31. Juli 1988

Ansprache zur Eröffnung der 24. Internationalen Konferenz für Soziale Wohlfahrt in Berlin

 

Sie werden sich, meine Damen und Herren, in den kommenden Tagen mit dem Thema „Recht - soziale Wohlfahrt - soziale Entwicklung" befassen. Allein diese Formulierung macht deutlich, dass es Ihnen nicht einfach um organisatorische Probleme der sozialen Wohlfahrt geht, sondern in erster Linie um die Grundsätze und Rahmenbedingungen des Einsatzes für mehr soziale Gerechtigkeit, also um Fragen von eminent politischer Bedeutung.

Vor allem die Verknüpfung der Begriffe „Recht" und „soziale Wohlfahrt" macht deutlich, dass heute weltweit Einigkeit über einen wichtigen Punkt besteht - jedenfalls in der Theorie: Soziale Sicherheit und Wohlfahrt sind nicht Almosen, die beliebig gewährt oder versagt werden können. Vielmehr hat jeder Mensch Anspruch darauf, „durch innerstaatliche Maßnahmen und internationale Zusammenarbeit... in den Genuss der für seine Würde und die freie Entwicklung seiner Persönlichkeit unentbehrlichen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte zu gelangen"; so formuliert es die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948.

Die Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen jährt sich gegen Ende dieses Jahres zum 40. Male. Im Rückblick müssen wir feststellen, dass manche Hoffnung, die an dieses Dokument geknüpft wurde, sich nicht erfüllt hat und zum Teil sogar bitter enttäuscht wurde. Dies sollte freilich nicht Grund zur Resignation sein. Es muss uns vielmehr anspornen, in unserem Engagement für die bürgerlichen und politischen sowie für die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte des Menschen nicht nachzulassen.

Die Menschenrechtserklärung der Vereinten Nationen spricht in ihrer Präambel davon, dass die „Anerkennung" der unveräußerlichen Rechte des Menschen „die Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt bildet". Und sie entwirft eine Vision vom freien Menschen, zu der auch die Freiheit „von Furcht und Not" gehört. In diesen Worten sind drei Kernaussagen enthalten:

Erstens: „Anerkennung" der unveräußerlichen Menschenrechte bedeutet, dass die Würde des Menschen nicht erst durch einen Akt staatlichen Ermessens begründet wird. Vielmehr ist sie aller staatlichen Gewalt vorgegeben und setzt ihr Grenzen, die unter keinen Umständen überschritten werden dürfen.

Zweitens: Die Achtung der unbedingten und absoluten Würde des einzelnen Menschen in allen Bereichen seines Lebens ist eine grundlegende Voraussetzung des Friedens.

Dies ist eine Botschaft von großer Aktualität. Denn sie besagt, dass ein sicherer und dauerhafter Friede nie allein das Werk von Rüstungskontrolle und Abrüstung sein wird:

- Es geht immer auch um den Abbau von Misstrauen und die Herstellung von Vertrauen; doch kann Vertrauen nur dort entstehen, wo die grundlegenden Rechte der Menschen und Völker geachtet werden.

  • ist entscheidend, dass Menschen und Völker in Freiheit zusammenkommen können.
  • Frieden, soziale Wohlfahrt und soziale Entwicklung gehören zusammen; Krieg bedeutet immer auch Hunger, Krankheit, Obdachlosigkeit, soziales Elend.

Drittens: Jeder Mensch braucht die Respektierung seiner Würde und die Achtung seiner Freiheit wie die Luft zum Atmen, wie das tägliche Brot. Es gibt keinerlei Rechtfertigung, um wirtschaftlicher Ziele willen den Menschen ihre bürgerlichen und politischen Rechte - und sei es auch nur vorübergehend - zu verweigern. Im Gegenteil: Auch Wirtschafts- und Sozialpolitik müssen die Würde des Menschen und die freie Entwicklung seiner Persönlichkeit in den Mittelpunkt stellen.

Zur Freiheit „von Furcht und Not" gehört beides: eine gesicherte Existenz und der Genuss bürgerlicher und politischer Freiheiten. Um den Hunger zu bekämpfen, ist es beispielsweise nicht erforderlich, die Freiheit des Gewissens oder des religiösen Bekenntnisses aufzuheben, Die historische Erfahrung lehrt, dass das Gegenteil richtig ist: Nur wo Freiheit herrscht, ist auch sozialer Fortschritt möglich.

Dieser enge Zusammenhang von Freiheit und sozialem Fortschritt lässt sich vielfach belegen anhand der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, die - zusammen mit ihrer Verfassung, dem Grundgesetz, - im kommenden Jahr 40 Jahre alt wird. Jedes Land muss seinen eigenen Weg der sozialen Entwicklung gehen. Gestatten Sie mir aber, im Blick auf die Erfahrungen meines Landes einige Hinweise zu geben:

Der demokratische Rechtsstaat brachte uns den inneren Frieden, der zur Entfaltung aller schöpferischen Kräfte notwendig war. Die Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung der Sozialen Marktwirtschaft schuf stabile Grundlagen für unsere soziale Sicherheit; dies wiederum erhöhte die Stabilität des demokratischen Rechtsstaats.

Die Soziale Marktwirtschaft als gesellschaftspolitisches Leitbild schafft die Grundlage dafür, dass Freiheit und Selbstverantwortung in Solidarität mit dem Nächsten und in Übereinstimmung mit dem Gemeinwohl gelebt und dass das wirtschaftlich und das sozial Erstrebenswerte in Übereinstimmung gebracht werden können.

Politik im Zeichen der Sozialen Marktwirtschaft sieht Wirtschafts- und Sozialpolitik als Einheit. Beide begrenzen und ergänzen einander: Eine Wirtschaftspolitik ohne soziale Gerechtigkeit gefährdet den sozialen Frieden und führt so zu volkswirtschaftlichen Verlusten. Eine Sozialpolitik ohne Rücksicht auf wirtschaftliche Leistungsfähigkeit beraubt sich selbst ihrer Finanzierungsquellen.

Die Bemühungen der deutschen Gesetzgebung um ein System der sozialen Sicherheit begannen in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts. Unser heutiges System der sozialen Sicherheit ist nicht das Ergebnis eines einzigen Gesetzgebungsakts. Und daraus resultieren, wie ich meine, auch seine Stärken: Vielfalt, Bürgernähe und Leistungsfähigkeit, Dynamik und Offenheit für die Zukunft.

Für die Sozialarbeit und die sozialen Hilfen ist die Zusammenarbeit der staatlichen und kommunalen Stellen und der gesellschaftlichen Kräfte von besonderer Bedeutung. Ein wichtiger Grundsatz unserer Sozial- und Gesellschaftspolitik ist das Subsidiaritätsprinzip: Was kleinere gesellschaftliche Einheiten regeln können, soll nicht größeren Organisationen übertragen werden. Und was freie und private Einrichtungen leisten können, soll nicht allein staatlichen Stellen überlassen bleiben.

Subsidiarität bedeutet auch Wahlfreiheit für den Leistungsempfänger und Pluralität des sozialen Angebots. So kann etwa ein Hilfsbedürftiger einen kirchlichen Träger einer staatlichen Einrichtung vorziehen, wenn er von Diakonie oder Caritas ein für sich sinnvolleres Angebot erwartet.

In den Gemeinden und in den Bundesländern arbeiten die Freien Wohlfahrtsverbände, die neuen Selbsthilfeorganisationen und die öffentliche Hand eng zusammen. Diese Partnerschaft muss und soll gepflegt und weiter ausgebaut werden. Gerade die Wohlfahrtsverbände haben viele Impulse für menschenwürdige Sozialarbeit gegeben und die Hilfe zur Selbsthilfe gefördert. Ohne ihre Einrichtungen und Dienste für viele Menschen hätten unsere staatlichen Anstrengungen oft viel weniger Erfolg.

Ein reißfestes, vom Staat gesichertes soziales Netz bleibt unverzichtbar für die soziale Sicherheit; nicht weniger wichtig ist jedoch die mitmenschliche Solidarität. Deshalb sehen wir in der Hilfe zur Selbsthilfe eine zentrale Aufgabe der Sozialpolitik. Millionen Mitbürgerinnen und Mitbürger sind bei uns ehrenamtlich tätig. Ohne ihr Engagement ginge unserem Land viel an menschlicher Wärme, an humaner Qualität verloren. Die von mir geführte Bundesregierung hat deshalb die ehrenamtlichen sozialen Dienste verstärkt angeregt, unterstützt und gefördert. Wir wollen und brauchen in der Bundesrepublik Deutschland auch weiterhin eine Kultur der Nachbarschaft, den Geist freiheitlichen und sozialen Bürgersinns.

Sozialpolitik und die Sozialarbeit müssen innovativ bleiben, um auf neue Entwicklungen zu reagieren. Die Sozial- und Gesellschaftspolitik steht weltweit vor großen Herausforderungen. In den einzelnen Ländern sind diese Herausforderungen von ganz unterschiedlicher Art und Dimension - ich erwähne hier nur das Thema „demographische Entwicklung":

Für die Bundesrepublik Deutschland stellen Geburtenrückgang und steigender Anteil älterer Mitbürgerinnen und Mitbürger eine Bewährungsprobe für das Sozialleistungssystem und die soziale Arbeit dar. In vielen anderen Ländern hingegen wirft gerade ein dramatisches Bevölkerungswachstum gewaltige Probleme auf.

Trotz solcher großen Unterschiede gibt es auch Themen, die überall auf der Welt herausragende Bedeutung haben. Ich denke hier vor allem an die Familie. Sie ist der erste und wichtigste Ort individueller Geborgenheit und der Vermittlung grundlegender Werte menschlichen Zusammenlebens. Partnerschaft zwischen Mann und Frau, Liebe zu Kindern, Solidarität zwischen den Generationen - das alles kann eine Gesellschaft nur prägen, wenn es sich in der Familie bewährt. Dies gilt nach meiner festen Überzeugung für alle Kulturkreise, so unterschiedlich sie sonst auch sein mögen.

Besondere Aufmerksamkeit schenkt die von mir geführte Bundesregierung der Gleichstellung von Männern und Frauen; diese ist in unserer Verfassung rechtlich gewährleistet; in der gesellschaftlichen Wirklichkeit muss jedoch noch viel geschehen, um bestehende Benachteiligungen abzubauen.

Die älteren Bürgerinnen und Bürger haben ihren Beitrag zum Aufbau der jeweiligen Gesellschaft geleistet, und wir tun gut daran, die Kenntnisse und Fähigkeiten der älteren Generation für die Weiterentwicklung unserer Staaten und Gesellschaften zu nutzen. Es wäre töricht, die Lebenserfahrung und Lebensweisheit einer ganzen Generation zur Seite zu schieben. Ich bin durchaus dafür, dass junge Leute frühzeitig Verantwortung übernehmen und auch Erfolg haben. Aber alle Hochkulturen der Weltgeschichte haben die Lebenserfahrung und die Weisheit des Alters besonders zu schätzen gewusst. Soziale Politik und soziale Sicherheit müssen heute weltweit betrachtet werden. Isolierte Lösungen sind auf die Dauer für einen Staat oder eine Staatengruppe nicht zu erreichen.

Die Befreiung der Menschen „von Furcht und Not", um noch einmal die Präambel der Menschenrechtserklärung von 1948 zu zitieren, ist eine Aufgabe der ganzen Völkergemeinschaft. Armut, Krankheiten, Hunger und Elend in der Welt - sie dürfen gerade die wohlhabenden Länder schon aus mitmenschlicher Solidarität nicht gleichgültig lassen. Hier steht auch der Frieden - der soziale Frieden - der Völkergemeinschaft auf dem Spiel, und auch er ist letztlich stets ein Werk der Gerechtigkeit. Nur mit einem gerechten und friedlichen Interessenausgleich zwischen „Nord" und „Süd" werden wir diese Menschheitsaufgabe lösen können. Ich bin davon überzeugt, dass die Brisanz des Themas ,,Nord-Süd" die des Themas „Ost-West" noch übertreffen wird.

Wir brauchen eine internationale Sozialpolitik. Auf diesem Felde hat der Weltwirtschaftsgipfel in Toronto im Juni dieses Jahres erneut greifbare Fortschritte gebracht: Die Staats- und Regierungschefs der sieben größten westlichen Industrieländer waren sich darüber einig, verstärkt Schulden aus Entwicklungshilfedarlehen zu erlassen. Außerdem müssen die Bedingungen für die Umschuldung von Handelsschulden im Rahmen des „Pariser Clubs" verbessert werden.

Es geht hier - wie auch bei der innerstaatlichen Sozialpolitik - immer auch um die Gestaltung der Zukunft. Fürsorge für die Armen, Kranken und Schwachen: das ist und bleibt die vordringlichste Aufgabe der Sozialpolitik. Immer wichtiger wird jedoch die Vorsorge dafür, dass Menschen gar nicht erst in Not und Elend geraten. Beide Aufgaben gilt es im Blick zu behalten.

Im Rahmen der Gestaltung internationaler Sozialpolitik halte ich die Existenz und das Wirken nichtstaatlicher Organisationen wie des Internationalen Rates für Soziale Wohlfahrt für überaus wichtig. Sie können Ergänzung, aber auch Gegenpol zu internationalen staatlichen Organisationen sein. Sie sollten auf dem Sektor der sozialen Arbeit innovativ wirken und helfen, unsere Welt menschlicher zu machen - und sie sollten sich auch als Motor der sozialen Entwicklung verstehen.

So hoffe ich, dass Sie, meine Damen und Herren, mit vielen Erfahrungen und neuen Impulsen in die Wirkungsbereiche Ihrer Heimatländer zurückkehren, um weiter an der Verbesserung der sozialen Sicherung mitwirken zu können.