30. Januar 1997

Erklärung vor dem Deutschen Bundestag zum Thema "Deutsch-Tschechische Erklärung über die gegenseitigen Beziehungen und deren künftige Entwicklung"

 

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

wir sind heute morgen hier zusammengekommen, um über ein wichtiges Kapitel deutscher und europäischer Geschichte, deutscher und europäischer Nachbarschaft miteinander zu sprechen.

Es war das große Ziel deutscher Politik nach Gründung unserer Bundesrepublik, Verständigung und Versöhnung zwischen dem deutschen Volk und allen seinen Nachbarn zu erreichen. Alle deutschen Bundesregierungen, alle deutschen Bundeskanzler - Konrad Adenauer, Ludwig Erhard, Kurt Georg Kiesinger, Willy Brandt, Helmut Schmidt und auch ich selbst - haben mit ganzer Kraft für dieses Ziel gearbeitet.

Im Verhältnis zu unseren westlichen Nachbarn waren große Schritte zur Verständigung und Versöhnung schon bald nach dem Krieg erfolgreich. Zwischen uns und unseren östlichen Nachbarn standen dagegen bis vor wenigen Jahren nicht nur die Vergangenheit und die Erfahrung des Krieges, sondern auch die Gegenwart des Eisernen Vorhangs. Dennoch gab es wegweisende Initiativen - ich erwähne hier vor allem Willy Brandt -, um ein neues Kapitel in unseren Beziehungen zu Polen und zur damaligen Tschechoslowakei zu beginnen. Doch erst mit dem Ende des Ost-West-Gegensatzes hatten wir dazu eine wirkliche Chance, die wir dann genutzt haben. In der letzten Zeit haben wir vieles in diesem Sinne bewegen können.

In der letzten Woche haben wir - die Bundesregierung gemeinsam mit der Regierung der Tschechischen Republik - die Deutsch-Tschechische Erklärung unterzeichnet. Der Weg zu dieser Erklärung war lang. Es geht nicht darum, einen Schlußstrich zu ziehen. Es ging und geht darum, auch im Verhältnis zu unseren tschechischen Nachbarn jene Themen offen anzusprechen und zu besprechen, die unseren Weg in eine gemeinsame Zukunft erschweren könnten.

Geschehenes kann nicht ungeschehen gemacht werden. Gewalt und Unrecht haben auf beiden Seiten tiefe Wunden geschlagen und Bitterkeit hinterlassen. Dies alles kann nicht mit einer Erklärung aus der Welt geschafft werden. Es geht darum, als Nachbarn in Europa ehrlich miteinander umzugehen. Tschechen und Deutsche bekennen sich in der Erklärung zu ihrer geschichtlichen Verantwortung.

Wir Deutschen wissen um das schwere Unrecht, das das nationalsozialistische Deutschland den Tschechen zugefügt hat. Das tschechische Volk - das wollen wir nie vergessen - hat damals länger als andere unter deutscher Okkupation, unter Unrecht und Krieg gelitten. Der Rassenwahn der Nationalsozialisten hat nicht zuletzt den Juden in der damaligen Tschechoslowakei Furchtbares angetan. Wir haben in diesem Haus am Montag dieser Woche auch der Opfer von Theresienstadt gedacht.

Es entspricht christlich-jüdischer und humanistischer Tradition, auf den einzelnen Menschen zu schauen. Das millionenfache Leiden darf uns nicht den Blick auf das einzelne Opfer verstellen. Ich denke, es ist unsere menschliche Pflicht, das Leid der Heimatvertriebenen und Flüchtlinge nicht zu vergessen. Trauer ist kein Akt kleinlicher Aufrechnung. Weder wird deutsche Schuld durch das Unrecht der Vertreibung auch nur um ein Jota gemindert, noch hebt deutsche Schuld das Unrecht der Vertreibung auf.

Die Sudetendeutschen haben einen Anspruch darauf, daß wir vor der Tragik ihres Schicksals nicht die Augen verschließen, sondern das an ihnen verübte Unrecht beim Namen nennen. Unter uns leben noch viele, die durch persönliche Erinnerung an Flucht und Vertreibung unmittelbar und nachhaltig betroffen und geprägt sind.

Vielen - Deutschen und Tschechen -, die selbst gelitten haben, fällt es nach wie vor schwer, das Leid der anderen vorbehaltlos anzuerkennen. Gerade sie bitte ich, gemeinsam mit uns - vor allem mit der jungen Generation beider Völker - in die Zukunft zu gehen. Dies sage ich mit großem Respekt auch zu jenen Kolleginnen und Kollegen hier im Deutschen Bundestag und im Tschechischen Parlament, denen es nach der Erfahrung des eigenen Lebens nicht leicht fällt, der Deutsch-Tschechischen Erklärung zuzustimmen.

Die Erklärung kann die noch fortbestehenden Wunden aus der Vergangenheit bei den Betroffenen nicht aus der Welt schaffen; sie kann die Geschichte auch nicht in allen ihren Einzelheiten erfassen und bewerten. Die Erklärung soll jedoch - bei allem Respekt für die verletzten Gefühle - einen Beitrag zur Aussöhnung leisten. Sie soll uns helfen, gemeinsam den Teufelskreis gegenseitiger Aufrechnung und Schuldzuweisung zu durchbrechen.

Meine Damen und Herren, es gibt keinen Anspruch auf Vergebung. Versöhnung läßt sich nicht verordnen. Um so bewegender ist es, wenn Menschen sie wagen und ihre Herzen auch gegenüber jenen öffnen, die ihnen Unrecht zugefügt haben. Ich hoffe, die Bereitschaft zur Versöhnung wird auch bei denen wachsen, die mit der Deutsch-Tschechischen Erklärung nicht einverstanden sind.

Die große Mehrheit der Menschen in unseren Ländern will den Weg der Zusammenarbeit, ja der Freundschaft. Wir können dabei an die vielen guten Kapitel unserer langen und gemeinsamen Geschichte anknüpfen. Deutsche und Tschechen haben über Jahrhunderte hinweg Haus an Haus gelebt. Die Epochen friedlichen und geistig befruchtenden Zusammenlebens sind dabei weitaus länger und schöpferischer gewesen als die Zeiten bitterer Konfrontation.

Der Text der gemeinsamen Deutsch-Tschechischen Erklärung geht klar und auch mutig auf strittige Abschnitte unserer gemeinsamen Geschichte ein. Dies - und das will ich betonen - hat es zwischen unseren Völkern in dieser Form noch nicht gegeben. Es ist nach meiner Überzeugung ein guter Text, der den festen Willen auf beiden Seiten zum Ausdruck bringt, gemeinsam in eine bessere, in eine europäische Zukunft zu gehen.

Mein besonderer Dank gilt all jenen, die ihren Beitrag zum Zustandekommen dieser Erklärung geleistet haben. Ich danke vor allem den beiden Außenministern Josef Zieleniec und Klaus Kinkel sowie den beiden Unterhändlern Vizeminister Vondra und Staatssekretär Hartmann. Die Ausgangsvorstellungen bei diesen Gesprächen lagen ziemlich weit auseinander. Aber es ist gelungen, aufeinander zuzugehen. Als Ergebnis haben wir ein Dokument, das Zugeständnisse von beiden Seiten enthält.

Der Wert dieses Textes, meine Damen und Herren, liegt nicht zuletzt darin, daß er in einigen wichtigen Fragen weiterführt als etwa der Nachbarschaftsvertrag von 1992. Für mich ist vor allem die erhebliche Annäherung - Annäherung! - bei der gemeinsamen Geschichtsbetrachtung bemerkenswert. Die tschechische Seite bezeichnet erstmals Vertreibung, Enteignungen und Ausbürgerung als Unrecht. Der "kollektive Charakter" der Schuldzuweisung an die Sudetendeutschen wird ebenso bedauert wie das Gesetz Nr. 115 vom 8. Mai 1946, das bei uns in Deutschland als "Amnestiegesetz" bekannt ist.

Für die privilegierte Gewährung von Aufenthaltserlaubnissen für Sudetendeutsche wurden klare Zusicherungen erreicht. In der Vermögensfrage bleibt jede Seite ihrer Rechtsordnung verpflichtet und respektiert, daß die andere Seite eine andere Rechtsauffassung hat. Dem entspricht, daß wir bei der Gestaltung unserer Beziehungen "weiterhin der Verständigung und dem gegenseitigen Einvernehmen Vorrang einräumen", wie es in der Erklärung heißt.

Frau Präsidentin, meine Damen und Herren, die Deutsch-Tschechische Erklärung eröffnet ein weites Feld neuer Aufgaben, denen wir uns gemeinsam stellen wollen. Ich verbinde besondere Hoffnungen mit dem geplanten deutsch-tschechischen Gesprächsforum. Neben der bereits bestehenden Historikerkommission brauchen wir ein solches Forum, um die weitere Verständigung zwischen unseren Völkern auf einer möglichst breiten Grundlage und unter Beteiligung aller am deutsch-tschechischen Verhältnis interessierten Kreise zu fördern.

Dazu zählen selbstverständlich auch die Sudetendeutschen. Niemand darf ausgegrenzt werden. Aber das andere gilt auch: Niemand sollte sich selbst ausschließen. Die Sudetendeutschen haben gezeigt, daß sie sich trotz des verständlichen Schmerzes über den Verlust der Heimat vom Geist des Friedens und der Verständigung leiten lassen.

Hunderttausende von ihnen - und das wollen wir nicht vergessen - sind in den letzten Jahren und Jahrzehnten in ihre alte Heimat gefahren und haben dort die Stätten der Jugend und auch das Grab der Eltern besucht. Sie haben in der Vergangenheit mit ihrem Beitrag zum Aufbau unserer Bundesrepublik Deutschland und mit ihrer klaren Absage an Haß und Vergeltung ein Beispiel gegeben. Was dies bedeutet, kann wohl keiner ermessen, der den Verlust der Heimat nicht selbst oder in seiner eigenen Familie erlebt hat.

Heute sind die Sudetendeutschen aufgerufen, ein neues Beispiel zu geben. Sie können Brücken in die Zukunft, Brücken zwischen dem deutschen und dem tschechischen Volk bauen. Wahr ist auch: Viele unter ihnen tun dies bereits seit vielen Jahren.

Das tschechische Volk habe ich in meiner Rede in Prag gebeten, den guten Willen der Sudetendeutschen zu sehen und auch anzunehmen. Das ist die beste Voraussetzung für ein gutnachbarschaftliches Verhältnis zwischen unseren beiden Völkern.

Meine Damen und Herren, die wirtschaftlichen und kulturellen Beziehungen zwischen unseren Ländern haben sich in den vergangenen Jahren bereits sehr gut entwickelt. Vor allem freue ich mich über die Zunahme des Jugendaustausches. Ich hoffe sehr, daß die jungen Menschen in besonderer Weise von dem gemeinsam errichteten Zukunftsfonds profitieren werden. Gleiches wünsche ich mir für Projekte der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit - wie zum Beispiel im Rahmen der EUREGIO - und für die Förderung der deutschen Minderheit in Tschechien.

Ein entscheidendes Ziel deutscher Politik bleibt der Bau des Hauses Europa. Wir wissen, die europäische Einheit ist die sicherste Gewähr für Frieden und Freiheit im 21. Jahrhundert. Tschechien hat in den europäischen Einigungsprozeß, in den Bau des Hauses Europa, ein großes geistig-kulturelles Erbe einzubringen. Mein Aufenthalt in der vergangenen Woche in Prag, dieser alten und glanzvollen europäischen Metropole, hat mir dies erneut bestätigt. Wir, die Deutschen, wollen, daß die Tschechische Republik so bald wie möglich Mitglied der Europäischen Union und der NATO wird. Dies entspricht auch unserem ureigenen Interesse. Stabilität, Sicherheit und Wohlstand bei allen unseren östlichen Nachbarn nutzen auch uns.

Unsere gemeinsame Erklärung dient deshalb nicht nur dem bilateralen Verhältnis. Sie ebnet zugleich den Weg für unsere gemeinsame europäische Zukunft. Ein vereintes Europa wird es nur geben, wenn dieses Europa von den Menschen getragen wird. Nationale Institutionen - Regierungen und Parlamente - und zwischenstaatliche Einrichtungen können ihren Beitrag leisten, um den Frieden zu sichern. Wirtschaftliche Zusammenarbeit kann dazu beitragen, Interessensgegensätze zu überwinden. Aber ohne den Beitrag von Millionen einzelner Menschen würde es uns nicht gelingen, das Friedenswerk der Einheit Europas zu vollenden.

Meine Damen und Herren, wir wollen und wir dürfen den Schmerz und die Tränen dieses Jahrhunderts nicht vergessen. Das schulden wir den Opfern. Nur so kann - wenn überhaupt - die Erfahrung des Leidens in jenen Tagen einen Sinn ergeben und uns eine wirkliche Mahnung sein. Nur durch Wahrhaftigkeit läßt sich nach dem Schrecken unseres Jahrhunderts eine gute Zukunft für die Menschen in unseren beiden Ländern gewinnen und sichern. Wir - Tschechen und Deutsche - wollen einander gute Nachbarn sein.

Wir haben jetzt, wenige Jahre vor dem Ende dieses Jahrhunderts, die Chance zum Bau einer Friedensordnung in Europa, die sich auf die uneingeschränkte Achtung der Menschenrechte und des Völkerrechts gründet.

Kommende Generationen werden uns danach fragen und beurteilen, wie wir in unseren Tagen die moralischen und die praktischen Herausforderungen bewältigen, um Frieden und Freiheit heute und - was noch sehr viel wichtiger ist - für kommende Generationen zu sichern. Wir wünschen uns, daß unsere Kinder und Enkel hineinwachsen in eine Welt, in der nie wieder Menschen unter fremder Besatzung zu leiden haben, eine Welt, in der nie wieder Menschen aus ihrer Heimat vertrieben werden. Sie sollen hineinwachsen in eine Welt, in der die Völker in Frieden, Freiheit und Wohlstand miteinander leben können.

Diese Aufgabe geht jeden von uns etwas an. Ich bitte Sie alle, daran mitzuwirken. In diesem Geiste bitte ich Sie auch, der Deutsch-Tschechischen Erklärung zuzustimmen.

 

Quelle: Bulletin der Bundesregierung. Nr. 11. 4. Februar 1997.