30. April 1998

Rede anlässlich der Schlussveranstaltung des Deutschen Sparkassentages 1998 in Leipzig

 

Lieber Herr Köhler,

meine sehr verehrten Damen und Herren,

 

I.

 

es ist für mich eine ausgesprochene Freude, heute bei Ihnen auf dem Deutschen Sparkassentag 1998 hier in Leipzig zu sein. Zunächst möchte ich mich dafür bedanken, daß Ihre Tagung in Leipzig stattfindet - im Freistaat Sachsen, in den neuen Bundesländern. Ich freue mich darüber gerade deshalb sehr, weil in den Problemen des Alltags manchmal in Vergessenheit gerät, was das Geschenk der Deutschen Einheit bedeutet - manche Belastung und Sorge, vor allem aber große Freude. Gerade für diejenigen unter Ihnen, die aus den alten Bundesländern kommen, ist der heutige Tag eine gute Gelegenheit, sich einen persönlichen Eindruck davon zu machen, was hinter dem Begriff "Aufbau Ost" steht und welche Erfolge wir in den vergangenen Jahren erreicht haben. Überzeugen Sie sich mit eigenen Augen davon, daß das Geld des deutschen Steuerzahlers aus Ost und West hier gut angelegt ist!

 

Wir werden auch die trotz der großen Fortschritte noch bestehenden Probleme in den neuen Ländern erfolgreich meistern - wir müssen es nur wollen. François Mitterrand hat nach der Deutschen Einheit insbesondere mit Blick auf die damit verbundenen schwierigen ökonomischen Fragestellungen sinngemäß einmal folgendes gesagt: Es ist wahr, die Deutschen haben jetzt Probleme. Aber sie wären nicht die Deutschen, wenn sie diese Probleme nicht meistern würden - und sie werden danach stärker sein denn je zuvor. Das Vertrauen, das François Mitterrand zu uns Deutschen hatte, muß heute bei manchem in unserem eigenen Land erst wieder mühsam geweckt werden. Das Vertrauen des Auslands in uns, das in diesen Worten Mitterrands anklingt, sollte uns Mut machen, die anstehenden Herausforderungen und Schwierigkeiten beherzt anzugehen.

 

Meine Damen und Herren, ich bin aus einem weiteren Grunde froh, heute zu Ihnen sprechen zu können. Der Deutsche Sparkassentag 1998 - eine der großen Veranstaltungen dieses Jahres in unserem Land - findet zu einem Zeitpunkt dramatischer Veränderungen in der Welt, in Europa und in Deutschland statt. Das Motto Ihrer Veranstaltung ist gut gewählt: "Zukunft Europa - Standort hier". Es beschreibt in einer prägnanten Kurzformel den Kurs unseres Landes in ein vereintes Europa des 21. Jahrhunderts.

 

Die Vollendung der Europäischen Wirtschafts- und Währungsunion mit der Einführung einer gemeinsamen Währung ist ein bedeutsamer Schritt auf dem Weg zum vereinten Europa. Damit die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion dauerhaft erfolgreich sein wird, müssen wir zugleich die Politische Union weiter vorantreiben. Das eine bedingt das andere.

 

Dies bedeutet jedoch nicht, daß man - wie dies gelegentlich zu hören ist - die Wirtschafts- und Währungsunion nicht vollenden kann, ohne daß die Politische Union ebenfalls bereits hergestellt ist. Es gibt historische Chancen, die - einmal verspielt - so schnell nicht wiederkehren. Wir müssen deshalb heute die Chance für die Vollendung der Wirtschafts- und Währungsunion nutzen. Wir dürfen diese Gelegenheit nicht verpassen, indem wir darauf warten, bis wir die Politische Union vollendet haben. Zu groß wäre die Gefahr, daß wir am Ende dann beides nicht erreichen würden.

 

Die Notwendigkeit des vereinten Europa speist sich aus der leidvollen Erfahrung gemeinsamer europäischer Geschichte. In zwei Jahren ist dieses Jahrhundert zu Ende. Es war für uns ein Jahrhundert der zwei Gesichter. Die erste Hälfte war geprägt durch zwei Weltkriege, zwei Diktaturen - eine braune und den Beginn einer roten - sowie zwei Hyperinflationen. Die zweite Hälfte des Jahrhunderts hat der Generation, die - wie ich - den Krieg noch als Kind erlebt hat, sowie den Generationen, die nach Hitler geboren und aufgewachsen sind, die große Chance gebracht, dauerhaft in Frieden und Freiheit leben zu können. Nach Jahrzehnten der Teilung haben wir Deutschen zugleich das große Glück, dies im wiedervereinigten Deutschland zu erleben.

 

Wer dies alles - fernab des Tagesgeschehens - auf sich wirken läßt, erkennt: Die Einführung der gemeinsamen europäischen Währung, des Euro, ist eine einzigartige Chance für uns auf dem Weg zum vereinten Europa. Von der europäischen Einheit haben viele Menschen in Europa schon vor Jahrzehnten geträumt. Die Briefe der Soldaten im Ersten Weltkrieg - auf den Schlachtfeldern in Flandern, in Verdun und anderswo - unterstreichen die Sehnsucht nach der Einigung Europas. In der Zeit zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg gab es große Köpfe, die weit über den Tag hinausschauten. Ich erwähne nur Gustav Stresemann und Aristide Briand, die 1926 den Friedensnobelpreis für ihre Verdienste um die deutsch-französische Verständigung erhalten haben.

 

Wenige Jahre danach kam der Zweite Weltkrieg, und wir haben unendliches Elend und Leid erlebt, das unauslöschlich mit dem deutschen Namen verbunden bleibt. In der Stunde Null, 1946, nur ein Jahr nach Ende des Zweiten Weltkriegs, hat Winston Churchill - als ein Sieger dieses Krieges - in seiner berühmten Rede in Zürich den Europäern, insbesondere den Franzosen und Deutschen zugerufen - ich sage es mit meinen Worten: Versöhnt Euch endlich! Fangt an, Europa zu bauen!

 

Meine Damen und Herren, die Frauen und Männer, die in den vergangenen Jahrzehnten von der europäischen Einigung gesprochen haben, waren damals Visionäre. Viele haben über sie gelacht und ihre Idee nicht verstanden. Heute wissen wir: Die Visionäre von damals haben sich als die eigentlichen Realisten erwiesen. Mit Blick auf Europa haben wir allen Grund, dafür dankbar zu sein.

 

Unser Ziel ist das Haus Europa. Das Europa, das wir wollen - Herr Köhler, Sie haben dies ebenfalls angesprochen -, muß ein bürgernahes, föderales und subsidiäres Europa sein. Wir wollen ein Europa, das auf dem Prinzip Einheit in Vielfalt aufbaut. Wir wollen, daß in diesem Europa Italiener, Franzosen, Finnen und Deutsche - um nur diese zu nennen - weiter Italiener, Franzosen, Finnen und Deutsche bleiben. Unser Ziel ist es, die kulturelle Vielfalt und die nationale Identität auf unserem Kontinent zu bewahren.

 

Dazu gehört es auch, daß notwendige Entscheidungen in der Europäischen Union möglichst nah am Bürger und seinen Wünschen und Problemen getroffen werden. Auf europäischer Ebene darf nur entschieden werden, was national und regional nicht besser zu leisten ist. Nehmen Sie das Beispiel Umwelt. Es ist unsere moralische Pflicht auch gegenüber den nachkommenden Generationen, daß wir unseren Beitrag zum Erhalt der Schöpfung leisten. Jeder weiß, daß Umweltfragen nicht an nationalen Grenzen haltmachen. Viele Entscheidungen in diesem Bereich müssen wir deshalb in Europa gemeinsam treffen. Auf der anderen Seite gibt es natürlich auch Fragestellungen, die besser auf der nationalen Ebene oder in den Regionen - in Deutschland in den Ländern - entschieden werden.

 

Wenn ich von einem bürgernah, subsidiär und föderal gestalteten Haus Europa spreche, beziehe ich darin ausdrücklich auch die kommunale Ebene ein. Bei allen Erfolgen, die wir auf dem Weg zu einem vereinten Europa in den vergangenen Jahren erzielt haben, müssen wir auch erkennen, daß hier noch in besonderem Maße Handlungsbedarf besteht. Weder im Vertrag von Amsterdam noch im Vertrag von Maastricht ist es gelungen, die kommunale Säule stark genug zu verankern. Wir brauchen eine starke kommunale Ebene vor dem Hintergrund des Zusammmenwachsens der Länder in Europa und der Welt.

 

Wir brauchen sie auch, weil gerade in einer modernen Gesellschaft mit neuen Informations- und Kommunikationstechnologien manche Gelegenheit zum täglichen Gespräch der Menschen wegfallen und dies natürlich auch Auswirkungen auf den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft haben wird. Um so wichtiger ist es, alles zu tun, damit die Verbundenheit der Menschen mit ihrer Umgebung, ihrer Nachbarschaft gestärkt wird. Dazu gehört ganz konkret auch ein Stärken der kommunalen Ebene. Dies ist kein Rückfall in altmodisches Denken, sondern entspricht der tiefen Sehnsucht der Menschen nach Heimat, Wärme und Geborgenheit.

 

Der föderale Staatsaufbau in Deutschland mit seinen verschiedenen Ebenen - Bund, Länder und Kommunen - ist ein gutes Modell für ganz Europa. Es ist natürlich nicht immer einfach für uns, mit diesem föderalen Verständnis bei unseren Partnern in Europa durchzudringen. Dies hängt auch mit der unterschiedlichen Geschichte der Mitgliedstaaten der Europäischen Union zusammen. Deutschland ist erst spät Nationalstaat geworden, das regionale Prinzip ist bei uns seit jeher sehr ausgeprägt. Dagegen waren viele unserer europäischen Nachbarländer schon immer stärker zentralstaatlich aufgebaut. Vor diesem Hintergrund wird leicht verständlich, warum wir in diesem Punkt in Brüssel miteinander ringen.

 

Meine Damen und Herren, ich bin ein leidenschaftlicher Anhänger dieses Hauses Europa, das ich gerade skizziert habe. Es steht dafür, was Thomas Mann einst wunderbar formuliert hat - ich sage es in meinen Worten: Wir wollen deutsche Europäer und europäische Deutsche sein. Wenn wir dies erreichen, und daran habe ich überhaupt keinen Zweifel, hat Europa eine gute Zukunft. Dies kommt natürlich nicht von allein, sondern wir müssen etwas dafür tun.

 

Die Einführung des Euro ist eine gute Gelegenheit für eine Standortbestimmung in der Europäischen Union. Wir müssen uns fragen, was uns in den vergangenen Jahren bis heute gut gelungen ist und was wir für die Zukunft ändern müssen. Dazu gehört für mich, daß wir - wo erforderlich - Zuständigkeiten aus der nationalen oder regionalen Verantwortung auf die Ebene der Europäischen Union abgeben. Dazu gehört für mich ebenso, daß wir - sofern sich die Zuweisung an die europäische Ebene als falsch erwiesen hat - diese wieder zurücknehmen. Das hat nichts mit Renationalisierung zu tun, sondern entspricht genau dem Gedanken eines bürgernahen, föderalen und subsidiären Europa.

 

Wir müssen darüber hinaus in wichtigen Fragen für die weitere Ausgestaltung des Hauses Europa vorankommen. Ich nenne vor allem notwendige Entscheidungen über die Finanzierung, die innere Struktur und die Erweiterung der Europäischen Union. Darüber werden wir auch konkret sprechen, wenn Deutschland im ersten Halbjahr des kommenden Jahres die europäische Präsidentschaft übernimmt.

 

Herr Köhler, lassen Sie mich an dieser Stelle ein Wort zur Position der deutschen Sparkassen im vereinten Europa sagen. Zur kommunalen Verankerung der Sparkassen hat es eine einstimmige Entscheidung im Rahmen des Amsterdamer Vertrages gegeben. Daran halten wir fest - ungeachtet der Diskussionen, die manche innerhalb oder außerhalb der Europäischen Kommission führen. Lassen Sie sich davon nicht beeindrucken.

 

Meine Damen und Herren, die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion kommt pünktlich zum 1. Januar 1999. Diese Äußerung hätte auf Ihrem letzten Sparkassentag vor drei Jahren in Hannover bei sehr vielen Teilnehmern Stirnrunzeln hervorgerufen. Daß ich diese Feststellung heute hier in Leipzig - in Sachsen, in den neuen Ländern - treffen kann, ist mir eine besondere Freude.

 

Die Verwirklichung der Wirtschafts- und Währungsunion, die die europäischen Staats- und Regierungschefs am 2. Mai beschließen werden, ist eine säkulare Entscheidung. Sie ist für Deutschland wie auch für Europa insgesamt die bedeutendste Entscheidung seit der Deutschen Einheit und eines der wichtigsten Ereignisse in der Geschichte dieses Jahrhunderts.

 

Entschieden wird darüber, welche Mitgliedstaaten die notwendigen Voraussetzungen für die Einführung des Euro erfüllen. Die Europäische Kommission empfiehlt den Staats- und Regierungschefs elf Mitgliedstaaten für die Teilnahme am Euro ab dem 1. Januar 1999. Die Bundesregierung beabsichtigt, für den Vorschlag der Europäischen Kommission zu stimmen.

 

Das Europäische Währungsinstitut und die Deutsche Bundesbank haben in ihren Stellungnahmen bestätigt, daß dieser Schritt stabilitätspolitisch vertretbar ist. Ich bin dankbar, daß wir die Zustimmung zum Vorschlag der Kommission auch gestärkt durch eine breite Mehrheit in Deutschem Bundestag und Bundesrat - das heißt quer durch die politischen Lager - geben können. Meine Damen und Herren, gehen Sie zugleich davon aus, daß - unabhängig von dem, was immer Sie in diesen Tagen in den Medien lesen oder hören - auch in den Personalfragen vernünftige und kluge Entscheidungen getroffen werden.

 

Mit der Einführung des Euro beginnt ein neues Zeitalter. Die Bedeutung der zukünftigen gemeinsamen europäischen Währung reicht weit über die monetäre Dimension hinaus. In einigen Jahren werden wir in Helsinki und Rom, in Paris und Dublin, in Leipzig und Wien - um nur einige Orte zu nennen - mit dem gleichen Geld bezahlen. Dies wird auch tiefgreifende Veränderungen im Lebensgefühl der Menschen bewirken. Europa trägt man dann sozusagen in der Tasche mit sich herum. Die Entscheidungen, die dazu übermorgen getroffen werden, muß man insbesondere auch einmal aus der Perspektive der Kinder sehen, die in diesen Tagen in den Ländern geboren werden, die den Euro einführen - etwa hier in Leipzig. Diese Kinder werden ganz selbstverständlich mit dem Zahlungsmittel Euro aufwachsen.

 

Der Euro wird das Leben und den Zusammenhalt von Millionen von Europäern im nächsten Jahrhundert prägen. Er schließt die Teilnehmerstaaten noch enger zusammen. Er stärkt die Europäische Union als Friedens- und Freiheitsordnung und damit die Basis für ein dauerhaftes gedeihliches Zusammenleben der europäischen Völker. Meine Damen und Herren, wir alle brauchen die europäische Einigung. Aber wir Deutschen brauchen sie dringlicher als alle anderen Europäer. Wir sind in Europa das Land mit den meisten Grenzen und Nachbarn, wir sind mit 80 Millionen Menschen nach Rußland auch das bevölkerungsreichste Land. Wir gelten darüber hinaus zu Recht als das wirtschaftlich stärkste Land in Europa - trotz mancher Probleme, die wir noch haben.

 

Ich habe gerade in diesen Tagen allen Grund, an meine Amtsvorgänger zu erinnern: An Konrad Adenauer, Ludwig Erhard, Kurt-Georg Kiesinger und Willy Brandt - die nicht mehr unter uns sind - sowie an Helmut Schmidt, der Zeitzeuge dieser Tage ist. Sie alle haben für die deutsche Politik glaubwürdig die Linie des vereinten Europa vertreten. Dies hat uns nicht zuletzt bei der Deutschen Einheit geholfen. Sie wäre niemals auf friedlichem Wege und mit der Zustimmung unser Nachbarn und Partner möglich gewesen, wenn sie nicht sicher gewesen wären, daß wir Deutschen integraler Bestandteil des sich einigenden Europa bleiben.

 

Meine Damen und Herren, in Deutschland hatten viele Menschen die Idee der Deutschen Einheit bereits aufgegeben, einige hatten sie sogar verraten. Auch in Europa waren es in der konkreten Situation der Jahre 1989/90 nur ganz wenige, die vorbehaltlos gesagt haben, sie wollen die Deutsche Einheit. Ich denke insbesondere an bewährte Freunde unseres Landes wie François Mitterrand. Es ist wahr, daß er sich zu Beginn des deutschen Einigungsprozesses schwer getan hat, die Wiedervereinigung zu unterstützen. Er ist in diese Rolle hineingewachsen; in einem Buch, das er am Ende seines Lebens darüber geschrieben hat, hat er dies selbst bezeugt. Ich erinnere mich ebenfalls noch gut an eine dramatische Zusammenkunft im Dezember 1989 beim EU-Gipfel in Straßburg. Eine Kollegin, die nicht im Verdacht steht, uns Deutschen besonders zugetan zu sein, sagte in einer Pause sinngemäß voller Erregung: Zweimal haben wir sie, die Deutschen, geschlagen. Jetzt sind sie wieder da.

 

Dies, meine Damen und Herren, ist Teil unserer Geschichte, und diese Geschichte ist auch heute noch in Europa lebendig - etwa in Frankreich, in Polen, in Luxemburg oder in den Niederlanden. Das bewegende Zeugnis der Anne Frank steht nicht nur in den Bücherschränken, sondern es lebt in der Erinnerung vieler Menschen fort. Im Zuge der Deutschen Einheit haben wir von unseren Partnern und Freunden in Europa einen Vertrauensvorschuß erfahren, den ganze Generationen in Deutschland mit ihrem konsequenten Eintreten für den europäischen Einigungsprozeß erarbeitet haben. Jetzt ist es wichtig, daß wir auf diesem Weg weiter vorangehen.

 

Wir müssen die Ängste zur Kenntnis nehmen, die bei manchen unserer Nachbarn und Partner noch immer herrschen. Ängste, die - auch geschürt, zum Teil bösartig, zum Teil durch Unwissenheit - darauf zielen, ob die Deutschen nicht doch wieder eine Art von Hegemonie betreiben. In Brüssel können sie beispielsweise Sätze hören wie: Wenn die Deutschen jetzt den Beitritt der Länder in Mittel-, Ost- und Südosteuropa vorantreiben, wollen sie selbst dadurch nur stärker werden. Dies ist natürlich Unsinn. Dennoch verbergen sich hinter solchen Sätzen Gefühle, die wir ernst nehmen und denen wir mit unserem Handeln Rechnung tragen müssen. Dies alles muß uns darin bestärken, daß der Bau des Hauses Europa - und mit ihm ein wichtiger Baustein, die gemeinsame europäische Währung - für uns von existentieller Bedeutung für Frieden und Freiheit im 21. Jahrhundert ist.

 

Meine Damen und Herren, von der Einführung des Euro hängt darüber hinaus aber auch wesentlich ab, ob künftige Generationen in Deutschland und Europa dauerhaft in Wohlstand und sozialer Stabilität leben können. Nur durch die Wirtschafts- und Währungsunion kann Europa im immer schärferen weltweiten Standortwettbewerb zwischen Staaten und Regionen bestehen. Die Entwicklungen in der Welt bestätigen, daß dieser Weg richtig ist. Nehmen Sie beispielsweise die in den USA immer wieder geführte Diskussion über die Möglichkeiten, den ganzen amerikanischen Kontinent - Süd-, Mittel- und Nordamerika - zu einer einzigen Freihandelszone zusammenzufassen. Dies würde einen Wirtschaftsraum von über 700 Millionen Menschen bedeuten! Natürlich weiß auch ich, daß eine solche Freihandelszone nicht morgen entsteht. Aber ich halte es für mehr als wahrscheinlich, daß in dem bald beginnenden neuen Jahrhundert Zusammenschlüsse dieser Art zunehmen werden.

 

Ich sage dies nicht zuletzt mit Blick auf Asien und hier insbesondere China. China ist, wenn auch noch verhalten, auf dem Sprung nach vorn. Dies haben einmal mehr die Gespräche auf dem ASEM-Gipfel in London vor wenigen Wochen gezeigt. Allein in China leben etwa 1,2 Milliarden Menschen! Die Entwicklungen um uns herum - sei es in Amerika oder in China, um nur diese beiden Beispiele aufzugreifen - haben gerade auch unter wirtschaftlichen Aspekten auch Auswirkungen auf Deutschland und Europa. Dies unterstreicht einmal mehr, welchen Stellenwert die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion für Deutschland und Europa allein unter wirtschaftspolitischen Gesichtspunkten hat.

 

Meine Damen und Herren, die Voraussetzungen für eine stabile europäische Währung waren noch nie so gut wie heute. Die durchschnittliche EU-Preissteigerungsrate liegt derzeit bei eineinhalb Prozent. Bei Abschluß des Maastricht- Vertrages 1991 betrug sie noch fünfeinhalb Prozent. Die langfristigen Zinsen liegen heute im EU-Durchschnitt bei fünf Prozent - 1991 lag er über zehn Prozent. Die Haushaltsdefizite der EU-Mitgliedstaaten gemessen am Bruttoinlandsprodukt haben sich seit 1991 um ein Drittel verringert. Diese positive Entwicklung ist das Ergebnis gewaltiger Konvergenzanstrengungen in den Mitgliedsländern. Wenn ich Ihnen dies vor sechs Jahren auf Ihrem Sparkassentag vorausgesagt hätte, hätten es die wenigsten von Ihnen für möglich gehalten. Es ist möglich geworden durch den gemeinsamen Willen der europäischen Partnerländer, das Haus Europa zu bauen.

 

Auch Deutschland hat seine Hausaufgaben erfolgreich gemacht. Wir erfüllen die Stabilitätsvorgaben des Maastricht-Vertrages. Daß wir dies erreichen würden, hätten ebenfalls die wenigsten erwartet. Dafür muß ich gar nicht sechs Jahre zurückgehen. Noch im September vergangenen Jahres hat kaum jemand geglaubt, daß Deutschland für 1997 die Kriterien erfüllen und das schwierige Defizit-Ziel von drei Prozent sogar noch unterschreiten würde. Dies ist uns auch und gerade dank der konsequenten Reformpolitik und der strikten Haushaltsdisziplin der Bundesregierung gelungen.

 

Beim Schuldenstand-Kriterium liegen wir für 1997 knapp über dem im Maastricht-Vertrag vorgesehenen Referenzwert von sechzig Prozent. Warum dies so ist, muß ich gerade hier in Leipzig nicht weiter ausführen. Es ist vor allem auf die Erblast von über vierzig Jahren SED-Mißwirtschaft zurückzuführen. Die Leistungen, die wir alle - in den alten und neuen Bundesländern - im Zusammenhang mit der Deutschen Einheit erbracht haben, bedeuteten natürlich zusätzliche Belastungen für unseren Haushalt. Ein vorübergehender Anstieg der Verschuldung war deshalb unvermeidbar. Dies haben unsere europäischen Partner, ich nenne nur die Europäische Kommission und das Europäische Währungsinstitut, in ihren Stellungnahmen auch ausdrücklich anerkannt.

 

Wir haben in Europa wichtige Vorkehrungen für die dauerhafte Stabilität des Euro getroffen. Wir haben die Europäische Zentralbank nach dem Modell der Deutschen Bundesbank durchgesetzt. Sie ist zuallererst der Stabilität der Währung verpflichtet. Die Europäische Zentralbank wird ihren Sitz in Frankfurt am Main haben. Dies ist ein Grund zur Freude. Es ist ein Erfolg, der keineswegs selbstverständlich war.

 

Die Wahl Frankfurts als Sitz für die Europäische Zentralbank ist vor allem eine Reverenz an die Leistungen der Deutschen Bundesbank in den vergangenen Jahrzehnten bis heute. Die Entscheidung für Frankfurt kommt nicht nur der Stadt, sondern zugleich Deutschland insgesamt als Bankenplatz zugute. Diese Standortwahl zeigt zugleich, daß nicht alles, was in Europa mit Geld und Banken zu tun hat, automatisch in London angesiedelt sein muß.

 

Um das Einhalten der Maastricht-Kriterien dauerhaft zu sichern, haben wir außerdem den Stabilitäts- und Wachstumspakt durchgesetzt. Dies ist eine großartige Leistung von Bundesfinanzminister Theo Waigel. Wir haben zudem vertraglich festgeschrieben - die Bedeutung kann man nicht hoch genug schätzen -, daß es keine Haftung der Gemeinschaft für Verbindlichkeiten der Mitgliedstaaten und keine zusätzlichen Finanztransfers geben wird.

 

Meine Damen und Herren, mit der Euro-Zone entsteht ein einheitlicher Markt mit einer gemeinsamen Währung für zunächst 300 Millionen Menschen und einem Anteil von rund zwanzig Prozent am Welteinkommen. Dieser Anteil ist dem der USA vergleichbar. Mit dem Euro entsteht in Europa der zweitgrößte Kapitalmarkt der Welt hinter den USA und noch vor Japan. Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, was dies im Blick auf Finanzierungskosten und vielfältige neue Anlagechancen für Bürger und Unternehmen bedeutet. Es unterstreicht einmal mehr, welch große Chancen der Euro für eine neue wirtschaftliche Dynamik, für dauerhaftes Wachstum und zukunftssichere Arbeitsplätze im 21. Jahrhundert eröffnet.

 

Der Euro ist bei allen Chancen ganz unbestritten kein Patentrezept, mit dem wir unsere Arbeitsmarktprobleme kurzfristig lösen könnten. Aber er hilft. Seine pünktliche Einführung am 1. Januar 1999 wird das Klima für Investitionen und Beschäftigung in Deutschland und Europa nachhaltig verbessern. Damit auch die deutsche Wirtschaft von Beginn an von den positiven Wirkungen des Euro profitieren kann, ist es wichtig, daß die Unternehmen in Deutschland frühzeitig auf die Währungsunion vorbereitet sind. Wer sich rechtzeitig auf den Euro einstellt, verschafft sich Wettbewerbsvorteile und vermeidet Umstellungsprobleme. Hier liegt gerade auch eine zentrale Aufgabe für die Kreditwirtschaft. Ich bitte auch die Sparkassen, unsere Unternehmen bei der Umstellung auf den Euro zu unterstützen. Ich vertraue dabei nicht zuletzt auf die gute Tradition der Sparkassen. Sie sind gerade für viele Mittelständler und Handwerker seit jeher verläßliche Ansprechpartner vor Ort.

 

Meine Damen und Herren, ich möchte Sie ebenfalls bitten, weiter mitzuhelfen, auch die Bürger in unserem Land umfassend über den Euro zu informieren, sie aufzuklären und ihnen Ängste zu nehmen. Die Deutschen haben ein spezielles Verhältnis zu ihrer Währung. Es ist nicht immer einfach, ausländischen Gesprächspartnern zu erklären, warum wir uns etwas schwerer als andere tun, die D-Mark aufzugeben und insbesondere so vehement auf der Stabilität der Währung bestehen. Dies muß vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte in diesem Jahrhundert und unserer Erfahrungen mit der D-Mark gesehen werden. Ich bin hier auch ganz persönlich betroffen.

 

Als die D-Mark im Sommer 1948 eingeführt wurde und pro Kopf vierzig D-Mark ausgegeben wurden, war ich 18 Jahre alt. Deutschland stand am Nullpunkt seiner Geschichte. Wer dies erlebt hat, weiß, daß die Einführung der D-Mark für die Menschen damals ebenfalls eine Sache voller Unwägbarkeiten und Sorgen war. Kaum jemand hat der neuen Währung, der D-Mark, eine Chance gegeben. Ich sage dies auch mit Blick auf damalige Lehrstuhlinhaber an deutschen Universitäten. Ich bin überzeugt: Wenn wir heute nachforschen würden, was 1948 über die D-Mark gesagt worden ist, würden wir feststellen, daß der eine oder andere Vorgänger der heutigen Gelehrten an den deutschen Universitäten sich damals zur D-Mark ähnlich skeptisch geäußert hat, wie dies heute manche Gurus tun, die an den deutschen Universitäten gegen den Euro zu Felde ziehen.

 

Aus der gelegentlich als "Besatzungskind" verunglimpften D-Mark ist eine der wichtigsten Währungen der Welt geworden. Dies ist gelungen, weil es einen klugen politischen Rahmen für die D-Mark gegeben hat. Der Name Ludwig Erhard wird für immer damit verbunden sein - auch weltweit. Der Erfolg der D-Mark ist aber vor allem der Dynamik, der Schaffens- und Willenskraft der Menschen in unserem Land, insbesondere der Aufbaugeneration unserer Republik nach dem Zweiten Weltkrieg, zu verdanken.

 

Meine Damen und Herren, fünfzig Jahre D-Mark - dies ist eine einzigartige Erfolgsstory. Ganze Generationen haben erlebt, daß mit der zunehmenden Wertschätzung der D-Mark der Aufstieg und das Ansehen Deutschlands in der Welt einhergegangen ist. Welche Bedeutung die D-Mark heute weltweit hat, ist anhand weniger Beispiele erkennbar. Als ich 1950 zum ersten Mal in Frankreich war, konnte ich an der pfälzisch-elsässischen Grenze, an der plötzlich kein Mensch mehr Deutsch gesprochen hat, natürlich nicht mit D-Mark bezahlen. Dies hat sich inzwischen grundlegend verändert. Sie können dies leicht feststellen, wenn Sie in den Lokalen der Region einmal auf die Speisekarte schauen. Die weltweite Verbreitung der D-Mark ist für viele Menschen selbstverständlich geworden. Dies zeigen nicht zuletzt die Briefe, in denen mir gegenüber Klage darüber geführt wird, daß man in Hotels zum Beispiel in Sri Lanka nicht mit D-Mark bezahlen könne! Meine Damen und Herren, dies macht in krasser Weise deutlich, was sich in den vergangenen fünf Jahrzehnten verändert hat.

 

Gerade weil wir wissen - insbesondere auch ich -, was wir an der D-Mark haben, werde ich in meinem Amt als Bundeskanzler keine Entscheidung mittragen, die die Stabilität der gemeinsamen europäischen Währung gefährdet. Wenn dieser Grundsatz auch in Zukunft Primat unseres Handelns bleibt, werden wir das Vertrauen der Menschen in den Euro gewinnen - der Verbraucher, der Arbeitnehmer und der Unternehmer. Wir wollen, daß durch unsere gemeinsame Leistung die Erfolgsgeschichte der D-Mark in eine Erfolgsgeschichte des Euro übergeht. Je stärker das Vertrauen von Wirtschaft und Bürgern in den Euro sein wird, desto besser sind dafür die Chancen.

 

Mit dem Baustein Euro für das Haus Europa haben wir alle Chancen für ein gutes 21. Jahrhundert. Der Untergang des Abendlandes - diese vielbeschworene Untergangsvision Oswald Spenglers - findet nicht statt. Im Gegenteil: Wir können mit Freude und Zuversicht nach vorne blicken. Europa ist wirtschaftlich wieder da. Die jungen Analysten an den Finanzmärkten in aller Welt rechnen mit Europa. Sie gehen ganz selbstverständlich davon aus: Der Euro hat Zukunft.

 

II.

 

Meine Damen und Herren, wir sollten die heutige Gelegenheit beim Deutschen Sparkassentag 1998 dafür nutzen, um deutlich herauszustellen: Es ist ein Segen, daß wir - bei allen Sorgen und Nöten des Alltags - diesen Tag erreicht haben und am Vorabend der Einführung des Euro stehen. Geschichte wird von späteren Generationen geschrieben. Mein Wunsch ist, daß die nachfolgenden Generationen über uns einmal sagen werden: Sie haben die Zeichen der Zeit richtig erkannt. Dazu gehört, daß wir ebenso den zweiten Teil Ihres Veranstaltungs-Mottos beherzigen: "Standort hier". Auch wir Deutschen müssen unsere Hausaufgaben schon selbst machen.

 

Das näherrückende Ende dieses wechselvollen Jahrhunderts mit all seinen Höhen und Tiefen ist ein guter Anlaß, eine Standortbestimmung vorzunehmen und zu fragen: Wo stehen wir heute, am Vorabend der Einführung des Euro, knapp zwei Jahre vor Beginn des neuen Jahrhunderts? Die Welt hat sich in den vergangenen Jahren tiefgreifend verändert, und der Wandel geht weiter. Die Länder wachsen vor allem auch wirtschaftlich immer stärker zusammen. Die Dynamik einer zunehmenden Globalisierung ist überall spürbar.

 

Ich verweise nur auf die grenzüberschreitenden Direktinvestitionen. Sie nehmen heute mit 19 Prozent dreimal so stark zu wie die Weltproduktion mit sechseinhalb Prozent. Alarmierend für Deutschland ist dabei, daß ausländische Investitionen stärker in andere Länder fließen als zu uns. Im Zeitraum 1985 bis 1996 haben ausländische Investoren beispielsweise in Großbritannien fast achtmal so viel investiert wie in Deutschland. Dies ist ein deutliches Signal, daß wir unser Land noch attraktiver machen müssen für Investoren aus aller Welt. Es zeigt auch, daß man Fehler - insbesondere versäumte Reformen - später büßen muß. Ich sage dies gerade mit Blick auf die notwendige Steuerreform.

 

Wir brauchen dringend ein international wettbewerbsfähiges Steuersystem. Die große Steuerreform haben wir - wegen des Widerstands der Opposition im Bundesrat - in dieser Legislaturperiode leider nicht erreicht. Dies wirft einen Schatten auf das ansonsten gute Ansehen Deutschlands als Investitionsstandort. Ausländische Unternehmen schätzen unsere Stärken, vor allem unsere hervorragend ausgebildeten Arbeitnehmer, ihren Fleiß und ihr Engagement. Besondere Anerkennung finden - dies erfahre ich immer wieder aus meinen zahlreichen Gesprächen mit Investoren aus dem Ausland - die vorzüglichen Investitionsbedingungen in den neuen Bundesländern. Ich nenne als Beispiel nur den Standort Eisenach der Adam Opel AG. Dieses Werk gilt im Gefüge von General Motors, dem amerikanischen Mutterkonzern der Opel AG, in vieler Hinsicht als vorbildlich.

 

Damit wieder mehr Investitionen nach Deutschland kommen, müssen wir unsere Anstrengungen fortsetzen und - wo nötig - verstärken. Völlig abwegig ist es, was politische Extremisten in Sachsen-Anhalt in diesen Tagen auf ihre Wahlplakate geschrieben haben: Deutsches Geld für deutsche Arbeitsplätze. Oder: Deutsches Geld für deutsche Aufgaben. Schon die vielen erfolgreichen ausländischen Investitionen hier in den neuen Ländern machen deutlich, welche Konsequenzen dies - allein unter wirtschaftlichen Aspekten betrachtet - für Investitionen und Arbeitsplätze hätte. Dies muß man den Menschen hier vor Ort klar und deutlich sagen.

 

Die gegenwärtige konjunkturelle Entwicklung in Deutschland zeigt, daß wir auf dem richtigen Weg sind. Unser beharrlicher Reformkurs trägt zunehmend Früchte. Die deutsche Wirtschaft ist auf Wachstumskurs. Wir werden in diesem Jahr ein Wirtschaftswachstum von zweieinhalb bis drei Prozent erreichen. Im nächsten Jahr rechnen wir mit einer noch stärkeren wirtschaftlichen Dynamik. Daß sich die Konjunktur im Aufwind befindet, hat gerade erst der sehr gute Verlauf der Industriemesse in Hannover bestätigt.

 

Auch wichtige ökonomische Grunddaten sind bei uns so gut wie lange nicht mehr. Ich nenne nur den mit 1,1 Prozent niedrigsten Preisanstieg seit dem Frühjahr 1988. Dies ist zugleich die beste Sozialpolitik für Rentner und Familien oder Alleinstehende mit niedrigem Einkommen. Die für Investitionen bedeutsamen langfristigen Zinsen sind auf das niedrigste Niveau seit Bestehen der Bundesrepublik gesunken.

 

Es gibt eine ganze Reihe weiterer guter Nachrichten für den Standort Deutschland. Unser Land ist wieder auf Rang eins in der Welt bei wichtigen Weltmarktpatenten. Das ist für die Zukunft bedeutsam, denn die Patente von heute stehen für die Arbeitsplätze von morgen. Wir haben im Welthandel mit höherwertiger Technik wieder den Spitzenplatz zurückgewonnen. Wir sind im Bereich wichtiger Zukunftstechnologien auf gutem Wege. Die Zahl der Biotechnologie-Unternehmen hat sich bei uns von 1995 bis Ende 1997 von 75 auf 300 vervierfacht.

 

Darüber hinaus mehren sich Meldungen, daß Investoren nach Deutschland zurückkehren, die in der Vergangenheit Produktionen ins Ausland verlagert hatten. Dies ist ein untrügliches Zeichen dafür, daß unser Standort wieder an Wettbewerbsfähigkeit gewonnen hat und unsere Vorteile wieder stärker zählen. 1997 hat die deutsche Wirtschaft einen neuen Rekord bei den Ausfuhren erzielt. Deutschland hat damit erstmals seit Anfang der neunziger Jahre wieder Weltmarktanteile zurückgewonnen. Dies alles, meine Damen und Herren, macht deutlich: Wir sind auf einem guten Weg.

 

Bei all diesen erfreulichen Entwicklungen müssen wir jedoch auch zur Kenntnis nehmen, daß die Arbeitslosigkeit bei uns immer noch viel zu hoch ist. Sie bleibt Herausforderung Nummer eins. Alle müssen ihren Beitrag für mehr Arbeitsplätze leisten. Ich sage dies gerade auch mit Blick auf die Verantwortung der Unternehmen. Es entspricht nicht unserer Sozialen Marktwirtschaft, wenn Unternehmen ihre Politik nur an den Börsenkursen ausrichten. Gleichwohl wehre ich mich dagegen, unsere Wirtschaft pauschal anzugreifen. Es gibt in Deutschland viele Unternehmen, die ihre Verantwortung sehr ernst nehmen. Ich denke nur an die zahlreichen Mittelständler und Handwerker in unserem Land.

 

Meine Damen und Herren, zur Diskussion über die hohe Arbeitslosigkeit und ihre Bekämpfung gehört auch die Einsicht, daß hinter der pauschalen Arbeitslosenzahl eine sehr differenzierte Entwicklung steht. Auf dem Arbeitsmarkt in den alten Ländern ist die Trendwende bereits erkennbar: Die Arbeitslosigkeit steigt nicht mehr. Erfreulich ist auch, daß wir - wie eine Umfrage unter den Verbänden bestätigt - in diesem Jahr vor allem in den exportorientierten Branchen wieder mit neuen Arbeitsplätzen rechnen können. Zusätzliche Arbeitsplätze werden auch in der Informationswirtschaft erwartet. Das heißt: Der Aufschwung kommt weiter voran und hat den Arbeitsmarkt erreicht.

 

In den neuen Ländern beobachten wir - trotz der großen Fortschritte beim Aufbau Ost - am Arbeitsmarkt leider noch keine Besserung. Die Bauwirtschaft ist nach dem extrem starken Bauboom in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung jetzt auf dem Wege der Normalisierung, und der Arbeitsplatzaufbau in der Industrie reicht noch nicht aus, um den Arbeitsplatzabbau im Baubereich wettzumachen. Insgesamt bin ich aber zuversichtlich, daß - womit auch alle Experten rechnen - in ganz Deutschland die Arbeitslosigkeit Ende 1998 deutlich niedriger sein wird als Ende 1997.

 

III.

 

Die Besserung auf dem Arbeitsmarkt darf auf keinen Fall durch ein Rückgängigmachen von Reformen gefährdet werden. Der Konjunkturaufschwung und die allmähliche Besserung am Arbeitsmarkt waren und sind nur möglich, weil die Bundesregierung unbeirrt an ihrem Reformkurs festgehalten hat. Unsere Reformbilanz für mehr wirtschaftliche Dynamik und Beschäftigung kann sich sehen lassen. Wir haben vieles durchgesetzt - meist gegen erbitterte Widerstände.

 

Wir haben die Rentenreform auf den Weg gebracht. Sie tritt ab 1999 in Kraft. Ohne diesen Reformschritt wäre ein weiterer Anstieg von Beitragssatz und Lohnzusatzkosten unvermeidlich. Die Renten werden dadurch nicht gekürzt, doch der Rentenzuwachs wird den Veränderungen im Altersaufbau der Bevölkerung angepaßt. Herr Köhler, Sie haben in Ihrer Rede zu Recht darauf hingewiesen, daß wir weitere Veränderungen in unserem Rentensystem brauchen. Der Altersaufbau unserer Bevölkerung wird sich in den nächsten Jahrzehnten dramatisch verändern. Darauf müssen wir uns rechtzeitig vorbereiten.

 

Deutschland hat heute neben Spanien und Italien eine der niedrigsten Geburtenraten in der Europäischen Union. Weniger oder keine Kinder zu bekommen, ist eine persönliche Entscheidung der Deutschen. Sie hat nichts mit politischen Programmen oder Kandidaten zu tun. Zudem werden die Menschen in unserem Land - und das ist eine erfreuliche Entwicklung - immer älter. In nicht allzu ferner Zukunft wird unsere Bevölkerungspyramide auf dem Kopf stehen. Im Ergebnis bedeutet all dies für die Rentenversicherung: Immer weniger Menschen zahlen für immer kürzere Zeit Beiträge in einen Topf, aus dem immer mehr Menschen für immer längere Zeit ihre Rente beziehen. Diese Rechnung kann nicht aufgehen. Kein Rentensystem der Welt kann dies auf Dauer finanzieren.

 

Wenn wir über weitere Veränderungen im Rentensystem reden, müssen wir einerseits die jetzige Rentnergeneration berücksichtigen. Ihre Rente ist sicher. Sie ist im übrigen keine milde Gabe des Staates, sondern steht für die Lebensleistung der Generation, die unsere Republik nach dem Zweiten Weltkrieg wieder aufgebaut hat. Kein Rentner muß sich dafür bedanken, daß er heute Rente bezieht, für die er ein Leben lang gearbeitet hat. Andererseits müssen wir natürlich die Jungen sehen. Auch ihnen gegenüber hat die Gemeinschaft eine Verpflichtung. Hier werden wir in Zukunft neue Wege gehen müssen. Ich bin überzeugt, daß wir mit Blick auf die anstehenden Herausforderungen - bei aller Auseinandersetzung um Details - auch zu vernünftigen Lösungen kommen werden.

 

Was ich zum Rentensystem gesagt habe, gilt in ähnlicher Weise für unser gesamtes Sozialsystem. Zum Beispiel für das Gesundheitswesen. Wir haben auch hier gehandelt. Wir haben die Gesundheitsreform fortgesetzt. Die 3. Stufe ist seit dem 1. Juli 1997 in Kraft. Der Reformerfolg war bereits für 1997 spürbar. Ohne unseren Reformschritt wäre es zu einem Defizit von rund zehn Milliarden D-Mark und damit im Ergebnis zu einer Anhebung des Beitragssatzes gekommen.

 

Wir haben außerdem die Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall reformiert. Ich hätte es lieber gesehen, wenn hierzu keine gesetzliche Neuregelung notwendig geworden, sondern dies über eine Änderung der Tarifverträge erreicht worden wäre. Nachdem sich Arbeitgeber und Gewerkschaften aber leider nicht einigen konnten, hat die Bundesregierung gehandelt. Das Ergebnis kann sich sehen lassen: Durch die Reform und dadurch angestoßene Regelungen in den Tarifverträgen wurden die Unternehmen von Arbeitskosten in Höhe von rund 20 Milliarden D-Mark entlastet. Darüber hinaus ist der Krankenstand auf das niedrigste Niveau seit Kriegsende gesunken. Dies ist natürlich auch auf die schwierige Situation am Arbeitsmarkt zurückzuführen. Um den Arbeitsplatz nicht zu gefährden, überlegt sich manch einer heute stärker, ob er sich krankschreiben läßt. Es wäre gleichwohl besser gewesen, wenn hierzu als Anstoß kein Gesetz notwendig gewesen wäre. Entscheidend ist, daß die Menschen von sich aus erkennen, daß der Arbeitsplatz ein wichtiges Gut ist.

 

Meine Damen und Herren, wer erklärt, unsere Reformen im Bereich der sozialen Sicherungssysteme zurücknehmen zu wollen, muß sagen, wie er dies finanzieren möchte. Der zweite Halbsatz Ihres Mottos - "Standort hier" - ist vollkommen richtig! Er steht nicht für "weiter so", sondern dafür, daß wir vieles in einer vernünftigen Weise ändern müssen. Dies verlangt von uns doch keine untragbaren Opfer. Dies weiß jeder, der - trotz mancher persönlicher Notlage auch bei uns - die Gesamtsituation unseres Landes betrachtet.

 

Unsere Reformen im Sozialbereich zielen darauf, den Sozialstaat für die Zukunft zu erhalten. Sozialpolitik muß bezahlbar bleiben. Nur ein wirtschaftlich starker Staat kann ein sozial starker Staat sein. Wir geben jede dritte D-Mark, die wir in Deutschland erwirtschaften, für soziale Leistungen aus. Auch angesichts dieser Größenordnung wird klar, daß es nicht darum geht, unseren Sozialstaat abzuschaffen, sondern ihn umzubauen. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund der hohen Arbeitslosigkeit in unserem Land müssen wir zur Kenntnis nehmen, daß unser System nicht mehr in Ordnung ist. Ich nenne nur das Stichwort Zumutbarkeit. Es ist eine eigenartige Entwicklung, daß wir einerseits eine hohe Arbeitslosigkeit haben und es andererseits Unternehmen gibt, die dringend Mitarbeiter suchen und nicht bekommen können.

 

Wir müssen unsere Anstrengungen weiter darauf konzentrieren, daß jene, die unter ihrer Arbeitslosigkeit leiden und wirklich arbeiten wollen, wieder in den Arbeitsprozeß integriert werden. Wir müssen andererseits den Mißbrauch stärker bekämpfen. Es gibt Trittbrettfahrer, die gar nicht arbeiten wollen. Zum Teil nehmen sie auch gleichzeitig soziale Leistungen in Anspruch und verdienen durch Schwarzarbeit hinzu, ohne hierfür Steuern und Sozialabgaben zu leisten. Dagegen müssen wir stärker vorgehen.

 

Wir dürfen nicht dulden, daß derjenige, der den Staat betrügt, besser dasteht als derjenige, der anständig und fleißig seine Pflicht tut und Steuern und Sozialabgaben zahlt. Wir müssen staatliche Hilfe wieder stärker auf die wirklich Bedürftigen konzentrieren. Dies hilft den Betroffenen, entlastet zugleich unser soziales Netz und schafft Spielräume für das Senken von Lohnzusatzkosten und damit für Arbeitsplätze.

 

Wir haben darüber hinaus die Flexibilität am Arbeitsmarkt erhöht und zum Beispiel wesentliche Einstellungshürden im Arbeitsrecht beseitigt. Wir haben die Schwelle für den Kündigungsschutz angehoben und die Möglichkeiten zum Abschluß befristeter Arbeitsverträge erleichtert. Es ist eine erfreuliche Entwicklung, daß am deutschen Arbeitsmarkt heute bereits vieles möglich geworden ist, was noch vor kurzer Zeit nicht denkbar war. Ich denke zum Beispiel an Jahresarbeitszeitkonten. Es ist ein Gebot der Vernunft, daß etwa in Branchen, die im Sommer Hochkonjunktur haben und in denen im Winter kürzer gearbeitet wird, dies in entsprechenden Arbeitszeitregelungen seinen Niederschlag finden kann.

 

IV.

 

Zur Zukunftssicherung unseres Standortes gehört für mich ganz wesentlich die Frage eines ausreichenden Lehrstellenangebots. Ich bin überzeugt, daß es uns wie in den vergangenen Jahren auch in diesem Jahr wieder gelingen wird, einen Ausgleich am Lehrstellenmarkt zu erreichen. Meine Bitte an Sie lautet: Setzen Sie über dieses Jahr hinaus Ihre Anstrengungen fort - und verstärken sie diese wo eben möglich. Wir müssen schon jetzt Lösungen finden, um ein ausreichendes Lehrstellenangebot auch in den nächsten Jahren sicherzustellen. Bis 2005 wird die Nachfrage nach Lehrstellen demographisch bedingt noch steigen. Danach wird sie abrupt zurückgehen. Wer heute die große Zahl von Bewerbern als Last empfindet, wird dann über einen Mangel an Lehrlingen und Fachkräften klagen.

 

Ein ausreichendes Angebot an Ausbildungsplätzen ist vor allem auch eine gesellschaftliche Verpflichtung. Wir brauchen das Vertrauen der jungen Menschen. Ich sage dies ganz bewußt auch mit Blick auf den Wahlausgang am vergangenen Sonntag in Sachsen-Anhalt. Es genügt nicht, den jungen Menschen gerade hier in den neuen Ländern zu sagen, daß sie seit der Wiedervereinigung in einem Staat mit der besten aller Regierungsformen leben. Wir müssen ihnen auch Beispiel sein und ihnen vor allem eine Perspektive für die Zukunft geben. Dazu gehört, daß wir mit einem ausreichenden Lehrstellenangebot die Voraussetzungen für ihren Eintritt ins Berufsleben schaffen.

 

Meine Damen und Herren, ich kann als Bundeskanzler von jungen Menschen doch nur dann mit Überzeugung erwarten, daß sie ihre Pflicht für unser Land tun - zum Beispiel die jungen Männer beim Wehr- oder Ersatzdienst -, wenn unser Land ihnen gleichzeitig die Chance auf eine Ausbildung eröffnet. Natürlich kann nicht jeder eine Lehrstelle in seinem Traumberuf erwarten. Auch gilt, daß Lehrjahre keine Herrenjahre sind. Wer Rechte hat, der hat auch Pflichten. Dies müssen die jungen Menschen wieder stärker begreifen. Ebenso gilt aber auch: Junge Menschen müssen bei uns die Chance einer qualifizierten Ausbildung erhalten.

 

Ich bitte Sie deshalb an dieser Stelle sehr herzlich: Helfen Sie mit und leisten auch Sie Ihren Beitrag, damit auch in den kommenden Jahren jedem, der dies möchte und der dazu in der Lage ist, ein Ausbildungsplatz angeboten werden kann. Ein ausreichendes Angebot an Lehrstellen ist nicht allein eine Frage des kurzfristigen betriebswirtschaftlichen Kalküls. Es ist im besten Sinne des Wortes gelebter Patriotismus.

 

Meine Damen und Herren, zur Standortsicherung unseres Landes brauchen wir ganz klar auch die Entscheidung über die Steuerreform. Ich will dieses Thema nicht weiter vertiefen. Es wird seit Monaten darüber geredet. Nur eines möchte ich hier noch einmal unterstreichen: Entweder wir bekommen eine Steuerreform - und zwar bald -, die diesen Namen verdient, oder wir können den Standort Deutschland auf Jahre abschreiben.

 

Es gibt ein weiteres Schlüsselthema für unser Land, auf das ich an dieser Stelle eingehen möchte: Wir brauchen mehr Existenzgründer und eine neue Kultur der Selbständigkeit. Herr Köhler hat eben mit großer Wärme davon gesprochen. Herr Köhler, Sie haben auch deutlich gemacht, daß Ihre Organisation in diesem Bereich bereits vieles getan hat. Dafür danke ich Ihnen und ermutige Sie, auf diesem Weg weiter voranzugehen.

 

Wir brauchen eine neue Existenzgründerwelle vor allem für die vielen zusätzlichen Arbeitsplätze, die wir in einer sich weiter verändernden Welt benötigen. Diese werden nicht im Öffentlichen Dienst und nicht in der Großindustrie entstehen. Unsere Großunternehmen sind in ausgeprägtem Maße weltweit engagiert. Sie können nicht unbegrenzt ihren Heimatstandort ausbauen, sondern werden weiterhin auch international investieren. Sie sichern damit zugleich Arbeitsplätze im Inland, ohne jedoch viele neue zu schaffen. Im Öffentlichen Dienst ist die Richtung ebenfalls klar. Wir wollen einen schlankeren Staat. Deshalb werden auch hier die in großer Zahl notwendigen neuen Arbeitsplätze nicht geschaffen werden können.

 

Mehr unternehmerische Selbständigkeit ist natürlich eine Frage des Geldes. Sie ist aber vor allem auch eine Frage des gesellschaftlichen Klimas in unserem Land. Es ist ein deutliches Signal, daß etwa 50 Prozent der deutschen Studenten in den Öffentlichen Dienst streben, während nur etwa 15 Prozent den Sprung in die unternehmerische Selbständigkeit wagen wollen. Hier müssen wir entschieden umdenken.

 

Lassen Sie mich dies am Beispiel der Meisterabschlußfeiern von Handwerkskammern verdeutlichen. Nach der Festrede kommen meist die jungen Menschen auf die Bühne, um ihre Abschlußzeugnisse entgegenzunehmen. Auf die Frage nach den Plänen für die berufliche Zukunft entgegnen regelmäßig viele, daß sie sich selbständig machen möchten. Meine Damen und Herren, vollziehen Sie nur einmal den weiteren Weg eines hochmotivierten jungen Menschen in dieser Situation nach. Nicht selten schlagen ihm schon in seiner privaten Umgebung Zweifel und Bedenken entgegen. Es beginnt mit der Freundin und deren Eltern, die nicht verstehen, daß er einen sicheren Arbeitsplatz als Meister im Angestelltenverhältnis mit bis zur Rente vorprogrammierten Aufstiegschancen aufgeben möchte.

 

Wenn er dann zur Kammer geht, wird er dort zweifellos sehr gut beraten, doch in den Gesichtern der Berater steht oftmals etwas anderes geschrieben. Schließlich macht er sich auf den Weg zu einem Kreditgeber, zum Beispiel zur Sparkasse. Malen Sie sich die Situation jetzt einmal aus, wenn er bei Ihnen am Schalter steht und sich um einen Existenzgründerkredit bemüht. Wie häufig passiert es, daß er durch überzogene Kreditsicherheitsanforderungen abgeschreckt und endgültig entmutigt wird. An dieser - zugegebenermaßen etwas überspitzten - Darstellung wird deutlich, meine Damen und Herren, wo Ihre Chancen liegen, das Klima in Deutschland für mehr Existenzgründungen und unternehmerische Selbständigkeit zu verändern.

 

Wir sind alle gefordert, dazu beizutragen, daß es - ich sage es einmal mit einem Modewort - wieder "in" wird, in unserem Land unternehmerisch selbständig zu sein. Dazu gehört auch, daß wir redliche Existenzgründer oder Jung-Unternehmer, die gescheitert sind, nicht pauschal als Versager abstempeln. Im Gegenteil: Wir müssen sie ermuntern und ihnen - ähnlich wie in den USA - eine zweite oder dritte Chance geben. Mit einem Satz: Wir brauchen wieder eine Aufbruchstimmung, nicht zuletzt in unserer jungen Generation. Wir brauchen mehr junge Menschen, die sich etwas zutrauen und dafür dann auch die verdiente öffentliche Anerkennung bekommen. Dies muß bei uns wieder selbstverständlich werden!

 

V.

 

Meine Damen und Herren, Deutschland hat eine hervorragende Ausgangsposition an der Schwelle zum 21. Jahrhundert. Meiner Meinung nach hatten wir nie zuvor bessere Chancen, eine gute Zukunft zu gestalten. Ich bin überzeugt, daß wir die materiellen Probleme unseres Landes lösen werden. Wir werden es schaffen, wenn wir alle gemeinsam - jeder in seinem Bereich - unseren Beitrag leisten. Mindestens ebenso wichtig sind jedoch die immateriellen Voraussetzungen.

 

Dazu gehört nicht zuletzt die Pflege von Kunst und Kultur. Die deutschen Sparkassen und ihre Verbundpartner engagieren sich in vorbildlicher Weise für die Kulturförderung in Deutschland. Sie haben nach der Wiedervereinigung auch hier in den neuen Ländern rasch Zeichen gesetzt. Dafür möchte ich Ihnen danken und Sie zugleich bestärken, in diesem Bereich auch weiterhin zuverlässiger Partner vor Ort zu bleiben.

 

Wir müssen vor allem die Erkenntnis in unserem Land wieder fördern, daß Freiheit und Verantwortung für sich und andere unauflöslich zusammengehören und die Grundlage für ein gutes Miteinander in Staat und Gesellschaft bilden. Wir brauchen ein waches Bewußtsein dafür, was falsch und was richtig ist. Junge Menschen haben ein Recht auf Erziehung. Das heißt auch, ihnen Grenzen aufzuzeigen. Hier liegt eine große Verantwortung für uns alle, insbesondere für die Familien und die Schulen. Wir müssen uns auch wieder stärker auf die Werte und die Tugenden besinnen, die den Aufstieg und den Erfolg unseres Landes in den vergangenen Jahrzehnten ermöglicht haben - Fleiß und Toleranz, Wagemut und Ehrlichkeit, Leistungsbereitschaft und Mitmenschlichkeit.

 

Meine Damen und Herren, ich nenne nur ein Beispiel: Steuerhinterziehung hat es in der einen oder anderen Weise immer gegeben. Die Art und Weise aber, mit der sich heute manche ihrer eigenen Betrügereien öffentlich rühmen, ist unerträglich. Der Satz, der in der Generation unserer Eltern noch etwas galt, muß auch heute wieder gelten: So etwas tut man nicht. Der Staat kann nicht alles regeln und mit Recht und Gesetz verfolgen. Wir brauchen in unserer Gesellschaft wieder einen Konsens darüber, was man tut und was man nicht tut - daß der ehrbare Kaufmann ein ehrbarer Kaufmann ist, daß ein Wort ein Wort ist und daß nicht dumm ist, wer seine Pflicht tut, wer pünktlich und fleißig ist.

 

Wenn wir so ans Werk gehen, dann haben wir alle Chancen. Wir müssen sie nur nutzen - dazu möchte ich alle einladen.

 

 

 

Quelle: Bulletin der Bundesregierung. Nr. 40. 9. Juni 1998.