31. Dezember 1995

Neujahrsansprache im Deutschen Fernsehen

 

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,

das Jahr 1995 geht seinem Ende zu. Wie viele von Ihnen denke auch ich an diesem Abend an Ereignisse der vergangenen zwölf Monate. Vieles ist gut gelungen, aber nicht alles. Nachdenklich schauen wir zurück, doch die Zukunft gewinnen wir nur mit Zuversicht.

Jeder von uns spürt, daß sich tiefgreifend und rasch die Dinge verändern - in der Welt, in Europa und in Deutschland. Alte Gewißheiten müssen überprüft, neue Antworten auf die Herausforderungen unserer Zeit gefunden werden. Das ist nicht einfach. Doch am Umdenken führt kein Weg vorbei!

Der wirtschaftliche Aufschwung geht weiter. Wahr ist aber auch, daß wir im Bereich der Beschäftigung noch keinen Durchbruch erzielt haben. Unsere Hauptsorge gilt daher dem Kampf gegen die Arbeitslosigkeit. Wir müssen uns anstrengen, um bestehende Arbeitsplätze zu erhalten. Und wir müssen uns anstrengen, um neue, zukunftssichere Arbeitsplätze zu scharfen.

Für den Beginn des neuen Jahres bereitet die Bundesregierung ein Aktionsprogramm für mehr Wachstum und Beschäftigung vor. Ich werde mich intensiv dafür einsetzen, daß wir hier vorankommen. Neue Beschäftigungsmöglichkeiten sind das wichtigste Thema auch meiner Gespräche mit Spitzenvertretern von Arbeitgebern und Gewerkschaften. Ich bin dankbar, daß beide jetzt zusammen mit der Politik neue Wege suchen.

Wir gewinnen die Zukunft nur, wenn wir gemeinsame Antworten auf die uns bedrängenden Fragen finden. Jeder vernünftige Vorschlag, jede weiterführende Initiative soll geprüft und nicht von vornherein abgelehnt oder gar zerredet werden. Es darf keine Vorbehalte geben!

Neue, zusätzliche Arbeitsplätze entstehen kaum noch im öffentlichen Dienst, denn wir wollen ja den Abbau von Bürokratie. Auch bei unseren international tätigen Großunternehmen können wir in absehbarer Zeit nicht mit einer wachsenden Zahl neuer Arbeitsplätze rechnen. Es ist vor allem der selbständige Mittelstand, der in Deutschland Arbeitsplätze schafft - und schaffen, muß. Jeder, der bei uns einen neuen Betrieb gründet, gibt im Durchschnitt vier weiteren Menschen Arbeit und Brot.

Wir brauchen in Deutschland eine neue Aufbruchstimmung zur Gründung von Betrieben. Wir brauchen Männer und Frauen, die sich etwas zutrauen, die ihre Ideen umsetzen. Wir brauchen Mut zur Selbständigkeit! Dafür müssen wir zusätzliche Freiräume schaffen.

Wer sein Schicksal in die eigene Hand nimmt, kann anderen um so wirksamer helfen. So möchte ich heute abend all jenen besonders danken, die Dienst am Nächsten leisten - die für andere da sind und nicht nur für sich selbst sorgen. Wenn wir uns als Volk im alltäglichen Miteinander bewähren, dienen wir dem Frieden und der Gerechtigkeit in der Welt.

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, nach viereinhalb Jahren Krieg leuchtet endlich das Licht der Hoffnung für die leidgeprüften Menschen im ehemaligen Jugoslawien. Vor zwei Wochen wurde in Paris ein Friedensabkommen unterzeichnet. Wir alle hoffen, daß aus dem beschlossenen Frieden jetzt ein gelebter Friede für die Menschen erwächst. Viele von Ihnen haben durch persönliche Hilfe versucht, die Not der Menschen im Kriegsgebiet zu lindem. Dafür danke ich Ihnen.

Ich grüße an diesem Abend besonders herzlich unsere Soldaten der Bundeswehr. Ihr Einsatz für Bosnien-Herzegowina ist wichtig, ist ein Dienst am Frieden. Meine guten, meine herzlichen Wünsche gelten ihnen und ihren Familien!

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, in diesem Jahr haben wir uns an das Ende des Zweiten Weltkrieges vor 50 Jahren erinnert. Im Rückblick können wir ermessen, welch Glück es ist, frei von Krieg und Not in einem vereinten Vaterland zu leben. Wir haben allen Grund zur Dankbarkeit. Dies habe ich auch bei zwei wichtigen Besuchen in den Niederlanden und in Polen so empfunden. In beiden Ländern war deutlich zu spüren, daß die wichtigste Lehre aus der Vergangenheit die Arbeit an einer gemeinsamen europäischen Zukunft ist

Vor drei Monaten haben wir den fünften Jahrestag der Deutschen Einheit begangen. Wir sind weit vorangekommen auf dem Weg zur wirtschaftlichen und sozialen Einheit. Aber nicht alle Erwartungen haben sich 1995 in unserem Lande erfüllt. Doch viele unserer Nachbarn in Europa, viele Länder in anderen Teilen der Welt blicken mit Achtung auf Deutschland. Sie bewundern unsere wirtschaftliche, unsere politische Stabilität. Allen, die dazu beigetragen haben, sei Dank gesagt. Deutschland hat an Ansehen gewonnen.

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, das vereinte Europa bleibt unser Ziel. Wir brauchen Europa, um Frieden und Freiheit heute und im 21. Jahrhundert zu bewahren. Wir brauchen Europa, damit unser gemeinsames Wort in der Welt Gewicht hat. Und wir brauchen Europa, um auf den Weltmärkten konkurrenzfähig zu bleiben.

Liebe Landsleute, wir wollen auf das Jahr 1996 zugehen mit Mut und Gelassenheit, mit innerer Kraft und Geduld. In dieser Gesinnung sind die schwierigen Aufgaben des Lebens zu meistern. Ich wünsche uns allen ein gutes neues Jahr! Gott segne unser deutsches Vaterland!

Quelle: Bulletin der Bundesregierung. Nr. 1. 2. Januar 1996.