31. Dezember 1983

Ansprache von Bundeskanzler Kohl zum Jahreswechsel 1983/84

 

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger!

Hinter uns liegt ein schwieriges und, wie ich hinzufügen möchte, insgesamt doch erfolgreiches Jahr 1983. Es war ein Jahr harter politischer Auseinandersetzungen, aber auch ein Jahr klarer politischer Entscheidungen.

Die Wähler unseres Landes haben bei der Bundestagswahl am 6. März die Koalition der Mitte eindrucksvoll bestätigt. Sie haben sich klar für die Politik der Erneuerung ausgesprochen.

Die stabile politische Mehrheit war eine gute Voraussetzung für eine entschlossene Politik in einer schwierigen Zeit.

Daß 1983 für unser Land insgesamt ein erfolgreiches Jahr war, zeigen wichtige Entwicklungen in der Außen- wie in der Innenpolitik. Wir haben den Frieden nicht nur bewahrt, wir haben ihn auch wieder sicherer gemacht.

Seit mehr als einer Generation bildet das militärische Gleichgewicht in Europa eine stabile Grundlage des Friedens für unseren Kontinent. Wir haben nicht zugelassen, daß dieses Gleichgewicht durch die einseitige Raketenaufrüstung der Sowjetunion beseitigt wird.

Wir haben gemeinsam mit unseren Freunden im Bündnis dem sowjetischen Übermachtstreben standgehalten. Uns allen wäre es ganz gewiß lieber gewesen, wenn die Sowjetunion ihre auf Westeuropa gerichteten SS-20-Raketen wieder abgebaut und die Nachrüstung damit überflüssig gemacht hätte.

Doch alle Angebote der Vereinigten Staaten, die immer in enger Abstimmung mit uns erfolgt sind, haben die Sowjetunion nicht dazu bewegen können, einen Verhandlungserfolg in Genf möglich zu machen.

So führen wir - die jetzige Bundesregierung - aus, was die frühere Regierung unter Führung von Bundeskanzler Helmut Schmidt im Bündnis zugesagt und versprochen hatte. Wir stehen zu unserem Wort.

Der Deutsche Bundestag hat unser Bekenntnis zu den Verpflichtungen aus dem NATO-Doppelbeschluß nach ernster, leidenschaftlich geführter Debatte noch einmal bestätigt. Wir Deutschen stellen uns damit unserer Verantwortung gegenüber unseren Freunden im Westen und unserer Verantwortung für den Frieden in der Welt.

Lassen Sie mich am Ende eines oft genug unruhigen Jahres noch einmal mit allem Ernst sagen: Die Bundesregierung und unser frei gewähltes Parlament haben ihre Entscheidung im Bewußtsein der großen, ja schweren Verantwortung getroffen, die wir - die Deutschen - insonderheit für die Sicherung unseres Friedens in Freiheit tragen.

Ich weiß um Angst und Sorgen vieler Mitbürger, gerade auch junger Menschen, die in diesen Debatten spürbar wurden. Ich habe Achtung vor der persönlichen Gewissensüberzeugung eines jeden einzelnen; ich sage meinen Respekt vor friedlichem Engagement für den Frieden.

Aber ich weiß auch, daß Frieden und Freiheit nach den Erfahrungen der Geschichte Opfer abverlangen. So danke ich den Soldaten unserer Bundeswehr für ihren Dienst für den Frieden. Ich danke den Wehrpflichtigen für ihr persönliches Opfer und auch den Ersatzdienst Leistenden für ihren Einsatz.

Niemand von uns ist raketensüchtig; und es ist auch widersinnig und kann keinem von uns gleichgültig sein, daß die Rüstungsausgaben weltweit steigen und gleichzeitig viele Millionen Menschen Hunger leiden. Aber der Friede, den wir wollen, schließt die Freiheit und die Würde des Menschen mit ein.

Deshalb ist es so wichtig, daß die Bundesrepublik Deutschland heute fest im Bündnis mit Völkern steht, mit denen uns nicht nur der Wille zur Verteidigung verbindet, sondern auch die Wertegemeinschaft im Bekenntnis zu Freiheit, Demokratie und zur Herrschaft des Rechts.

Wichtig ist es aber auch, daß es uns in dieser Zeit gelungen ist, unsere Nachbarn im Osten von der Berechenbarkeit deutscher Politik zu überzeugen.

Die Politik der Bundesregierung wird unbeirrt an ihrem wichtigsten Ziel festhalten: Frieden schaffen mit immer weniger Waffen. Deshalb werden wir auch jede Chance für eine vernünftige Zusammenarbeit zwischen Ost und West nutzen.

Dies gilt ganz besonders für unser Verhältnis zu der DDR, bei dem wir 1983 - trotz grundlegender Meinungsunterschiede, vor allem über die Lösung der nationalen Frage - durchaus Fortschritte im Interesse aller Deutschen erzielen konnten.

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, noch immer leiden wir unter den Nachwirkungen der schwersten wirtschaftlichen und finanziellen Krise, die die Bundesrepublik Deutschland je durchgemacht hat. Doch im Rückblick kann und darf ich sagen, daß 1983 auch in dieser Hinsicht insgesamt ein erfolgreiches Jahr war.

Die wirtschaftliche Talfahrt ist gestoppt, es geht wieder aufwärts. Alle Sachverständigen bestätigen dies, und Sie selbst spüren es: Unsere Wirtschaft hat wieder Tritt gefaßt.

Sie alle wissen, daß 1983 viel zu tun war:

Wir mußten den Ausgleich wiederherstellen zwischen Anspruch und Leistung, und wir mußten der jungen Generation eine lebenswerte Zukunft sichern. Wir mußten die Arbeitslosigkeit bekämpfen und das soziale Sicherungssystem festigen.

Wir mußten die staatlichen Finanzen in Ordnung bringen und vor allem wieder wirtschaftliches Wachstum in Gang setzen. Wir mußten eine umfassende Modernisierung unserer Wirtschaft einleiten, damit wir unseren Platz als eine der führenden Industrienationen der Welt auch in Zukunft behaupten können.

Unsere dringendste Sorge bleibt die Überwindung der Arbeitslosigkeit. Noch immer bangen viele Menschen mit ihren Familien um ihren Arbeitsplatz.

Stahlwerker, Werftarbeiter und viele andere Arbeitnehmer, die in ihrem Arbeitsplatz durch den Strukturwandel ganz unmittelbar betroffen sind, machen sich gemeinsam mit ihren Angehörigen Sorge um die Zukunft.

Ich weiß, daß wir 1984 noch einmal große Anstrengungen unternehmen müssen, um möglichst vielen jungen Menschen durch eine gute Ausbildung Chancen für ein erfülltes Berufsleben und damit persönliches Glück zu eröffnen.

Und ich darf die Gelegenheit nutzen, um allen zu danken, die im abgelaufenen Jahr mitgeholfen haben, über 700.000 jungen Mitbürgern - das ist eine absolute Rekordzahl - einen Ausbildungsplatz zu schaffen.

Ich habe immer gesagt, daß wir einen langen Weg vor uns haben. Doch ein erster Schritt ist getan: Zum ersten Mal seit Jahren nimmt die Arbeitslosigkeit nicht wesentlich weiter zu, vielmehr stellt sich - wenn auch langsam - Besserung ein.

Es ist meine feste Überzeugung: Für 1984 ist Zuversicht angebracht.

Die Produktion steigt, die Kapazitäten unserer Wirtschaft sind besser ausgelastet - und es gibt wieder steigende Aufträge für unsere Industrie aus dem Inland und, was besonders wichtig ist, auch aus dem Ausland.

Die Neuverschuldung des Staates geht zurück, die Preissteigerungsrate ebenfalls.

Wir spüren: Wir sind auf dem richtigen Weg.

Die wirtschaftlichen Prognosen für das neue Jahr sind so günstig wie schon lange nicht mehr. Noch wichtiger aber als alle nüchternen Daten, die zum Optimismus berechtigen, ist das spürbar wachsende Vertrauen in die Zukunft.

Ich weiß, daß die Regierung die Pflicht hat, die richtigen Rahmenbedingungen für die Entfaltung der wirtschaftlichen Kräfte zu schaffen.

Ich weiß aber auch, daß unsere Wirtschaft dauerhaft Dynamik nur entfalten wird, wenn wir alle mit Zuversicht nach vorne blicken.

In unserer freien Gesellschaft ist es nicht der Staat, es ist immer der einzelne, der mit seiner Arbeit, mit seinem Pflichtbewußtsein, mit seiner Menschlichkeit und seiner Bereitschaft zum Dienst am Nächsten über die Zukunft unseres Landes und über sein persönliches Glück selbst entscheidet.

Wir Deutschen haben allen Grund, auf unsere Leistungsfähigkeit und auf unsere moralische Kraft zu vertrauen. Mit unserer Freude am Entdecken und Erfinden, am Erforschen und Entwickeln, mit unseren Talenten und unserer technischen Begabung haben wir die Welt von heute entscheidend mitgeprägt.

Wir haben unsere Erfolge erreicht durch Unternehmungsgeist, durch Tüchtigkeit, Fleiß, Zuverlässigkeit und Geduld unserer Bürger, nicht durch Pläne eines allgegenwärtigen, alles lenkenden Staates.

Deshalb setzen wir - und setze ich - auf die Erneuerung der Sozialen Marktwirtschaft. Wir werden bürokratische Schranken abbauen und dazu beitragen, möglichst vielen die Gründung einer eigenen Existenz zu ermöglichen.

Wir werden auch darauf hinwirken, daß sich Bildung und Ausbildung künftig wieder stärker an den Herausforderungen orientieren, die unser Land im Wettbewerb der Welt bestehen muß. Wohlstand und politische Stabilität können nur durch Leistungen, besonders durch wirtschaftliche und wissenschaftliche Höchstleistungen, gesichert werden.

Ziel dieser Politik, meine lieben Mitbürgerinnen und Mitbürger, ist nicht einfach die Erreichung eines möglichst hohen materiellen Lebensstandards. Das wäre zu wenig. Wir handeln auch in der moralischen Verantwortung für die kommenden, für die nächsten Generationen.

In der Bundesrepublik Deutschland werden heute weniger Kinder geboren als in jedem anderen Land der Erde. Meine Regierung wird alles tun, damit unser Land wieder ein kinderfreundliches Land wird.

Aber was Politik in dieser Hinsicht vermag, ist nicht das Wesentliche. Die Entscheidung zum Kind setzt nicht nur das Ja zur eigenen Existenz voraus, sondern wird auch zur lebendigen Hoffnung auf Zukunft unseres Volkes.

Ich bin überzeugt, daß unser Volk auch die Herausforderungen der kommenden Jahre und Jahrzehnte bestehen wird. Die Bundesrepublik Deutschland wird unter den Nationen dieser Welt den ihr gebührenden Platz einnehmen:

Als ein Land mit einer gesicherten sozialen Ordnung, als ein Land, das ein verläßlicher Freund und Partner ist, als ein Land, für das Frieden und Freiheit höchste Güter sind.

Ich grüße unsere Landsleute im anderen Teil Deutschlands, in der DDR, und ich wünsche uns allen, liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, Gottes Segen und ein friedvolles glückliches Jahr 1984.

 

Quelle: Bundeskanzler Helmut Kohl: Reden 1982-1984. Hg. vom Presse- und Informationsamt der Bundesregierung. Bonn 1984, S. 312-317.