30. April 1991

Rede zur Eröffnung des 94. Deutschen Ärztetags in Hamburg

 

I.

Erstmals wieder seit fast 60 Jahren sind auf einem Deutschen Ärztetag Delegierte aus allen Teilen Deutschlands anwesend. Das ist ein Grund zur Freude, aber auch Anlass: Dank den Ärztinnen und Ärzten, den Krankenschwestern und Krankenpflegern sowie allen hier anwesenden Vertretern aus anderen Berufen des Gesundheitswesens; Dank für ihren unermüdlichen Einsatz am Menschen und im Dienste der Menschlichkeit.

Ich wende mich dabei vor allem an die Ärztinnen und Ärzte in den neuen Bundesländern: Sie haben widrigen äußeren Umständen zum Trotz in ärztlicher Verantwortung und Pflichterfüllung Großes geleistet. Ich habe am vergangenen Freitag im Zusammenhang mit einer anderen Begegnung bei der Diakonie in Leipzig einmal mehr ein Krankenhaus besuchen können. Wer den Dienst der Schwestern, der Pfleger und der Ärzte unter diesen Bedingungen sieht, kann ermessen, was es heißt: Pflicht erfüllen. Ich wünsche mir, dass wir nicht vergessen, welcher Dienst dort geleistet wurde: zu einem Zeitpunkt - ich klage das nicht an, ich stelle es nur fest -, zu dem andere weggegangen sind, um günstigere Möglichkeiten wahrzunehmen. Es sind Ärzte, Pfleger, Ärztinnen und Schwestern geblieben, weil sie sich dem Dienst am Patienten verpflichtet fühlten; ihnen gebührt unser besonderer Dank.

Große Anerkennung verdienen auch die Ärztinnen und Ärzte aus den westlichen Bundesländern und ihre Verbände für die partnerschaftliche Unterstützung ihrer Kolleginnen und Kollegen sowie für ihre Hilfe und ihren Rat bei der Schaffung neuer Strukturen, bei Fragen der Niederlassung und beim Aufbau der Selbstverwaltung.

Vor beinahe sieben Monaten konnten wir die staatliche Einheit Deutschlands vollenden. Jetzt gilt es, die wirtschaftliche und soziale, die ökologische und kulturelle Einheit Deutschlands herbeizuführen. Die Bundesregierung fördert den raschen wirtschaftlichen Aufschwung in den neuen Bundesländern mit dem umfassenden »Gemeinschaftswerk Aufschwung Ost«. Über 100 Mrd. DM stehen bereit, um neue Arbeitsplätze, verbesserte Wohnungen, mehr Telefonverbindungen und ein dichtes Verkehrsnetz zu schaffen, um den Wandel sozial abzusichern und die Umwelt zu schützen.

Durch eine großzügige Regelung für Investitionen entstehen mehr neue Arbeitsplätze. Groß angelegte Programme, mit denen die Bundesregierung schon vor der Wiedervereinigung Hilfe geleistet hat, haben den Menschen in den neuen Bundesländern bereits die Vorteile moderner medizinischer Möglichkeiten gebracht.

Bei alledem sind wir uns der Tatsache bewusst, dass die Folgen von mehr als 40 Jahren kommunistischer Diktatur nicht über Nacht zu bewältigen sind. Die Zeit, die wir für diese Anstrengung benötigen, lässt sich am wenigsten durch Irreführung und leichtfertig herbeigeredete Katastrophenstimmung verkürzen. Nur gemeinsam können wir die schlimme Hinterlassenschaft der SED beiseite räumen, nur gemeinsam können wir eine gesunde Wirtschaft in den neuen Bundesländern aufbauen. Nur gemeinsam wird es uns gelingen, unsere Umwelt zum Wohle aller Deutschen, zum Wohle unserer Kinder und Enkel wirksam zu schützen. [...]

II.

Gerade im Beruf des Arztes sind Einstellungen und Tugenden gefordert, auf die unsere Gesellschaft insgesamt angewiesen ist. Finanzen und Kompetenzen sind wichtig - aber eine Gesellschaft mit menschlichem Gesicht setzt mehr voraus als das reibungslose Funktionieren von Wirtschaft und Verwaltung. Der Beruf des Arztes verbindet Engagement und Bewusstsein für die Würde jedes einzelnen Menschen mit Selbständigkeit, Eigenverantwortung und auch mit Unternehmungsgeist.

Der Einsatz von Ärzten für Menschen und Menschlichkeit zeigt sich in diesen Tagen einmal mehr am Engagement vieler Ihrer Berufskollegen aus zahlreichen Ländern in der Türkei, im Irak und im Iran. Die humanitäre Unterstützung der irakischen Flüchtlinge - Kurden und Schiiten - durch die Völkergemeinschaft bliebe wirkungslos ohne das lebensrettende Wirken vieler einzelner Ärztinnen und Ärzte, ohne den Einsatz von deren zahlreichen Helfern. Diese Menschen gehören für mich zu den eigentlichen Helden unserer Zeit. [...]

Hervorzuheben sind auch die Ärztinnen und Ärzte, die sich anderswo in der Welt selbstlos einsetzen: Wo Hunger, Elend und Krankheit die Menschen bedrohen, sind sie bereit, ihre persönlichen Wünsche zurückzustellen, um Menschenleben zu retten. Allzu oft war ihr Einsatz in den letzten Jahren gefragt. Sie haben in vorbildlicher Art und Weise gehandelt: in Kriegszeiten - wie beispielsweise den langen Jahren des Afghanistankriegs -, aber auch nach Naturkatastrophen, beispielsweise nach dem schweren Erdbeben in Armenien.

III.

In den vergangenen Jahrzehnten hat sich das Gesundheitswesen zu einem Kernbereich unserer freiheitlichen Sozialordnung entwickelt. Viele Faktoren haben dazu beigetragen. Ich nenne einerseits neuartige Gefährdungen für die Gesundheit, andererseits die immensen Fortschritte in der Medizin und nicht zuletzt die - alles in allem - steigende Bereitschaft der Bürgerinnen und Bürger, Verantwortung für die eigene Gesundheit zu übernehmen. [...]

Wir haben in den vergangenen Jahren gute Voraussetzungen geschaffen, das hohe Niveau des Gesundheitswesens bei uns zu erhalten und weiterzuentwickeln. Die Bundesregierung hat sich dabei stets um einen Konsens bemüht, ist aber auch Auseinandersetzungen nicht aus dem Weg gegangen, wo es ihr um der Sache willen geboten erschien. Ich hoffe jedoch, wir werden in Zukunft überwiegend Konsens haben und weniger Auseinandersetzungen.

Wir haben bei der Gesundheitsreform große Widerstände erfahren müssen. Heute wissen wir, dass diese Reform sich in ihren wesentlichen Teilen bewährt hat. Die Grundlagen für die finanzielle Stabilisierung der gesetzlichen Krankenversicherung sind gelegt. Damit bleibt eine qualitativ hochwertige medizinische Versorgung gewährleistet. Und es sind neue Wege beschritten worden - beim Ausbau der Gesundheitsvorsorge und bei der Qualitätssicherung in der medizinischen Versorgung. Die Bekämpfung der großen Volkskrankheiten wie zum Beispiel Krebs, Herz-Kreislauf-Krankheiten und Rheuma, aber auch Diabetes und Allergien, bleibt eine zentrale Aufgabe. Wir können sie nur im engen Zusammenwirken aller Verantwortlichen im Gesundheitswesen sowie in Politik und Gesellschaft meistern. Die Gesundheitspolitik der Bundesregierung setzt dabei nicht zuletzt auf die Bürgerinnen und Bürger selbst - auf ihre Verantwortung und ihr Bewusstsein für die Erfordernisse der eigenen Gesundheit.

Unser Ziel muss es sein, die Vorsorge immer weiter zu verbessern. Insbesondere bei der Bekämpfung von Krebs ist es notwendig, mehr über die Ursachen dieser Krankheit zu erfahren. Ich werde mich daher für ein umfassendes Krebsregister in der Bundesrepublik einsetzen. Dies erleichtert es uns, auch internationale Vergleiche zu ziehen. Auch bei der Bekämpfung von AIDS hat die Bundesregierung die Herausforderung frühzeitig erkannt. Von Anfang an hat sie den Schutz der Menschen vor einer Infektion, die optimale Betreuung der Infizierten und Kranken sowie die Verhinderung von Ausgrenzung und Diskriminierung Betroffener als gleichrangige Ziele verfolgt.

Wir werden in unseren Anstrengungen nicht nachlassen. Wenn dennoch der Bund jetzt - wie lange angekündigt - weniger Mittel aufwendet, so entspricht dies nur den verfassungsmäßigen Verantwortlichkeiten: Die vom Bund geförderten Modellprogramme müssen nach ihrer Beendigung von den Ländern in eigener Verantwortung weitergeführt werden.

Vor große Aufgaben stellt uns auch die Suchtmittelbekämpfung. Vor allem der Missbrauch von Drogen ist in den letzten Jahren weltweit angestiegen. Lassen Sie mich das an einem Beispiel verdeutlichen: Kokain-Dealer setzten 1990 in den westlichen Ländern 150 Milliarden US-Dollar um, das bedeutet gegenüber 1989 eine Zunahme von gut 60 Prozent. Diese erschreckende Summe entspricht mehr als der Hälfte unseres Bundeshaushalts für dieses Jahr. Zur Eindämmung dieser Entwicklung hat die »Nationale Drogenkonferenz« im Juni letzten Jahres unter meiner Leitung einen nationalen Rauschgift-Bekämpfungsplan verabschiedet. In einer beispielhaften Aktion haben sich hier viele Kräfte unserer Gesellschaft gefunden, um auf allen Ebenen der Rauschgift-Bekämpfung mitzuwirken.

Ich setze mich mit Nachdruck dafür ein, auch die Zusammenarbeit auf internationaler Ebene immer weiter zu verbessern. Diese Heimsuchung ist nicht allein auf nationaler Ebene zu bewältigen. Wir sehen durch international operierende Mafia-ähnliche kriminelle Organisationen den inneren Frieden der reicheren Länder der westlichen Welt gefährdet. Dies wird in den nächsten Jahren auch in der Europäischen Gemeinschaft eine der ganz großen Herausforderungen sein.

Die moderne Medizin bietet heute weitreichende Möglichkeiten der Vorbeugung und Heilung, und in diesem Zusammenhang gehört die Gentechnik zu den großen Zukunftstechnologien. Sie weckt Hoffnungen auf Überwindung schwerwiegender Gegenwarts- und Zukunftsprobleme in den Bereichen Medizin, Ernährung und Umwelt, aber sie konfrontiert uns auch besonders nachhaltig mit dem Spannungsverhältnis zwischen dem, was wir tun können, und dem, was wir tun dürfen. Die uralte Frage stellt sich heute mehr denn je: Ist alles das, was machbar ist, auch erlaubt? Auch dieser Herausforderung hat sich die Bundesregierung frühzeitig gestellt. Das im Juli letzten Jahres in Kraft getretene Gentechnikgesetz schafft den rechtlichen Rahmen für die weitere Erforschung, Entwicklung und Nutzung der Gentechnik. Zugleich werden durch dieses Gesetz Mensch und Umwelt vor möglichen Gefahren geschützt.

In dieser Legislaturperiode werden wir uns verstärkt dem Bereich Humangenetik zuwenden. Die Diskussion um Chancen und Risiken der Analyse des menschlichen Genoms wird in den kommenden Jahren im In- und Ausland weiter an Bedeutung gewinnen. Schon vor Jahren habe ich gefordert, dass wir hier auch international zu einem breiten ethischen Konsens gelangen. Keine der Würde des Menschen verpflichtete Gesellschaft darf zulassen - und das ist für mich nicht zuletzt eine Frage des christlichen Menschenbilds -, dass der Wert menschlichen Lebens nach genetischen Merkmalen bemessen wird.

Wert und Würde des Menschen sind unabhängig von Krankheit und Behinderung - und natürlich auch von der Frage, ob es sich um geborenes oder ungeborenes Leben handelt. Auch dem Thema der sogenannten Sterbehilfe werden wir uns zunehmend widmen müssen. Dabei ist - nicht zuletzt im Blick auf die Geschichte unseres Volkes in diesem Jahrhundert - höchste Sensibilität gefordert.

Dank den Fortschritten in der Medizin wächst bei uns die Zahl der älteren Menschen stetig. Schon heute leben in Deutschland rund 16 Millionen Menschen, die über 60 Jahre alt sind - das heißt, etwa genauso viel wie unter Zwanzigjährige. Der Anteil der Senioren an der Bevölkerung wird in den kommenden Jahren noch weiter deutlich ansteigen. Unsere Politik wird deshalb in vielen Bereichen in besonderem Maße auch auf die Bedürfnisse der älteren Generation ausgerichtet sein. Unsere Gesellschaft muss den Älteren ein Leben in Selbständigkeit und Sicherheit - ein Leben in Würde ermöglichen. Gerade diese Generation hat die Last der Geschichte in diesem Jahrhundert in besonderer Weise tragen müssen - vor allem jene, die nach der NS-Diktatur und dem Krieg auch noch unter kommunistischer Herrschaft leben mussten. Die Seniorenpolitik der Bundesregierung setzt auf Lebenserfahrung und Selbständigkeit im Alter. Diese Selbständigkeit zu erhalten und gegebenenfalls durch Rehabilitationsmaßnahmen wiederherzustellen, ist eine große Herausforderung auch für die Ärzteschaft. Doch denken wir nicht nur an jene älteren Mitbürgerinnen und Mitbürger, die aktiv und selbständig ihr Leben führen können. Die Zukunft menschengerecht zu gestalten heißt auch, eine Pflege im Alter, wenn sie notwendig wird, menschenwürdig zu gestalten.

Mit dem Gesundheitsreformgesetz und mit dem Renten- und Steuerreformgesetz hat die Bundesregierung den Einstieg für eine Verbesserung der Situation vor allem bei der häuslichen Pflege erreicht. Ich nehme an, Sie alle stimmen mir zu, dass die Pflege zu Hause, wenn möglich, die beste und menschlichste Lösung darstellt. In dieser Legislaturperiode werden weitere Entscheidungen getroffen.

Die Bundesregierung erarbeitet zur Zeit einen Gesetzentwurf zur Absicherung bei Pflegebedürftigkeit. Wir wollen dabei auf den Erfahrungen derer aufbauen, die bereits Pflege leisten. Wir wollen die Abhängigkeit Pflegebedürftiger von Sozialhilfe vermeiden und eine ausgewogene Finanzierung sicherstellen.

Ich will ganz offen sagen, dass ich - in Abänderung dessen, was ich noch vor wenigen Monaten in der Regierungserklärung angekündigt habe - inzwischen zu der Überzeugung gekommen bin, dass wir mit der eigentlichen Gesetzgebung schon in diesem Jahr beginnen müssen, auch wegen der Entwicklung in ganz Deutschland. Wir sollten früher als bisher vorgesehen, das Gesetz verabschieden. Das setzt aber auch voraus - und diese Bitte will ich hier vortragen -, dass wir zu einer umfassenden und unvoreingenommenen Diskussion um den besten Weg in diesem Bereich kommen und nichts Überhastetes tun. Wir müssen den Sachverstand vieler, nicht zuletzt auch Ihren, dabei mit zu Rate ziehen.

Gesundheitspolitik kann nur erfolgreich sein, wenn sie ganzheitlich verstanden wird. Dies zeigt sich besonders deutlich an der Situation in den neuen Bundesländern. Wir müssen davon ausgehen, dass eine Reihe von Krankheiten dort mit den von den kommunistischen Machthabern hinterlassenen verheerenden Umweltschäden zusammenhängen. Gesellschaftspolitik, Umweltpolitik und Gesundheitspolitik gehören unauflöslich zusammen. Wir alle werden uns immer mehr bewusst, wie abträglich eine beschädigte oder gar vergiftete Umwelt der menschlichen Gesundheit sein kann.

Die Bewahrung der uns anvertrauten Schöpfung gehört zu den zentralen Aufgaben einer wertorientierten, einer im besten Sinne des Wortes konservativen Politik. Wir wollen dies zum Ausdruck bringen, indem wir den Umweltschutz als Staatsziel im Grundgesetz verankern. Auf der Tagesordnung für die neunziger Jahre stehen im Umweltschutz zwei Themen obenan: erstens die Beseitigung der verheerenden ökologischen Schäden, die über vier Jahrzehnte kommunistischer Diktatur nicht nur in der ehemaligen DDR, sondern in ganz Mittel-, Ost- und Südosteuropa angerichtet haben; und zweitens eine weltumspannende Umweltpartnerschaft zur Bekämpfung der globalen Gefahren für die Lebensgrundlagen der Menschheit.

Die weltweite Bedrohung der Umwelt und des Klimas verlangt entschlossenes und geschlossenes Handeln aller Völker. Im Mittelpunkt steht dabei eine nachhaltige Zurückführung der Kohlendioxyd-Emissionen. Die Bundesregierung hat bereits im November des vergangenen Jahres eine Verringerung um 25 bis 30 Prozent bis zum Jahre 2005 als Ziel vorgesehen. Die Erdatmosphäre zu schützen und Klimaschäden zu vermeiden muss eine weltweite Gemeinschaftsleistung von Industrie- und Entwicklungsländern sein.

Wir sind bereit, die Entwicklungsländer bei ihren Bemühungen um eine umweltgerechte Entwicklung solidarisch zu unterstützen. Dies schließt die Koppelung von Schuldenerleichterungen mit besonderen Maßnahmen zum Schutz der Umwelt ein. Der Schutz der tropischen Regenwälder wird dabei ein Schwerpunktthema sein. Die unter maßgeblicher Beteiligung der Bundesregierung ergriffenen internationalen Initiativen müssen nun so schnell wie möglich - ehe es zu spät ist -konsequent weiterentwickelt und umgesetzt werden.

IV.

Der Prozess der Schaffung einheitlicher Lebensverhältnisse in ganz Deutschland bringt für die Bürgerinnen und Bürger der neuen Bundesländer eine tiefgreifende Umgestaltung weiter Lebensbereiche mit sich. Unser in über 40 Jahren freiheitlicher Demokratie entwickeltes soziales Sicherungssystem hat hier eine einmalige Belastungsprobe zu bestehen - und ich bin sicher, es wird sie bestehen.

Die Bundesregierung hat Maßnahmen auf den Weg gebracht, um so rasch wie möglich in den neuen Bundesländern ein vergleichbar hohes Niveau in der Versorgung der Kranken und beim Gesundheitsschutz zu erreichen wie in den westlichen Bundesländern. Es ist unser fester Wille, in den neuen Bundesländern jenes System der gesundheitlichen Versorgung einzuführen, mit dem wir im bisherigen Bundesgebiet so gute Erfahrungen gemacht haben. Allen Tendenzen zu einem staatlichen Gesundheitswesen erteilt die von mir geführte Bundesregierung auch in Zukunft eine klare Absage. Gewiss: Die Umstellung des in der früheren DDR bestehenden Systems auf eine freiheitliche, auf Eigeninitiative und Wettbewerb ausgerichtete Ordnung auch im Gesundheitsbereich fällt vielen nicht leicht. Hier gilt es, Mut zu machen und zu helfen.

In meiner Regierungserklärung habe ich daraufhingewiesen, dass die Förderung der freiberuflichen Tätigkeit der Ärzte mit im Vordergrund steht. Erfreulicherweise gibt es in den neuen Bundesländern eine Entwicklung, die unsere ursprünglichen Erwartungen übertrifft. Die Tendenz zur Berufsausübung in freier Praxis ist bei den ambulant tätigen Ärzten weiterhin steigend. Nimmt man die noch tätigen Polikliniken hinzu, dann wird deutlich, dass die ambulante gesundheitliche Versorgung in den neuen Bundesländern gesichert ist.

Der Zustand der stationären Gesundheitseinrichtungen in den neuen Bundesländern macht die Auswirkungen sozialistischer Misswirtschaft auf den Bereich gesundheitlicher Versorgung besonders augenfällig. Zur nachhaltigen Verbesserung in diesem Bereich haben wir zunächst Mittel aus dem mit 15 Mrd. DM ausgestatteten Gemeindekreditprogramm zur Verfugung gestellt. Die bisherige Inanspruchnahme des Programms zeigt, dass dieser von der Bundesregierung eingeschlagene Weg Resonanz in den neuen Bundesländern gefunden hat.

Zusätzlich stellt der Bund im Rahmen des »Gemeinschaftswerks Aufschwung Ost« allein in 1991 eine Investitionspauschale von 5 Mrd. DM zur Verfügung, und zwar zur Instandsetzung insbesondere von Schulen, Altenheimen und Krankenhäusern. Insgesamt werden damit sichtbare Zeichen für den Beginn der Sanierung der Krankenhäuser in den neuen Bundesländern gesetzt.

Beim Aufbau der Gesetzlichen Krankenversicherung in den neuen Bundesländern wurde bewusst an dem gegliederten System festgehalten, wie es sich in den alten Ländern bewährt hat. Die Gliederung in verschiedene Kassenarten - und damit der Wettbewerb zwischen ihnen - steht deshalb bei einer Organisationsreform nicht zur Disposition.

V.

Zu Recht haben Sie mit dem ersten Tagesordnungspunkt Ihrer morgigen Veranstaltung die Gesundheits- und Sozialpolitik in den europäischen Zusammenhang gestellt. Unser Ziel muss sein, innerhalb der für Europa angestrebten Harmonisierung auch in der Gesundheitspolitik das in Deutschland erreichte hohe Niveau zu sichern. So wichtig bei der Gestaltung unserer europäischen Zukunft solche und andere Detailfragen auch sind, so wenig dürfen wir indessen das große Ziel aus dem Auge verlieren, an dem wir gemeinsam mit aller Kraft arbeiten: eine Ordnung des Friedens und der Freiheit, die alle Völker unseres Kontinents umfasst.

In diesem Prozess hat die Europäische Gemeinschaft eine entscheidende Rolle zu spielen: Sie ist aus den Umbrüchen der vergangenen Jahre gestärkt hervorgegangen. Sie hat sich bewährt als Modell des Zusammenlebens freier Völker, die bis tief in unser Jahrhundert hinein immer wieder Krieg gegeneinander geführt haben und heute ihre Energien zum Wohle der Menschen bündeln.

Am 31. Dezember 1992 werden wir den europäischen Binnenmarkt für 340 Millionen Menschen vollenden. Er ist eine wichtige Station auf dem Weg zur Europäischen Union, zu den Vereinigten Staaten von Europa. Der freie Verkehr von Gütern, Kapital und Dienstleistungen sowie die Niederlassungsfreiheit haben Auswirkungen auch für die Ärzteschaft - ebenso wie beispielsweise die wechselseitige Anerkennung von Universitätsdiplomen. Ihr Bestreben in der deutschen Ärzteschaft um eine stetige Verbesserung ärztlicher Standards in Aus- und Weiterbildung sichert Ihnen hierbei einen guten Stand.

[...] Am Ende eines Jahrhunderts bauen wir gemeinsam mit unseren Nachbarn und Partnern an einer guten Zukunft für uns und vor allem für die nachwachsenden Generationen. Ich darf Sie herzlich einladen, Ihren Beitrag zu diesem Werk des Friedens einzubringen.

Quelle: Bulletin des Presse- und Informationsamts der Bundesregierung Nr. 50 (9. Mai 1991).