31. Dezember 1990

Fernseh- und Hörfunkansprache anlässlich des Jahreswechsels

 

Liebe Landsleute!

Das Jahr 1990 wird uns als eines der glücklichsten in der deutschen Geschichte in Erinnerung bleiben. In freier Selbstbestimmung haben wir Deutschen die staatliche Einheit unseres Vaterlands vollenden können - ohne Gewalt und Blutvergießen, in vollem Einvernehmen mit allen unseren Nachbarn. Ein Traum ist in Erfüllung gegangen. Wer hatte vor einem Jahr gedacht, dass wir heute in einem vereinten Deutschland den Silvesterabend gemeinsam feiern könnten? Wir haben allen Grund, uns darüber von Herzen zu freuen.
Wir wollen nicht vergessen, wem wir dies zu verdanken haben. Viele haben dazu beigetragen - im In- und Ausland. Ich nenne vor allem die Menschen in der ehemaligen DDR. Sie haben mit ihrer Freiheitsliebe, mit Mut und Besonnenheit uns allen ein Beispiel gegeben, auf das wir stolz sein dürfen.
Wir stehen jetzt vor Herausforderungen, die keinen Aufschub dulden. Alle Deutschen sollen die gleiche Chance erhalten, die Früchte unserer gemeinsamen Freiheit zu genießen - Frieden im Innern und nach außen, Wohlstand, soziale Sicherheit und eine gesunde Umwelt.
Die Väter und Mütter unseres Grundgesetzes trugen uns auf, für die Wiedervereinigung Deutschlands zu arbeiten und die politische Einigung Europas herbeizuführen. Der erste Auftrag ist erfüllt. Jetzt gehen wir mit aller Kraft an die Aufgabe, das vereinte Europa zu schaffen. Unsere Fähigkeit zur Solidarität, unsere Bereitschaft zur Verantwortung in der Welt - das alles muss sich zuallererst im Innern unseres Vaterlands bewähren. Ein bekanntes Sprichwort sagt, dass Nächstenliebe zu Hause beginnt.
Wir Deutschen diesseits und jenseits von Elbe und Werra müssen bereit sein, mit Verständnis aufeinander zuzugehen. Stellung und Ansehen eines Landes bemessen sich nicht bloß nach seiner Wirtschaftskraft, nach der Härte seiner Währung oder nach dem Umfang seiner Exporte. Entscheidend ist vielmehr, ob wir untereinander eine Kultur der Mitmenschlichkeit entwickeln: Sind wir bereit, unserem kranken oder behinderten Nachbarn zu helfen? Nehmen wir Rücksicht auf die Bedürfnisse älterer Menschen? Betrachten wir Kinder nur als eine Last - oder bedeuten sie uns Freude und Zukunft? Wie gehen wir mit unseren ausländischen Mitbürgern um? Unsere Gesellschaft beweist ihre Menschlichkeit, indem viele ihren Dienst am Nächsten leisten, indem viele für andere da sind - und nicht nur jeder für sich selbst.
Natürlich bleiben die wirtschaftlichen Grundlagen unseres Wohlergehens von herausragender Bedeutung. Auf diesem Fundament wollen wir während der kommenden Jahre möglichst einheitliche Lebensverhältnisse in ganz Deutschland schaffen.
In der bisherigen Bundesrepublik gehen wir bereits in das neunte Jahr einer ununterbrochenen wirtschaftlichen Aufwärtsentwicklung -und wir verzeichnen dort eine Zunahme der Beschäftigung, die sogar stärker ist als in der Aufbauzeit nach 1948.
In den neuen Bundesländern sind die Menschen genauso fleißig und leistungsbereit wie im Westen. Sie nutzen jetzt die Chance, sich eine gute Zukunft zu erarbeiten. Aber es gibt dort auch Ängste, die ich sehr ernst nehme. Viele bangen um ihren Arbeitsplatz.
Wir stehen mitten in einer schwierigen Übergangszeit. Niemand kann erwarten, dass sich die Folgen von über vierzig Jahren sozialistisch-kommunistischer Misswirtschaft in wenigen Monaten überwinden lassen. Aber wir haben die Kraft und die Möglichkeiten, es gemeinsam zu schaffen. Dank einer erfolgreichen Wirtschaftspolitik im Westen unseres Vaterlands sind wir in der Lage, den Menschen in den neuen Bundesländern zur Seite zu stehen. Alle Anzeichen sprechen dafür, dass es im Laufe des neuen Jahres dort aufwärtsgehen wird. Der Anfang ist gemacht.
In unserem Land kreuzen sich die Wege vom Norden in den Süden, vom Westen in den Osten Europas. Die Bürger von Kiel und Frankfurt an der Oder, von Freiburg im Breisgau oder Leipzig blicken über Grenzen hinweg zu unseren Nachbarn. Diese Grenzen verlieren - Gott sei Dank - mehr und mehr ihren trennenden Charakter. Es gibt freilich die Sorge, das Wohlstandsgefälle zwischen Ost und West könne zu neuen Barrieren fuhren. Auch diese Befürchtungen nehme ich sehr ernst. Eine solche Entwicklung dürfen wir nicht zulassen. Gerade uns Deutschen kann nicht gleichgültig sein, was um uns herum geschieht. Wir werden unmittelbar davon berührt - ob wir wollen oder nicht. Wir müssen daher im Rahmen unserer Möglichkeiten dazu beitragen, dass freiheitliche Demokratie, Rechtsstaat und Marktwirtschaft in Mittel-, Ost- und Südosteuropa dauerhaft verankert werden.
Wir selbst hätten nur Vorteile von solchen Fortschritten. Denn politische und wirtschaftliche Stabilität auf unserem europäischen Kontinent ist die beste Garantie für einen dauerhaften Frieden in Freiheit. Niemand hat daran ein größeres Interesse als wir Deutschen im Herzen Europas.
Und deshalb wollen wir auch, dass die von Präsident Gorbatschow eingeleiteten Reformen in der Sowjetunion erfolgreich sind. Sie, liebe Landsleute, haben angesichts der schwierigen Lage in der Sowjetunion große Hilfsbereitschaft gezeigt. Dafür danke ich Ihnen sehr herzlich. Auch millionenfache Beweise der Solidarität mit den hungernden Menschen in der Dritten Welt zeigen, dass der Wohlstand unsere Herzen keineswegs erkalten lässt. Mein Dank gilt vor allem jenen, die sich hier besonders engagieren: den Kirchen, den Hilfsorganisationen - und natürlich ungezählten Mitbürgerinnen und Mitbürgern. Ihr Beispiel ist Ansporn für einen jeden von uns, nicht nachzulassen im friedlichen Kampf für eine Welt ohne Furcht und Not.
Die Ereignisse des vergangenen Jahres in Europa haben gezeigt, dass die Menschheitshoffnung auf eine friedliche Welt sich erfüllen kann. Denn wir wurden Zeugen eines Wandels, auf den viele schon nicht mehr zu hoffen gewagt hatten: Wir sind herausgetreten aus dem Schatten des Ost-West-Konflikts. Der Friede auf unserem Kontinent ist sicherer geworden - und das mit weniger Waffen.
Aber außerhalb Europas gibt es Anlass zur Sorge um die Bewahrung des Friedens. Ich denke vor allem an die Aggression des Irak am Golf. Wir alle hoffen, dass das solidarische Handeln der Völkergemeinschaft es ermöglicht, einen Krieg zu verhindern und das Recht auf friedlichem Wege wiederherzustellen.
Angesichts solcher Herausforderungen ist es um so dringlicher, dass sich Europa immer enger zusammenschließt. Die Wiedervereinigung Deutschlands hat den Bemühungen um ein vereintes Europa einen kräftigen Impuls gegeben. Es ist mein Wunsch, dass die Mitglied-Staaten der Gemeinschaft in den neunziger Jahren den Grundstein für die Vereinigten Staaten von Europa legen. Mitte Dezember haben die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Gemeinschaft hierzu in Rom wegweisende Beschlüsse gefasst. Bei alledem sind wir uns bewusst, dass Europa nicht an den gegenwärtigen Grenzen der EG aufhört.
Liebe Landsleute, am heutigen Abend blicken wir mit großer Dankbarkeit auf das zu Ende gehende Jahr zurück. Wir schauen voller Hoffnung in eine gute Zukunft für uns und unsere Kinder. Die jungen Menschen in Deutschland und Europa haben heute die Chance, die kaum je eine Generation vor ihnen gehabt hat: die Chance auf ein ganzes Leben in Frieden und Freiheit. Arbeiten wir gemeinsam für dieses große Ziel! [...]

Quelle: Bulletin des Presse- und Informationsamts der Bundesregierung Nr. 1 (2. Januar 1991).