30. Juni 1998

Grußwort anlässlich des Festakts zur Errichtung des Europäischen Systems der Zentralbanken in Frankfurt am Main

 

Lieber Präsident Wim Duisenberg,
Herr Präsident des Europäischen Parlaments,
Herr Präsident Santer,
Frau Bundestagspräsidentin,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
Exzellenzen, meine Damen und Herren,
liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Europäischen Zentralbank,

 

als Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland heiße ich Sie alle sehr herzlich bei uns in Deutschland, hier in Frankfurt, willkommen.

 

Dies ist ein großer Tag für Europa, für uns in Deutschland und für die wunderschöne Stadt Frankfurt. Die Chöre, der Gesang und die Musik aus ganz Europa, die wir gerade erlebt haben, haben uns deutlich gemacht, daß es beim Thema Europa nicht nur um Geld und Währungen geht. Ich danke dem Maastrichter Männerchor sehr herzlich für diese großartige Darbietung. Das Schlußlied "Money, money, money" ist zweifellos ein hervorragendes Motto für die anstehenden Diskussionen über die Neuordnung der EU-Finanzierung. Ich sehe förmlich die Begeisterung all meiner Kollegen, die nur darauf warten, ihren finanziellen Beitrag zu leisten!

 

Meine Damen und Herren, wir alle spüren am heutigen Tag - am 1. Juni wurde die Europäische Zentralbank offiziell gegründet -, daß sich die vielen gemeinsamen Anstrengungen in der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts gelohnt haben. Die großen Visionäre, die den Traum Europas nie aufgegeben haben, erweisen sich am Ende dieses Jahrhunderts als die eigentlichen Realisten. Es ist eine große Ermutigung für uns heute Lebende und auch für die kommenden Generationen, daß Europa, der alte Kontinent, eben nicht im Abgang begriffen ist, sondern er voller Dynamik, voller Kraft und voller Zuversicht ist - vorausgesetzt, wir Europäer wollen es.

 

Die Errichtung der Europäischen Zentralbank ist ein wichtiger Meilenstein in der Geschichte der europäischen Einigung. Die jetzt gegründete Europäische Zentralbank wird einen stabilen und sicheren Euro gewährleisten. Ich bin sicher, daß dies mit der Unterstützung aller gelingen wird. Dies ist auch die Stunde, um all jenen zu danken, die in den vergangenen Jahren - die Einführung des Euro wurde zehn Jahre vorbereitet - zur Verwirklichung dieses Projekts beigetragen haben: Im Europäischen Währungsinstitut, in den Zentralbanken der Mitgliedstaaten, in den verantwortlichen Finanzministerien, auf vielen Tagungen und bei vielen Begegnungen. Ich möchte vor allem die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter erwähnen, die diesen Weg mitgegangen sind und die nicht in den täglichen Schlagzeilen zu finden sind. Ohne ihren Dienst hätten wir dieses Ziel nicht erreicht.

 

Meine Damen und Herren, die europäische Einigung ist der Glücksfall der Geschichte unseres Kontinents. Dies gilt für uns alle in Europa. Es gilt aber in besonderer Weise für uns in Deutschland als Land in der Mitte Europas mit den längsten Grenzen und den meisten Nachbarn - und einer durch eigenes Zutun schwierigen Geschichte. Ohne die Einigung Europas wäre die Deutsche Einheit nicht möglich gewesen. Dafür sind wir dankbar. Die europäische Einigung ist für uns Deutsche eine bleibende Verpflichtung.

 

Der Bau des Hauses Europa ist die beste Garantie für Frieden und Freiheit im kommenden Jahrhundert. Die Einführung des Euro ist ein wahrhaft säkulares Ereignis, das das Gesicht unseres Kontinents im kommenden Jahrhundert entscheidend prägen wird. Gerade in dieser Stunde sollten wir uns klarmachen: Heute wachsen Kinder im Bewußtsein auf, daß sie nach menschlichem Ermessen ihr ganzes Leben in Europa in Frieden, in Freiheit und - wenn sie selbst dazu beitragen - in Wohlstand verbringen können, daß die Grenzen in unserem Europa ihren Charakter als trennende Grenzen verloren haben und sie überall in Europa Freunde finden können.

 

Von Helsinki bis Madrid werden die Menschen künftig mit einer Währung, dem Euro, bezahlen. Daraus wird sich ein völlig neues Gefühl der Zusammengehörigkeit entwickeln. Europa wird für die Menschen ganz konkret erfahrbar sein. Währungen waren schon immer viel mehr als nur ein Zahlungsmittel. Sie waren und sind immer auch ein Stück kultureller Identität sowie ein Gradmesser politischer und damit auch sozialer Stabilität. Ich bin ganz sicher: Die Einführung des Euro wird auch der Fortentwicklung der Politischen Union neuen Auftrieb geben.

 

Für die deutsche EU-Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 1999 steht eine Vielzahl entscheidender Weichenstellungen an. Wir haben uns vorgenommen, Europa in dieser Zeit - anknüpfend an die Debatte beim Europäischen Rat in Cardiff - gemeinsam mit allen unseren Partnern ein gutes Stück voranzubringen. Wir sollten damit schon jetzt beginnen und wollen unsere österreichischen Freunde auf diesem Weg im nächsten halben Jahr unterstützen. Es geht vor allem um die konsequente Umsetzung des Subsidiaritätsprinzips und die notwendigen institutionellen Reformen.

 

Diese Themen gewinnen nicht zuletzt vor dem Hintergrund der anstehenden Erweiterung der Europäischen Union nach Osten und Südosten besondere Bedeutung. Die Menschen in diesen Ländern warten auf uns. Wir haben ihnen zur Zeit der kommunistischen Diktatur unser Wort gegeben. Wir haben ihnen zugerufen: Ihr seid wie wir Europäer und Teil des Ganzen. Heute haben wir die Verpflichtung, unser gegebenes Wort einzulösen.

 

Meine Damen und Herren, die gemeinsame europäische Währung ist nicht nur von großer politischer, sondern auch von grundsätzlicher wirtschaftlicher Bedeutung. Zwischen den teilnehmenden Währungen bestehen künftig keine Wechselkursschwankungen mehr. Dies erhöht die Planungssicherheit. Der Handel erhält zusätzliche Impulse. Dies kommt der wirtschaftlichen Entwicklung in unseren Ländern zugute.

 

Wahr ist natürlich - wir sollten das deutlich aussprechen -, daß der Euro kein Patentrezept ist, mit dem die Arbeitsmarktprobleme in unseren Ländern quasi über Nacht gelöst werden können. Hierzu bedarf es - auch bei uns in Deutschland - noch größerer Flexibilität, weiterer struktureller Reformen und Veränderungen. Aber ich bin sicher: Wenn jeder seine nationalen Hausaufgaben macht und wenn wir auch voneinander lernen, dann wird dieses Europa eine neue wirtschaftliche Dynamik für dauerhaftes Wachstum und für zukunftssichere Arbeitsplätze entwickeln.

 

Mit der Euro-Zone entsteht ein einheitlicher Markt mit einer gemeinsamen Währung für zunächst 300 Millionen Menschen und mit einem Anteil von rund 20 Prozent am Welteinkommen. Dieser Anteil ist vergleichbar mit dem der Vereinigten Staaten von Amerika. Ich bin sicher, daß die Euro-Zone in den kommenden Jahren durch den Beitritt weiterer Länder noch größer wird.

 

Der Euro ist eine der großen Antworten Europas auf die Globalisierung der Weltwirtschaft und auf den immer stärkeren weltweiten Standortwettbewerb zwischen Staaten und Regionen. Ein stabiler Euro - und der Euro wird stabil sein - hat gute Chancen, eine ernstzunehmende Alternative zum US-Dollar als Weltwährung zu werden. Angesichts der unübersehbaren Schwierigkeiten, die wir derzeit leider in Asien erleben müssen, erkennen viele Investoren aus aller Welt die Vorzüge Europas und legen ihr Geld trotz niedriger Zinsen im sicheren Hafen des Euro-Raumes an. Die internationale Finanzwelt - das haben wir in den letzten Wochen erlebt - hat großes Vertrauen in die gemeinsame europäische Währung - und das ein halbes Jahr vor ihrer Einführung. Wer hätte das noch vor wenigen Wochen geglaubt? Damals haben uns viele Gurus mit düsteren Prophezeiungen geradezu überschüttet.

 

Das Vertrauen in die Stabilität des Euro ist vollauf gerechtfertigt! Wir haben wichtige Voraussetzungen dafür geschaffen, daß der Euro eine dauerhaft stabile Währung wird:

 

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Bei der Auswahl der Teilnehmerstaaten haben wir strikt auf die vertragsmäßige Einhaltung der Konvergenzkriterien geachtet.

 

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Damit die Haushaltsdisziplin auch nach Beginn der Währungsunion gewährleistet ist, haben wir zusätzlich den Stabilitäts- und Wachstumspakt beschlossen.

 

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Die Europäische Zentralbank, deren Gründung wir heute gemeinsam feiern, ist nach bewährtem Vorbild unabhängig und zuallererst der Sicherung der Geldwertstabilität verpflichtet.

 

 

In Europa hat sich eine beispiellose Stabilitätskultur entwickelt, die noch vor zehn Jahren niemand für möglich gehalten hätte. Ich sage als deutscher Bundeskanzler auch an meine Landsleute gerichtet: Ich bin sicher, daß der Euro zu einer ähnlichen Erfolgsgeschichte wird wie die D-Mark, deren Einführung vor fünfzig Jahren wir uns vor wenigen Tagen erinnert haben.

 

Meine Damen und Herren, als Hüterin der Stabilität der neuen Währung kommt der Europäischen Zentralbank in Frankfurt am Main eine große Verantwortung zu. Sie wird diese Aufgabe ausgezeichnet meistern. Ich bin überzeugt, daß das Direktorium der Europäischen Zentralbank, in das hervorragende Persönlichkeiten berufen worden sind, alles tun wird, um diesem hohen Anspruch zu genügen.

 

Lieber Präsident Wim Duisenberg, ich wünsche Ihnen und Ihren Kolleginnen und Kollegen auf diesem Weg viel Glück und Erfolg. Ihr Erfolg ist auch unser gemeinsamer Erfolg in Europa. Sie haben deshalb einen wohlverdienten Anspruch auf jede nur denkbare Unterstützung.

 

Ich wünsche Ihnen allen, meine Damen und Herren, daß diese heutige Stunde hier in Frankfurt uns als eine Stunde in Erinnerung bleiben wird, von der wir später sagen werden: Wir haben einen wichtigen Schritt unternommen in eine gute, in eine friedliche, in eine gemeinsame Zukunft in Europa.

 

 

 

Quelle: Bulletin der Bundesregierung. Nr. 49. 7. Juli 1998.