31. Mai 1984

Ansprache anlässlich der Verleihung des Karlspreises an Bundespräsident Karl Carstens in Aachen

 

Majestäten,
Herr Bundespräsident,
sehr verehrte liebe Frau Carstens,
Herr Oberbürgermeister,
Exzellenzen,
meine sehr verehrten Damen und Herren!

Durch die Verleihung des Karlspreises an Professor Karl Carstens würdigen wir Europa; Europa, wie es auf der Medaille für den Preisträger heißt, als Raum des Rechtes und des Friedens.

Herr Bundespräsident, es ist für mich eine ganz besondere Freude, daß ich Ihnen nach dem Herrn Oberbürgermeister als erster und ganz gewiß nicht nur im Namen der festlichen Versammlung, sondern von Millionen unserer Landsleute in der Bundesrepublik Deutschland, aber auch jenseits von Mauer und Stacheldraht zu dieser hohen Auszeichnung aufs herzlichste gratulieren darf.

Jeder spürt in dieser Stunde, daß diese Auszeichnung - und an diesem Tag und in dieser Zeit - an einen um Europa ganz besonders hochverdienten Mann geht. An einen Mann, dessen ganzer Lebensweg geprägt ist von der Geschichte und der Tradition unseres Volkes, aber der zu jener großartigen Generation gehört, die fähig war, aus geschichtlicher Erfahrung zu lernen, die einen Schlußstrich ziehen konnte und das Tor weit aufgestoßen hat für die Zukunft. Dafür danken wir Ihnen sehr, sehr herzlich, und es wird jeder verstehen, daß ich in diesen Dank Sie, verehrte gnädige Frau, besonders herzlich einschließe.

Karl Carstens ist der Sohn eines Mannes, der Frankreich wie sein eigenes Vaterland geliebt hat, der in Paris studierte, später Lehrer und Professor für französische Sprache wurde und der dann zu jener Generation gehörte, die in den Bruderkrieg 1914 bis 1918 ziehen mußte, und sehr bald dort sein Leben ließ.

Es gibt kaum eine Familie in Deutschland, meine eigene zählt dazu, die nicht in den großen, schrecklichen, leidvollen Kriegen dieses Jahrhunderts nächste Angehörige oder nahe Freunde verloren hat. Und aus diesen bedrückenden Erlebnissen und Erfahrungen, aus den bitteren, oft auch persönlichen Erfahrungen im Krieg und aus der Lektion der Diktatur haben wir die geschichtlichen Lehren und Konsequenzen gezogen. Krieg, Bruderkrieg, zwischen europäischen Völkern muß ein für alle Mal ausgeschlossen sein.

Es waren ja in Wahrheit europäische Bruderkriege, und wenn wir - ich empfinde dies als persönliches Glück - im Herbst dieses Jahres, der Präsident der Französischen Republik und der deutsche Bundeskanzler, uns in Verdun treffen, um der Toten dieser Kriege zu gedenken, dann mag dies symbolisch sein für die Überwindung von Haß und Zwietracht zwischen Deutschland und Frankreich, aber auch zwischen europäischen Völkern.

Der sicherste Weg, Geschichte, geschichtliche Lektionen zu begreifen, ist die Einigung Europas. Dafür setzen wir uns in Deutschland in der großen Mehrheit unseres Volkes seit 1945 mit unserer ganzen geistigen und moralischen, wirtschaftlichen und politischen Kraft ein.

Wir wollen das Europa der Zukunft, wir sagen Ja zu seiner Geschichte und Tradition, auch zum Auf und zum Ab, zu den großartigen Kapiteln und zu den schlimmen Kapiteln unserer Geschichte.

Wir wollen die Zukunft Europas, wir wollen seine Zukunft für die Generation unserer Kinder, wir sagen Ja zum Platz Europas, zu seiner Pflicht gegenüber anderen in einer weiten Welt, und wir wollen nach manchen Taten des Krieges uns als Europäer mit kräftiger Schrift ins Buch der Geschichte mit Werken des Friedens eintragen.

Das erste Friedenswerk deutscher Außenpolitik nach dem Krieg war die Überwindung von Feindschaft und Haß zwischen den Völkern, das Bemühen um Aussöhnung und Freundschaft, vor allem auch mit unserem französischen Nachbarn, denn "für die Einigung Europas", so schrieb Robert Schuman, "ist der vollständige Wechsel der Beziehungen zwischen den europäischen Staaten, vor allem zwischen Frankreich und Deutschland, nötig." Er fährt fort: "Dieses Werk unternehmen wir gemeinschaftlich auf der Basis absoluter Gleichberechtigung mit gegenseitiger Schätzung und Vertrauen, nachdem unsere Generation in höchstem Maße Leiden und Haß erfahren hat."

Am Bau der Vereinigten Staaten von Europa haben Sie, Herr Bundespräsident, von Anfang an mitgewirkt, in der Kraft des Verstandes, der Inspiration des Geistes und mit der Freude eines offenen Herzens. Diese Qualitäten sind in sehr unterschiedlichen Funktionen seit 1949 deutlich geworden, als Rechtsgelehrter und als Diplomat, als Hochschullehrer und als Politiker, als Beamter, der unserem Staat in wichtigen Funktionen gedient hat, und zuletzt und heute in der großartigen Weise, wie Sie Ihr Amt als Präsident der Bundesrepublik Deutschland geführt haben.

Sie, Herr Carstens, haben habilitiert mit einer Arbeit zum amerikanischen Verfassungsrecht, und Sie waren damals bremischer Bevollmächtigter beim Bund. Anschließend waren Sie der erste Ständige Vertreter der Bundesrepublik Deutschland beim Europarat in Straßburg; und Sie verfaßten in jenen Tagen ein grundlegendes Werk über diese Organisation. Das ist ein beeindruckendes Nebeneinander, Nacheinander, Füreinander von Stationen im verantwortungsvollen Dienst für eine freiheitliche Zukunft der Deutschen.

Die Vielfalt der europäischen Dimensionen, die sich Karl Carstens ganz persönlich erschlossen hat, erinnert im besten Sinne des Wortes an die Vielfalt, die Europa ist, die es braucht, die es will; ein Europa ebenso des Rechtes, was immer auch ein Europa des Friedens ist, mit der Politik im allgemeinen und der Wirtschaft, und selbstverständlich ein Europa der Kultur; ein Europa der Landschaften, der Regionen, ein Europa der Handlungseinheit im Inneren und, wie wir alle hoffen, bald auch nach außen; ein Europa, meine Damen und Herren, vorsichtiger Ansätze, kleiner Schritte, pragmatischer Zwischenlösungen, oft nur auf Teilgebieten, in unterschiedlichen Richtungen und nicht immer mit denselben Teilnehmern, ebenso wie bereits funktionierende geschaffene Elemente für die politische Union auf dem Weg des Baus der Vereinigten Staaten von Europa.

Natürlich kann die europäische Idee, die Vision der Gründungsväter der Gemeinschaft, nur dann verwirklicht werden, wenn auch wir in unserer Generation, in unserer Zeit Kraft der Gedanken und Mut der Taten beweisen. Und, meine Damen und Herren, wir sollten dabei nie kleinmütig und verzagt werden. Als die EWG gegründet wurde, sprach man in Form von Karikaturen von den Ausgrabungen von Messina. Die Gemeinschaft entstand dennoch, und sie blühte auf. Und heute darf sie, wie der Preisträger dieses Jahres ganz zu Recht sagt, als eine Leistung gelten, die in der Nachkriegsgeschichte unübertroffen ist.

Aber, meine Damen und Herren, Europa geht zu seiner Einigung nicht nur jenen breiten, wenn oft auch beschwerlichen Weg, den die drei Gemeinschaftsverträge vorzeichnen. Im Bewußtsein der Europäer mögen diese Verträge so manchen anderen Anstoß und Erfolg in den Hintergrund gedrängt, vielleicht sogar verdrängt haben; doch Europa, das ist seit langem viel mehr als die Gemeinschaft. Ich denke hier an Institutionen wie die Europäische Organisation für Kernforschung, die Europäische Weltraumorganisation, stellvertretend diese beiden genannt für vielseitige Anstrengungen Europas, durch Abstimmung und Kooperation im Bereich von Forschung und Technik den Platz in Europa zu behaupten.

Ich will in dieser Stunde aus gutem Grund auch die Arbeit des Europarates würdigen, des ersten Zusammenschlusses europäischer Staaten zu einer ständigen politischen Institution. Auch heute verdient dieser Europarat unsere besondere Wertschätzung. Die Geschichte unserer Bundesrepublik Deutschland und die Geschichte des Europarates - daran hat Karl Carstens im Januar des vergangenen Jahres in Straßburg erinnert - sind miteinander aufs engste verflochten. Vor 35 Jahren sind sie beide entstanden, und nur drei Tage trennten die Annahme des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland und die Unterzeichnung der Satzung des Europarates.

Am Anfang unserer bewußten und gewollten Einbindung in das freiheitliche Europa stand Konrad Adenauers engagierter Einsatz für die Aufnahme der Bundesrepublik Deutschland in den Europarat. Hier war es, wo wir Deutschen unseren Platz in der Gemeinschaft europäischer Völker nach der nationalsozialistischen Barbarei erstmals wiederfanden.

Lassen Sie mich diese Verdienste des Europarats auch heute, in dieser Stunde, dankbar anerkennen, seine beharrlichen, häufig stillen und deshalb wenig beachteten Bemühungen um die Angleichung der Rechtssysteme seiner 21 Mitgliedsstaaten, um gerechte soziale Standards für die Menschen, um die Pflege der kulturellen Einheit Europas, um den europäischen Jugendaustausch.

Wenn in den nächsten Ferienwochen in allen europäischen Ländern Millionen Schüler, junger Leute mit ihrem Interrail-Ticket quer durch Europa fahren, dann leben sie Europa. Sie sind dann nicht Deutsche, Franzosen, Engländer, sie sind Europäer, die unterwegs sind irgendwo in Europa. Für sie hat Europa längst begonnen.

Für dies alles schulden wir denen Dank, die unermüdlich daran gearbeitet haben. Und ich zitiere nicht ohne Grund aus der Präambel der Satzung des Europarats die Sätze:

„Den geistigen und sittlichen Werten, die das gemeinsame Erbe ihrer Völker sind, der persönlichen Freiheit, der politischen Freiheit und der Herrschaft des Rechts liegt zugrunde das, was wahre Demokratie ausmacht."

Meine Damen und Herren, hier geht es in der Tat um die Substanz dessen, was uns überliefert ist und was wir angenommen haben, um Menschenwürde, um die freie Entfaltung der Persönlichkeit, um unser zutiefst europäisches Erbe von Christentum und Aufklärung, mit einem Wort: um das, was wir oft viel zu vordergründig und zu wenig nachdenklich das Abendland nennen.

Der europäische Menschenrechtsschutz durch die Straßburger Organe war beispiellos. Er wurde beispielhaft für die Welt. Von diesem hohen Standard eines Werks des Friedens gibt es kein Zurück. Auf diese Idee, auf die Menschenrechte und auf die Grundfreiheiten ist auch die Europäische Gemeinschaft verpflichtet. Die politischen Organe der Gemeinschaft - Parlament, Rat und Kommission - haben sich in einer gemeinsamen Erklärung zur Europäischen Menschenrechtskonvention bekannt. Die Grundrechte werden in der Gemeinschaft schon seit Jahren, insbesondere durch die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes in Luxemburg, wirksam geschützt. Die Gemeinschaft, und ganz besonders ihr erster Präsident in der Kommission, unser Landsmann Walter Hallstein, hat stets daran erinnert, daß Rechtschöpfung, Rechtsquelle und Rechtsordnung Bausteine Europas sind.

Ich nutze gerne diese heutige Gelegenheit, dem Rechtsprechungsorgan der Gemeinschaft, aber auch den vielen Wissenschaftlern, die sich dem schwierigen Bereich des Europarechts widmen, meinen ganz besonderen Respekt zu bekunden. Ihr bedeutender, fortlaufender Beitrag zum europäischen Einigungswerk und die Impulse, die Sie gegeben haben, verdienen unseren Respekt und unseren besonderen Dank.

Heute, meine Damen und Herren, steht Europa vor der Frage, wie in den kommenden Jahren der Prozeß der europäischen Einigung weiter vorangebracht werden kann.

Dabei ist die Vision der Präambel des EWG-Vertrages von entscheidender Bedeutung. Dort bekunden die Gründer der Gemeinschaft ihren festen Willen, die Grundlagen für einen immer engeren Zusammenschluß der europäischen Völker und ihre Freiheit zu schaffen.

Der Text, meine Damen und Herren, ist völlig eindeutig. Europa ist mehr und muß mehr sein als eine Freihandelszone, ist viel mehr als eine gehobene Form eines Zollvereins. Unser Ziel ist und bleibt die politische Einigung der Völker Europas in Freiheit. [...]

Meine Damen und Herren, lassen Sie mich schließen mit den Worten, die vor 30 Jahren von dieser Stelle aus Konrad Adenauer unseren Bürgern zurief, jene eindringliche Mahnung, die auch heute an Aktualität nichts verloren hat. Er sagte: "Tragen Sie alle dazu bei, daß der Europagedanke eine Volksbewegung bleibt und nicht mehr erlahmt. Wirken Sie durch eine kräftige europäische öffentliche Meinung auf die Politiker, Parlamentarier und auf die Regierungen ein. Wir sichern damit unsere eigene Zukunft."

Hier an dieser ehrwürdigen Stelle im Rathaus zu Aachen versteht jeder im Blick auf die Geschichte dieses Jahrhunderts diese Mahnung. Das Schicksal, die Zukunft ist heute in unsere Hände gegeben.

Ich rufe von hier aus alle unsere Landsleute und alle unsere Freunde in Europa über die Grenzen hinweg auf, sich aufzumachen ohne zeitlichen Verzug, mit Mut und Entschiedenheit und mit Klugheit zugleich, zum Bau der Vereinigten Staaten von Europa.

Quelle: Bundeskanzler Helmut Kohl: Reden 1982-1984. Hg. vom Presse- und Informationsamt der Bundesregierung. Bonn 1984, S. 432-438.