31. Dezember 1996

Neujahrsansprache im Deutschen Fernsehen

 

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,

wir stehen an der Schwelle des neuen Jahres. An diesem Abend erinnern wir uns an Schönes und Gutes, das wir erlebt haben, und an manche schwierigen Augenblicke und Erfahrungen. Jeder von uns braucht Zeiten der Stille, um Abstand zu gewinnen und neue Kraft zu schöpfen.

Unser Land steht vor großen Herausforderungen. Der internationale Wettbewerb ist härter geworden. Es gelten heute andere Regeln, als wir sie jahrzehntelang gewohnt waren. Darauf müssen wir uns einstellen und umdenken. Wir sind eine der großen Exportnationen und wollen es bleiben. Millionen von Arbeitsplätzen bei uns hängen davon ab. Wir werden unseren Platz behaupten, wenn wir die notwendigen Veränderungen vornehmen.

Die Globalisierung der Wirtschaft, die dramatischen Veränderungen im Altersaufbau unserer Bevölkerung und die ökologischen Aufgaben unserer Zeit sind Tatsachen. Wir Deutschen können nicht einfach weitermachen wie bisher. Wer dies versucht, verspielt unsere Zukunft. Die meisten von uns spüren und wissen, daß es darum geht, die Weichen für die Zukunft unseres Volkes richtig zu stellen.

Der wirtschaftliche Aufschwung muß beschleunigt werden, damit Arbeitsplätze gesichert und neue geschaffen werden können. Wir alle - Gewerkschaften, Arbeitgeber und Politik - dürfen nicht nur an die Beschäftigten denken. Wir müssen auch für jene handeln, die einen Arbeitsplatz suchen und heute arbeitslos sind. Wir brauchen sie mit ihren Fähigkeiten.

Der Sozialstaat muß umgebaut werden, damit er auf Dauer finanzierbar und erhalten bleibt. Seine Leistungen müssen den wirklich Bedürftigen zugute kommen. Ein Blick über die Grenzen zeigt, daß alle wichtigen Nachbarländer gezwungen sind, vergleichbare Wege zu gehen - zum Beispiel Frankreich, die Niederlande, Schweden.

Deutschland wird auch in Zukunft ein wohlhabendes Land bleiben, wenn wir uns alle richtig verhalten. Dazu gehört auch Sparen. Wir sparen, um unserem Land und kommenden Generationen eine gute Zukunft zu ermöglichen.

Meine Damen und Herren, drei Jahre vor dem Beginn eines neuen Jahrhunderts stehen wir an einer Weggabelung. Da ist es hilfreich, sich zu erinnern, was unsere Väter und Mütter in schwierigen Situationen getan haben. Sie entschieden sich für die Soziale Marktwirtschaft. Ohne sie hätte es die Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland nicht gegeben. Die Soziale Marktwirtschaft eröffnet Freiräume für den einzelnen. Ihr Erfolg erfordert Menschlichkeit, Solidarität und Gemeinsinn. Dieses bewährte Gesellschaftssystem ist flexibel und kann sich auf die veränderten Realitäten einstellen.

Wir brauchen wieder mehr Eigenverantwortung und Eigeninitiative. Die Große Steuerreform soll diesem Anliegen dienen. Der Steuertarif wird deutlich gesenkt. Wir wollen echte und spürbare Netto-Entlastungen für die Bürger. Im Gegenzug werden wir steuerliche Ausnahmen streichen und Schlupflöcher schließen. So wird das Steuersystem gerechter und einfacher.

Wir werden auch bei den Renten feste, verläßliche Grundlagen für die Zukunft schaffen. Die Renten der älteren Generationen sind sicher und müssen sicher bleiben. Aber auch die Jüngeren haben einen Anspruch darauf, daß wir unser Rentensystem so gestalten, daß ihr Leben im Alter gesichert ist.

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, wir Deutschen sind in der Lage, die großen wirtschaftlichen und sozialen Schwierigkeiten unserer Zeit zu meistern. Davon bin ich fest überzeugt, weil unser Volk dies in seiner Geschichte sich selbst bewiesen hat. Die materiellen Voraussetzungen sind gegeben oder lassen sich herstellen. Dies genügt jedoch nicht. Es ist von entscheidender Bedeutung, daß unsere Werteordnung stimmt. Es gibt ungeschriebene Gesetze. Sie sind für das gedeihliche Zusammenleben der Menschen mindestens ebenso wichtig wie das geschriebene Recht. In allen Weltreligionen gilt: Wir sollen uns unserem Nächsten gegenüber so verhalten, wie wir es von ihm erwarten.

Wertmaßstäbe gehen nicht über Nacht und nicht von ungefähr verloren. Eine Gesellschaft ohne moralischen Grundkonsens hat keine Zukunft. Wir müssen darauf vertrauen können, daß wir uns über grundlegende Werte einig sind. Ich möchte heute abend all jenen danken, die sich für ihren Nächsten und das Wohl unseres Landes besonders einsetzen. Ohne sie wären unsere Familien, unsere Gesellschaft und unser Staat ärmer.

Ich denke an die Mütter und Väter, die sich um ihre Kinder kümmern - aber auch an die Kinder, die sich um ihre Eltern kümmern. Ich denke an die vielen ehrenamtlich Tätigen. Ich denke an die Polizeibeamten. Ich denke an die Soldaten unserer Bundeswehr. Ich denke an die Zivildienstleistenden. Unsere Soldaten sichern gemeinsam mit Soldaten anderer Länder in Bosnien den Frieden.

Ihnen allen und ihren Familien gelten meine herzlichen Wünsche und mein Dank.

Liebe Landsleute, alle Anstrengungen, die wir in unserem Lande unternehmen, wären umsonst, wenn der Frieden nicht gesichert wäre. Die beste Garantie dafür ist ein geeintes Europa. Wir werden gemeinsam mit unseren Partnern das Notwendige tun, damit der Bau des Hauses Europa weiter vorankommt und vollendet wird.

Wir sind auf einem guten Weg, bei uns zu Hause in Deutschland und in Europa. Mit Mut und Zuversicht wollen wir in das neue Jahr gehen. Es soll für uns alle ein gutes Jahr 1997 werden. Das ist mein Wunsch für Sie am heutigen Abend. Gott segne unser deutsches Vaterland.

Quelle: Bulletin der Bundesregierung. Nr. 1. 2. Januar 1997.