31. Oktober 1990

Die innere Einheit stärken, die europäische Einigung vollenden

Beitrag in der Zeitung „Handelsblatt"

 

In den vergangenen anderthalb Jahren haben Deutschland und Europa neue Statur gewonnen. Die mutigen Demonstrationen der Deutschen in der ehemaligen DDR gegen das SED-Regime und die Öffnung der ungarischen Grenze im September 1989 bildeten den Auftakt zur Wiedervereinigung unseres Vaterlandes. Zu dieser Entwicklung haben viele beigetragen: die Freiheits- und Demokratiebewegungen in Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei, unsere Partner und Freunde in der Europäischen Gemeinschaft und der Atlantischen Allianz durch ihre jahrzehntelange Solidarität und nicht zuletzt Präsident Gorbatschow durch seine Bereitschaft, das Recht der Staaten und Völker auf ihren eigenen Weg zu respektieren.

Zwei weitere Ereignisse im zu Ende gehenden Jahr vervollständigen das Bild und machen so die historische Dimension der Entwicklung in den vergangenen Monaten deutlich. Beide Daten stehen für die europäische Einbettung und für die politische Bestätigung der deutschen Einheit. Zum einen haben auf dem KSZE-Gipfel vom November in Paris alle 34 Teilnehmerstaaten die Vollendung der staatlichen Einheit Deutschlands positiv gewürdigt. Zugleich ist in Paris auch ein staatenübergreifender Rahmen für eine gerechte und dauerhafte Friedensordnung auf unserem Kontinent entwickelt worden. Zum anderen wurde am 2. Dezember - erstmals seit der Reichstagswahl im November 1932 - frei und direkt ein Parlament für ganz Deutschland gewählt.

In den kommenden Jahren geht es um zwei zentrale Aufgaben: erstens um den Aufbau der neuen Bundesländer und das Zusammenwachsen zu innerer Einheit. Und zweitens um das Vorantreiben der europäischen Einigung, den noch unvollendeten Auftrag der Präambel unseres Grundgesetzes.

Diese Aufgaben stellen sich uns in einer Zeit großer wirtschaftlicher Dynamik im Innern, die nach Ansicht aller Experten auch weiterhin anhalten wird. Nie zuvor gab es in der bisherigen Bundesrepublik eine längere konjunkturelle Aufwärtsentwicklung, und nie zuvor in der Geschichte der bisherigen Bundesrepublik gab es mehr Arbeitsplätze, höhere Einkommen, breiteren Wohlstand und ein höheres Maß an sozialer Sicherheit wie zu Beginn der 90er Jahre.

Nachdrücklich dokumentiert wird das gerade in diesen Monaten -etwa durch eine außerordentlich dynamische Zunahme der Erwerbstätigenzahl in den alten Bundesländern, wie sie selbst in der Aufbauzeit nach 1948 nicht zu verzeichnen war.

Mehr noch als in der Vergangenheit rücken heute - angesichts von Aufbruch und Neuanfang zwischen Rügen und Erzgebirge, zwischen Elbe und Oder - die Wurzeln von wirtschaftlichem Erfolg, sozialer Sicherheit und gesellschaftlicher Stabilität ins Bewusstsein. Zu nennen sind zunächst und vor allem die Leistungen der Menschen in unserem Land. Ihr Leistungswille allein hätte aber nicht genügt. Das zeigt das Schicksal der Menschen in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen und im Ostteil Berlins. Denn auch sie waren und sind nicht weniger leistungswillig als Arbeitnehmer und Unternehmer zwischen Rhein und Elbe.

Anteil am wirtschaftlichen Erfolg und an der inneren Stabilität der Bundesrepublik haben vielmehr auch jene Institutionen und gewachsenen Strukturen, ohne die kein freiheitliches Gemeinwesen auf Dauer erfolgreich bestehen kann: eine klare, verlässliche und zugleich anpassungsfähige Wirtschafts-, Rechts- und Gesellschaftsordnung, ein bewährter Parlamentarismus, der von demokratischen Parteien getragen wird, eine kompetente öffentliche Verwaltung sowie freie Gewerkschaften, Verbände und verantwortliche Tarifpartner. Dies zusammengenommen prägt die Soziale Marktwirtschaft als »die bessere Ordnung«, wie es auch von allen Teilnehmerstaaten der Bonner KSZE-Wirtschaftskonferenz im März 1990 eindrucksvoll zum Ausdruck gebracht worden ist.

Nicht geringzuschätzen ist zudem der Wert der im Westen Deutschlands hochentwickelten Infrastruktur sowie die Fähigkeit der Sozialen Marktwirtschaft, sich neuen Herausforderungen wie Umweltschutz und einer humanen Nutzung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts - beispielsweise in den Biowissenschaften - zu stellen.

In all diesen Bereichen muss in den neuen Bundesländern rasch aufgearbeitet werden, was dort in 40 Jahren sozialistischer Misswirtschaft versäumt worden ist. Dreh- und Angelpunkt für den Übergang zur Sozialen Marktwirtschaft sind baldige massive Investitionen - in die Qualifizierung der Arbeitnehmer genauso wie in Gebäude und Maschinen. Die Bundesregierung flankiert die erforderliche Umstrukturierung durch Hilfen für private Investitionen in gleicher Weise wie durch Leistungen der Arbeitslosen-, Kranken- und Rentenversicherung in Milliardenhöhe.

Sie schafft zugleich die elementaren Bedingungen für wirtschaftliche Aufwärtsentwicklung, indem sie beschleunigt sicherstellt, dass z.B. Zweigstellen, Tochterunternehmen und Geschäftspartner ohne lange Verzögerungen miteinander telefonieren können. Schon jetzt wird beträchtlich investiert. Die Bundespost schaltet allein im kommenden Jahr weit über 600000 neue Anschlüsse.

Aber auch auf anderen Feldern müssen wir dem rasch wachsenden Bedarf an Infrastruktur so schnell wie möglich entsprechen. Das gilt für den Ausbau der Verkehrswege ebenso wie für Strom-, Wasser-, Versorgungs- und Entsorgungsnetze. Denn der Ausbau einer leistungsfähigen Infrastruktur ist zugleich entscheidende Voraussetzung für rasche gewerbliche Ansiedlung und damit für sichere Arbeitsplätze. Und von beidem profitiert der Staat später nicht zuletzt bei den Staatseinnahmen.

All diese Ausgaben - sei es für Infrastruktur, Wirtschaftshilfen, Qualifizierungsmaßnahmen oder Sozialleistungen - sind daher nichts anderes als eine Investition in unsere gemeinsame Zukunft. Wir müssen heute säen, damit wir morgen die Früchte unserer gemeinsamen Anstrengungen ernten können.

Deswegen muss auch klar sein: Eine öffentliche Verschuldung wie sie derzeit wegen der historischen Ausnahmesituation gegeben ist, kann auf Dauer keinesfalls akzeptiert werden. Darin ist der Deutschen Bundesbank genauso uneingeschränkt zuzustimmen wie dem Wirtschafts-Sachverständigenrat.

Gerade im Blick auf die anstehenden schwierigen Aufgaben hat sich die Bundesregierung gegen Steuererhöhungen für die deutsche Einheit ausgesprochen. Mehr denn je brauchen wir jetzt den Leistungswillen von Arbeitnehmern, unternehmerische Risikobereitschaft und eine hohe Investitionsdynamik. Diese sind nicht nur Basis unseres eigenen Wohlstandes, sondern Hoffnung aufbessere Lebensverhältnisse für viele Menschen in Europa und darüber hinaus.

Die Europäische Gemeinschaft wirkt heute als erfolgreiches Beispiel insbesondere für die Länder Mittel-, Ost- und Südosteuropas. Niemand spricht heute noch von „Eurosklerose". Mit dem Erreichten können wir uns jedoch nicht zufriedengeben. Wirtschaftlich und politisch wollen wir die Gemeinschaft weiter festigen und zügig zur Europäischen Union ausbauen.

Der große europäische Binnenmarkt, den wir bis Ende 1992 vollenden werden, ist eine wichtige Zwischenstation auf diesem Weg - nicht weniger, aber auch nicht mehr. Diesen großen Markt zu verwirklichen und zugleich die soziale Dimension des fortschreitenden Integrationsprozesses zu sichern, trägt bereits heute Früchte: Das stabile Wirtschaftswachstum und die stark steigende Beschäftigung beruhen nicht zuletzt auf Investitionen, die bereits mit Blick auf den entstehenden Gemeinsamen Markt getätigt wurden.

Der Europäische Rat hat in Rom Mitte Dezember 1990 zwei parallele Regierungskonferenzen eingesetzt, um die Grundlagen für die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion sowie für die Politische Union festzulegen.

Für uns Deutsche sind auf diesen Konferenzen folgende Eckpunkte von besonderer Bedeutung:

Erstens muss die Europäische Wirtschafts- und Wahrungsunion als Ziel eine gemeinsame europäische Währung haben, die genauso solide und anerkannt ist wie die D-Mark. Ihr Rückgrat muss ein Europäisches Zentralbanksystem bilden, das föderal gegliedert und unabhängig von politischen Weisungen arbeitet.

Zweitens müssen wir - mit Blick auf die nächsten Europawahlen im Sommer 1994 - die Mitwirkungsrechte des Europäischen Parlaments nachhaltig stärken und die Arbeit der Gemeinschaftsorgane unter anderem durch vermehrtes Anwenden von Mehrheitsentscheidungen im Ministerrat verbessern.

Und drittens müssen wir eine europäische Außen- und Sicherheitspolitik entwickeln, mit der wir unsere gemeinsamen Interessen besser als bisher zur Geltung bringen können. Nur eine Europäische Gemeinschaft, die im Inneren gefestigt und voll handlungsfähig ist, kann auch treibende Kraft im gesamteuropäischen Prozess sein.

Europa hört nicht an Oder und Neiße auf. Auch die Menschen in Mittel-, Ost- und Südosteuropa brauchen eine klare europäische Perspektive. Das geeinte Deutschland sieht sich aufgrund seiner geographischen Lage im Herzen Europas, aber auch vor dem Hintergrund unserer Geschichte hier in einer besonderen Verantwortung. Wir haben die tiefgreifenden politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Reformen in Mittel-, Ost- und Südosteuropa aus dieser Verantwortung heraus von Anfang an nachdrücklich unterstützt. Um so mehr müssen wir mit unseren Partnern in der Gemeinschaft verhindern, dass sich zwischen das westliche und das östliche Europa eine neue Mauer - diesmal des Wohlstands - schiebt.

Damit dienen wir gleichzeitig unseren eigenen Interessen. Denn wirtschaftlicher und sozialer Niedergang erzeugen politische Instabilität, die auch auf uns zurückwirken würde. Zugleich ist Hilfe für die Nachbarn in Not für uns ein Gebot der Menschlichkeit. Ich bin sicher, dass die zahlreichen, von einer Welle der Hilfsbereitschaft getragenen humanitären Aktionen für die Sowjetunion bei den Menschen dort das Bild eines neuen Deutschlands prägen werden.

Es geht jedoch um weit mehr als kurzfristige Hilfe und Unterstützung: Ziel ist die Einigung ganz Europas und mit ihr ein gesamteuropäischer Wirtschaftsraum, an dem alle Staaten unseres Kontinents Anteil haben und der wachsende Bedeutung im Welthandel gewinnt. Dies ist ein ehrgeiziges Ziel, das nicht morgen erreicht sein wird. Aber gerade das vergangene Jahr hat gezeigt, dass Visionen Wirklichkeit werden können. Für die Vision eines geeinten Europas in einer freien Welt lohnt jede Anstrengung. Dieser Herausforderung stellen wir uns.

Quelle: Handelsblatt, 31. Oktober 1990.