, weil Ihre Universität, die auf die Mohyla-Akademie zurückgeht, eine herausragende Stellung im Osten Europas einnimmt.

Bereits an der alten Akademie wurde die lateinische Sprache gelehrt. Europäisches Gedankengut war hier schon früh zu Hause. Wir Europäer sollten uns häufiger auf alte akademische Traditionen, auf Querverbindungen und wechselseitige Einflüsse besinnen. Alle Europäer dürfen sich in diesen Stätten des Geisteslebens auf ihrem Kontinent heimisch fühlen, auch hier am Dnjepr, der alten Handelsstraße von der Ostsee zum Schwarzen Meer - "wo die Steppe weit sich breitet in der Ukraine", wie Taras Schewtschenko vor 150 Jahren schrieb. Der heutige Namensgeber dieser Hochschule steht für einen freiheitlichen Geist, für den Willen zur Unabhängigkeit von Lehre und Forschung.

In kaum einer anderen Gestalt des ukrainischen Geisteslebens spiegelt sich zugleich so deutlich jener feste Wille zur politischen und kulturellen Selbstbehauptung, der die Ukraine 1991 in die Unabhängigkeit geführt hat. Wir Deutschen haben uns damals mit und für die Ukraine gefreut. Diesen Weg hat die Ukraine seither mit Umsicht und Stetigkeit verfolgt. Vor wenigen Tagen haben Sie den 5. Jahrestag der Unabhängigkeit feierlich begangen. Die unabhängige Ukraine ist ein Gewinn für die Völkergemeinschaft. Ihren festen Platz in Europa kann ihr niemand mehr streitig machen! Was wir als Deutsche tun können, was ich als deutscher Regierungschef tun kann, will und werde ich tun, um Ihnen dabei zu helfen, daß dieser Platz für jedermann sichtbar ist und bleibt.

Meine Damen und Herren, die Beziehungen zwischen Deutschland und der Ukraine reichen - gerade im Bereich der Wissenschaft - weit zurück in die Vergangenheit. Mohylas Nachfolger im Rektorat kam aus Preußen, und viele junge Menschen aus diesem Raum gingen als Studenten an deutsche Universitäten. Es waren vor allem deutsche Professoren, die den Lehrbetrieb an der 1847 gegründeten Medizinischen Fakultät der Kiewer Universität aufnahmen.

Heute knüpfen an diese Tradition des akademischen Austausches verschiedene Partnerschaften an, die die Schewtschenko-Universität mit deutschen Universitäten verbinden, insbesondere in Kiews Partnerstädten Leipzig und München, und auch mit Konstanz. Solche Kontakte gilt es zu pflegen und zu vertiefen. Ich wünsche mir sehr, daß wir gemeinsam - Sie hier in Kiew in der Ukraine und wir in Deutschland - jede Chance nutzen, um den akademischen Austausch zu intensivieren, um die Chancen zu verbessern, daß junge Leute zueinander kommen, sich kennenlernen und auch voneinander lernen. Ich begrüße es daher ausdrücklich, daß der Deutsche Akademische Austauschdienst in Kürze hier in Kiew ein eigenes Verbindungsbüro eröffnen wird.

Meine Damen und Herren, liebe Studentinnen und Studenten, schon vor 200 Jahren erschien die erste wissenschaftliche Gesamtdarstellung der ukrainischen Geschichte in deutscher Sprache. Seit einiger Zeit wächst wieder das Interesse für eine Geschichte, in der unsere Völker jahrhundertelang in Frieden zusammenlebten und beispielsweise das deutsche Stadtrecht nach dem Vorbild Magdeburgs in der Ukraine galt.

Die jüngere Vergangenheit aber war von Krieg, von Blutvergießen und schrecklichen Verbrechen gekennzeichnet. Von deutscher Hand ist den Menschen hier in dieser Stadt und in diesem Land Schlimmes angetan worden. Das Mahnmal von Babij Jar steht für das Leid und die Schmerzen jener Zeit - für das Grauen und für die Sinnlosigkeit des Krieges. Mit dem Völkermord an den ukrainischen Juden haben die Nazis auch eine Kultur zerstört, der Isaak Babel ein unvergeßliches Denkmal gesetzt hat. Wir wollen dieses Leiden und Sterben, den Schmerz und die Tränen nicht vergessen. Das schulden wir den Opfern und nur so können wir gemeinsam unsere Zukunft gewinnen. Wichtig ist es aber auch, sich auf das langwährende, friedliche Miteinander von Deutschen und Ukrainern zu besinnen.

Wir wollen Partner in Europa sein. Seit bald einem Jahr ist die Ukraine Mitglied des Europarats, der sich in seiner Satzung zu den Werten bekennt, die "der persönlichen Freiheit, der politischen Freiheit und der Herrschaft des Rechtes zugrunde liegen, auf denen jede wahre Demokratie beruht". Ihr großes Land ist ein Mitglied der europäischen Familie. Kiew und Lemberg sind ebenso europäische Städte wie Warschau, Berlin und Paris. Die Ukraine hatte über Jahrhunderte hinweg ein sehr europäisches Schicksal: Grenzland und Mitte zugleich, umgeben von mächtigen Nachbarn, durfte die Ukraine lange Zeit nicht sich selbst gehören.

Ethnische und religiöse Vielfalt konnten faszinieren, sie waren aber auch Quellen für Spannungen und Konflikte. Der Leidensweg in diesem Jahrhundert schließlich ist vielen noch gegenwärtig. Das Wladimir-Kreuz, das sich in ein scharfes Schwert verwandelt - von dieser Vision schrieb Michail Bulgakow am Ende seines Romans über den Winter 1918/19, "Die weiße Garde". Doch das Schwert werde verschwinden, nicht aber die Sterne, und er schloß mit der Frage: "Warum also wollen wir unseren Blick nicht zu den Sternen erheben?" Die Ukraine war und ist Teil der europäischen Kultur. Heute kann sie eine wichtige Brückenfunktion zu den Ländern im Osten und im Süden unseres Kontinents entwickeln.

Meine Damen und Herren, mit dem 1994 abgeschlossenen Partnerschaftsabkommen haben die Ukraine und die Europäische Union eine Zusammenarbeit vereinbart, die weit in die Zukunft reicht. Das Abkommen eröffnet ausdrücklich die Perspektive, ab 1998 in Verhandlungen über eine Freihandelszone zwischen der Ukraine und der Europäischen Union einzutreten. Wir werden die Ukraine auf diesem Weg unterstützen.

Deutschland wird sich zudem auch weiterhin in der Europäischen Union für einen Aktionsplan für die Ukraine einsetzen, der auch die Verbesserung des wirtschaftlichen Austausches zum Ziel haben muß. Aber auch die regionale Zusammenarbeit der Staaten Mittel- und Osteuropas entwickelt sich erfreulich. Dabei werden auch alte geschichtliche Gegensätze Stück für Stück überwunden. Die Zusammenarbeit in multilateralen Gremien ist enger geworden. Viele neue bilaterale Vereinbarungen wurden abgeschlossen. Politische Aufbruchstimmung und die Einsicht, daß ohne die Überwindung historisch begründeter Spannungen und Gegensätze der gesamten Region dauerhafter Wohlstand verwehrt bleiben würde - beides war auch bei der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft vor fast vierzig Jahren entscheidend. Wir sind beim Bau des Hauses Europa jetzt in einem entscheidenden Abschnitt. Wir müssen und wollen dabei weit in die Zukunft denken.

Zur künftigen Ordnung Europas gehören gleichermaßen stabile, anerkannte Grenzen wie auch ein umfassender Schutz von Minderheiten. In dieser Ordnung kann auch die Unabhängigkeit und die territoriale Integrität der Ukraine heute von niemanden mehr in Frage gestellt werden. In diesem Zusammenhang möchte ich folgendes hinzufügen: Kein Staat kann einem anderen Vorschriften darüber machen, ob er in einem Bündnis ist oder nicht. Es hat auch kein Staat das Recht, andere Staaten als eine Art Sicherheitsglacis zu behandeln. Wer dies tut, denkt in überholten Kategorien eines vergangenen europäischen Mächtesystems.

Die Ukraine ist ein junger Staat. Als Nation ist sie in Jahrhunderten gewachsen. Der seit 1991 eingeschlagene Weg der Reformen ist gewiß nicht immer leicht, aber nur dieser Weg sichert der Ukraine auf Dauer eine gute Zukunft. Ich bin auch hierhergekommen, um Ihnen, der Regierung Ihres Landes und all denen, die Verantwortung tragen, aber nicht zuletzt auch der jungen Generation, ganz einfach zu sagen: Wir, die Deutschen, die Bundesregierung und ich selbst werden dem ukrainischen Volk auf diesem Weg zur Seite stehen und es nach Kräften unterstützen. Sie können sich auf uns verlassen!

Liebe Studentinnen und Studenten, ich möchte gern die Gelegenheit wahrnehmen und mich persönlich an Sie wenden. Die regen Verbindungen zwischen unseren beiden Ländern, zwischen unseren Hochschulen, zwischen unseren wissenschaftlichen Eliten und der studentischen Jugend unserer Länder sind von unschätzbarer Bedeutung für die Zukunft der deutsch-ukrainischen Beziehungen.

Hier werden Horizonte eröffnet, Interessen geweckt und persönliche Beziehungen angebahnt, die oft ein ganzes Leben halten. Ich habe nach dem Krieg in den 50er Jahren als Student selbst erlebt, wie viel die Begegnungen der deutschen Jugend beispielsweise mit ihren Altersgenossen aus Frankreich, Großbritannien oder Holland zur Überwindung der Vergangenheit und zum Aufbau eines neuen, gemeinsamen Europa beigetragen haben. Ich wünsche mir, daß dieses Beispiel auch zwischen unseren beiden Ländern Schule macht.

Wir stehen kurz vor dem Beginn eines neuen Jahrhunderts, eines neuen Jahrtausends. Wer Sinn für Geschichte hat, weiß, daß dies nicht irgendeine Zeitenwende ist. Heute bietet sich uns die phantastische Chance - nach all dem Elend und Leid dieses Jahrhunderts -, in Europa eine neue, eine gerechte und dauerhafte Friedensordnung zu verwirklichen.

Ich wünsche mir dafür vor allem, daß Sie - die junge Generation Ihres Landes und Europas - sich an diesem Friedenswerk beteiligen. Gewiß wird die Zukunft nicht immer leicht zu meistern sein. Viele oft drückende Sorgen des täglichen Lebens müssen überwunden werden. Wir bekommen die Zukunft nicht geschenkt. Wir werden viel Vernunft, Augenmaß und guten Willen brauchen. Dann aber - da bin ich sicher - werden wir alle Herausforderungen gemeinsam meistern können. Warum sollen wir nicht endlich aus den Erfahrungen dieses Jahrhunderts gelernt haben? Es ist der Auftrag der Generation, die jetzt Verantwortung trägt, daraus Konsequenzen zu ziehen, Grenzen zu überwinden und das Haus Europa fertigzubauen. Es wird die Aufgabe der jungen Generation sein, diese Aufgabe eines Tages fortzuführen.

Wer heute hier an dieser traditionsreichen Universität studiert, hat noch einen weiten Lebensweg vor sich. Sein Leben wird ihn weit hineinführen in das 21. Jahrhundert. Es ist Ihr Leben, liebe Studentinnen und Studenten, es ist Ihre Verantwortung, es ist Ihre Chance und Zukunft! Sie haben Möglichkeiten, Ihr Leben zu planen und zu gestalten, wie sie in Jahrhunderten keine Generation in Europa hatte. Sie sind die erste Generaion der modernen Geschichte, die solche Chancen hat. Auch wenn die Zukunft manchem nicht immer leicht erscheint und vieles mühsam errungen werden will: Dies gehört zum Leben. Schwierigkeiten sind dazu da, überwunden zu werden. Nehmen Sie Ihre Chance wahr!

Helfen Sie mit beim Aufbau Ihres jungen Vaterlandes! Setzen Sie sich ein für Ihre Heimat, für die Ukraine. Gehen Sie über die Grenzen hinaus und reichen Sie Ihren europäischen Nachbarn die Hand. Bauen Sie mit an der Zukunft Europas! Ich wünsche Ihnen viel Glück und Gottes Segen auf Ihrem Weg.

Quelle: Bulletin der Bundesregierung. Nr. 73. 17. September 1996.