31. Dezember 1995

Neujahrsansprache über die Deutsche Welle

 

Liebe Landsleute im Ausland,

liebe Freunde Deutschlands in der Welt,

zum bevorstehenden Jahreswechsel sende ich Ihnen aus der Heimat meine herzlichen Grüße und meine guten Wünsche.

In diesem Jahr haben wir uns an das Ende des Zweiten Weltkrieges vor 50 Jahren erinnert. Im Rückblick auf diese fünf Jahrzehnte können wir ermessen, welch Glück es ist, frei von Krieg und Not in einem vereinten Deutschland zu leben. Wir haben allen Grund zur Dankbarkeit. Dies habe ich auch bei zwei wichtigen Besuchen in den Niederlanden und in Polen so empfunden. In beiden Ländern war deutlich zu spüren, daß die wichtigste Lehre aus der Vergangenheit die Arbeit an einer gemeinsamen europäischen Zukunft ist.

Wir brauchen Europa, um Frieden und Freiheit heute und im 21. Jahrhundert zu bewahren. Wir brauchen Europa, damit unser gemeinsames Wort in der Welt Gewicht hat. Und wir brauchen Europa, um auf den Weltmärkten konkurrenzfähig zu bleiben.

Liebe Landsleute, vor drei Monaten haben wir den fünften Jahrestag der Deutschen Einheit begangen. Wir sind weit vorangekommen auf dem Weg zur wirtschaftlichen und sozialen Einheit. Vieles hat sich zum Guten verändert - in Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern, in Sachsen, Thüringen und Sachsen-Anhalt. Wer von Ihnen in diesem Jahr in der Heimat war und bei dieser Gelegenheit die neuen Bundesländer besuchte, der hat den enormen Wandel mit eigenen Augen erleben können,

Trotz aller Schwierigkeiten werden die Wunden von 40 Jahren Trennung heilen. Dafür brauchen wir vor allem Geduld miteinander. Nicht alle Erwartungen haben sich 1995 in unserem Lande erfüllt. Doch viele unserer Nachbarn in Europa, viele Länder in anderen Teilen der Welt blicken mit Achtung auf Deutschland. Sie bewundern unsere wirtschaftliche und politische Stabilität.

Liebe Landsleute, auch im zu Ende gehenden Jahr haben viele Menschen in der Welt unter Krieg leiden müssen. Viele haben Not, Elend und den Verlust der Heimat erfahren. Es gab und gibt aber auch in diesem Jahr Zeichen ermutigender Entwicklungen. So habe ich bei meiner Reise in den Nahen Osten sehen können, wie ein großes Friedenswerk Früchte zu tragen beginnt. Im südlichen Afrika konnte ich mich davon überzeugen, daß Bereitschaft zum Dialog und Wille zur Verständigung der Gerechtigkeit den Weg bahnen können. Noch vor wenigen Jahren erschien dieser Wandel unerreichbar.

Nach viereinhalb Jahren Krieg leuchtet endlich das Licht der Hoffnung für die leidgeprüften Menschen im ehemaligen Jugoslawien. Vor zwei Wochen wurde in Paris ein Friedensabkommen unterzeichnet. Wir alle hoffen, daß aus dem beschlossenen Frieden jetzt ein gelobter Friede für die Menschen erwächst. Viele Deutsche haben durch persönliche Hilfe versucht, die Not der Menschen im Kriegsgebiet zu lindem. Dafür bin ich dankbar.

Ich grüße sehr herzlich unsere Soldaten der Bundeswehr. Ihr Einsatz für Bosnien-Herzegowina ist wichtig, ist ein Dienst am Frieden. Meine guten, meine herzlichen Wünsche gelten ihnen und ihren Familien!

Liebe Landsleute, Frieden und Freiheit sind auch für uns Deutsche nicht zum Nulltarif zu haben. Wir müssen unseren eigenen Beitrag dazu leisten. Deshalb brauchen wir auch künftig die NATO als handlungsfähiges Bündnis mit unseren europäischen, mit unseren amerikanischen Freunden.

Wir Deutschen wollen im Geiste der Partnerschaft und der Weltoffenheit unseren Beitrag zur friedlichen Zukunft leisten. Dies war auch meine Botschaft bei meiner Asienreise vor wenigen Wochen. Wir werden weiterhin für einen freien Welthandel eintreten und mit unseren Partnern und Freunden in der Welt enge Zusammenarbeit pflegen und - wo immer möglich - ausbauen. Ich lege dabei besonderen Wert auch auf die kulturellen Beziehungen.

Sie, liebe Landsleute, erfüllen in all diesen Bereichen eine wichtige Aufgabe - an welchem Platz auch immer Sie stehen, in welchem Land auch immer Sie leben und arbeiten. Jeder von Ihnen ist ein Botschafter unseres Landes! Sie helfen Brücken zu den anderen Völkern und Kulturen dieser Welt zu bauen. Deutschland hat an Ansehen gewonnen. Allen, die dazu beigetragen haben, sei herzlich Dank gesagt.

Ihnen, meine lieben Landsleute im Ausland, gilt mein ganz herzlicher Gruß:

  • den deutschen Kirchengemeinden in aller Welt;
  • den Soldaten der Bundeswehr, die im Ausland Dienst tun;
  • den Angehörigen des Auswärtigen Dienstes und unseren Entwicklungshelfern;
  • den Mitarbeitern deutscher Firmen und denjenigen, die im Bereich der Wissenschaft und der Kultur tätig sind;
  • den Seeleuten, insbesondere denen, die sich heute auf hoher See befinden;
  • den Mitarbeitern und Korrespondenten von Presse, Funk und Fernsehen in aller Welt.

Mein ganz besonderer Gruß gilt allen Angehörigen deutscher Volksgruppen, denen wir uns eng verbunden fühlen.

Ihnen, Ihren Familienangehörigen und uns allen wünsche ich ein friedvolles und gesegnetes Jahr 1996.

Quelle: Bulletin der Bundesregierung. Nr. 1. 2. Januar 1996.