31. Oktober 1991

Rede auf dem Fachkongress „Kulturgemeinschaft Europas" der CDU in Frankfurt/Oder

 

I.

Auf dem Weg hierher dachte ich darüber nach, was ich gesagt hätte, wenn ich vor drei Jahren gefragt worden wäre, ob es denkbar sei, dass ich am heutigen Tag an diesem Ort und in einem Kreis, wie dem eben vorgestellten, über die Idee Europa diskutieren könnte. Ich hätte dies für unmöglich gehalten. Es geht uns zur Zeit manchmal beinahe wie in einem Traum: Die Bilder wechseln einander so schnell ab, dass wir vieles davon leider gar nicht mehr voll erfassen können.

Mit dem heutigen Fachkongress über die kulturellen Fundamente der Idee Europa will die Christlich-Demokratische Union Deutschlands das Bewusstsein für ein Thema schärfen, das in den aktuellen Diskussionen über die Zukunft unseres Kontinents häufig zu kurz kommt. Es geht um die Frage, was uns Europäer von Kreta bis Island, von Lissabon bis Moskau im Geiste miteinander verbindet. Es geht um die Frage nach unserem gemeinsamen kulturellen Erbe - und damit auch nach den Chancen eines Patriotismus in europäischer Perspektive.

Europa ist mehr als die Summe des Bruttosozialproduktes aller europäischen Länder. Deswegen stelle ich bei allen Diskussionen - auch im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft - über die Zukunft des Kontinents die kulturelle Dimension des europäischen Einigungswerkes deutlich heraus. Denn von einem bin ich überzeugt: Die politische, wirtschaftliche und soziale Einigung Europas wird keinen Erfolg haben, wenn wir Europa nicht auch als Kulturgemeinschaft begreifen - bei allen Unterschieden zwischen unseren Ländern und Nationen.

Dass dieser Kongress hier in Frankfurt an der Oder stattfindet, hat eine besondere symbolische Bedeutung: Die Zukunft dieser Region wird ganz entscheidend von der europäischen Einigung und vom deutschpolnischen Versöhnungswerk geprägt sein. Wir wollen hier, an der Nahtstelle zwischen Deutschland und Polen, ein Miteinander erreichen, wie es seit den fünfziger Jahren im Westen, Süden und Norden Deutschlands bereits mit überwältigendem Erfolg besteht. Wir wollen, dass Grenzen ihren trennenden Charakter mehr und mehr verlieren. Wir wollen Brücken bauen, über die die Menschen zueinander kommen können.

Mit der Gründung einer Europäischen Universität wird hier in Frankfurt ein großes europäisches Zentrum für Forschung und Lehre entstehen. Frankfurt und Brandenburg stellen sich damit den geistigen Herausforderungen einer europäischen Zukunft.

Das Schicksal ganz Deutschlands ist untrennbar mit Europa verknüpft. Die deutsche Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 bedeutete zugleich einen entscheidenden Schritt zur Überwindung der Teilung unseres Kontinents. Wir Deutsche würden die Herausforderung der Geschichte verfehlen, wenn wir nun auf dem Weg zur politischen Einigung Europas nicht weiter voranschritten - ungeachtet der Probleme, die wir jetzt im eigenen Land haben.

II.

Wenn wir gerade in diesen Tagen viel von der Notwendigkeit sprechen, die Einheit Europas weiter voranzubringen, so denken viele dabei zuerst an Politik und Wirtschaft. Europa - das habe ich eingangs schon erwähnt - bedeutet jedoch viel mehr als nur das. Die europäischen Völker bilden vor allem eine Werte- und Kulturgemeinschaft. Unsere gemeinsame Kultur ist das stärkste Band, das uns zusammenhält.

Politische und wirtschaftliche Rahmenbedingungen müssen stimmen. Die europäische Einigung kann jedoch nur Erfolg haben, wenn wir uns dabei deren geistige und kulturelle Grundlagen stets vergegenwärtigen. Wir müssen daher das Bewusstsein für die kulturelle Dimension Europas immer wieder aufs Neue schärfen. Dies ist nicht nur Aufgabe der Politik, sondern aller, die die großen intellektuellen Debatten unserer Zeit mitprägen. Ich freue mich deshalb besonders, dass heute so herausragende Vertreter des europäischen Geisteslebens bei uns zu Gast sind.

Europa ist von einer fast 2000jährigen christlichen Tradition geprägt, von antiker und mittelalterlicher Philosophie, vom Humanismus der Renaissance und von den großen Denkern der Aufklärung wie Kant oder Voltaire. Die Kontakte zwischen alten Universitäten wie Prag und Bologna, Paris oder Oxford waren früher in mancher Hinsicht enger, als sie es heute sind. Ich finde, es ist besonders wichtig, dal? Studenten aus Prag und Heidelberg wieder ganz selbstverständlich zum Gedankenaustausch zusammenkommen. Das geistige Leben an den Universitäten Europas kann durch die Vertiefung solcher Kontakte nur gewinnen.

Wenn ich von Europa als Kulturgemeinschaft spreche, geht es mir in erster Linie um die gemeinsamen philosophischen Wurzeln, die alle Europäer über Jahrhunderte zusammengehalten haben - trotz zahlloser Bruderkriege. Ich denke an die Grundlagen unserer gemeinsamen Werteordnung - wie die Einzigartigkeit des Menschen, die Achtung vor seiner Würde und seiner persönlichen Freiheit.

Zu diesen Grundlagen haben sich die Mitgliedstaaten des Europarates vier Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in feierlicher Form bekannt - in der Überzeugung, dass darauf „jede wahre Demokratie beruht". Mit jedem neuen Mitglied gewinnt der Europarat zusätzliche Bedeutung als Symbol der Einheit Europas im Geiste der Menschenrechte. Heute, wenige Tage nach der ersten uneingeschränkt demokratischen Parlamentswahl in Polen, ist die Voraussetzung auch für dieses Land geschaffen, dem Europarat beizutreten. Das ist eine großartige Sache.

Die ungebrochene Kraft der ganz Europa einenden Werte hat auch die Mauer zum Einsturz gebracht. Diese Werte können unsere Völker nun auf dem Weg ins dritte Jahrtausend zusammenführen. Die europäische Idee hat seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges immer weiter an Boden gewonnen. Sie wurde von den Völkern angenommen und wird von ihnen getragen. Denken wir nur an die beiden letzten Jahre: Es waren die Menschen in Polen und Ungarn, in der CSFR und hier in der ehemaligen DDR, die die Ketten der Unrechtsregime sprengten und den Weg „zurück nach Europa" einschlugen. Zu den für mich unvergesslichen Stunden des Jahres 1991 gehört jene, als die Außenminister der baltischen Staaten in Bonn waren und wir in feierlicher Form die diplomatischen Beziehungen wieder aufnahmen - und als dann der estnische Außenminister Meri auch im Namen seiner beiden Amtskollegen einfach sagte: „Wir kehren heim nach Europa."

Freiheit, Demokratie und Rechts Staatlichkeit gehören für uns unauflöslich zu Europa. Unser Ziel ist es, den Menschen von Jekaterinburg bis Dublin, von Oslo bis Rom ein friedliches Zusammenleben in freier Selbstbestimmung zu ermöglichen. Zum Selbstbestimmungsrecht der Völker gehört für uns als unverzichtbare Ergänzung auch der Schutz der Minderheiten. Es muss uns darum gehen, das Netz für einen umfassenden und wirkungsvollen Schutz der Menschenrechte immer enger zu knüpfen, damit, wie Konrad Adenauer bereits 1961 so zukunftsweisend formulierte, „Europa einmal ein großes gemeinsames Haus für alle Europäer wird, ein Haus der Freiheit".

III.

In seiner berühmten Züricher Rede sprach Winston Churchill 1946 von der Schaffung der „Vereinigten Staaten von Europa". Er sagte damals: „Es ist nichts weiter dazu nötig, als dass Hunderte von Millionen Männer und Frauen Recht statt Unrecht tun und Segen statt Fluch ernten." Im letzten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts, das soviel Not, Elend und Leid sah, können wir die Vision der großen Europäer der ersten Stunde verwirklichen: von Jean Monnet bis Alcide de Gasperi, von Paul-Henri Spaak bis Robert Schuman und Konrad Adenauer.

Heute ist die Europäische Gemeinschaft Kristallisationspunkt des in Freiheit zusammenwachsenden Europa. Nur eine wirtschaftlich starke und politisch einige Europäische Gemeinschaft kann die Zukunft dieses Kontinents entscheidend mitprägen und sichern. Nur sie eröffnet die Chance, dass wir in wenigen Jahren die ganze Gestaltungskraft unseres Kontinents zur Lösung der weltweiten Probleme einbringen können. Raymond Aron hat das Ziel richtig beschrieben, als er sagte: „Die Europäische oder Atlantische Gemeinschaft ist nicht Gegenstand einer flüchtigen Begeisterung. Sie ist das Endziel einer wertefordernden und sinngebenden Anstrengung, wie es das Leben selbst sein soll."

Mit der Vollendung des Europäischen Binnenmarkts bis zum 31. Dezember 1992 erreichen wir ein wichtiges Etappenziel auf dem Weg zur Europäischen Union. Dieser Markt trägt bereits heute erheblich zur wirtschaftlichen Entwicklung in Deutschland und in ganz Europa bei. Zusammen mit dem gleichzeitig entstehenden Europäischen Wirtschaftsraum, der die EFTA-Staaten eng mit der EG verbinden und einen Markt für 380 Millionen Menschen schaffen wird, ist er auch ein positives Signal für jene Reformstaaten Mittel-, Ost- und Südosteuropas, mit denen die EG noch in diesem Jahr Assoziierungsabkommen schließen wird.

In der Europäischen Gemeinschaft liegen weitere Schritte zur Vertiefung der Integration vor uns. Wir wollen die beiden Regierungskonferenzen über die Wirtschafts- und Währungsunion und über die Politische Union im Dezember auf dem EG-Gipfel in Maastricht zum Erfolg führen. Die Verwirklichung der Wirtschafts- und Währungsunion und die damit verbundene Schaffung einer europäischen Wahrung ist eine unserer großen Gestaltungsaufgaben.

Genauso wichtig für uns Deutsche und für ganz Europa sind vergleichbare Fortschritte auf dem Weg zur Politischen Union. Zur Politischen Union gehört eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik. Nur wenn die Europäer mit einer Stimme sprechen und gemeinsam handeln, werden sie aktiv zur Lösung der großen Probleme unserer Zeit beitragen können. Nach drei Jahrhunderten nationalstaatlichen Denkens kann man jedoch nicht erwarten, dass in wenigen Jahren alles überwunden wird, was uns bisher trennte. Wie schwer das ist, zeigt sich nicht zuletzt angesichts der unterschiedlichen Akzente in der Diskussion über ein gemeinsames Vorgehen zur Beendigung des Bürgerkrieges in Jugoslawien. Es sind noch viele Veränderungen notwendig, darunter eben auch eine Stärkung des Europäischen Parlaments und eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik der Europäischen Gemeinschaft.

IV.

Wir wollen die wirtschaftliche und politische Zusammenarbeit mit unseren Nachbarn in Mittel-, Ost- und Südosteuropa ausbauen und so unseren Beitrag zu Frieden und Wohlstand auf dem ganzen Kontinent leisten. Der gesamte Westen sollte sich immer vergegenwärtigen, dass es in seinem eigenen Interesse liegt, die Reformstaaten Mittel-, Ost- und Südosteuropas sowie die Republiken der sich erneuernden Sowjetunion auf ihrem Weg zu Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Marktwirtschaft aktiv zu unterstützen. Wir Deutsche haben uns auf diesem Felde in den vergangenen Jahren bereits stark engagiert - und tun es auch weiterhin. Aber wir können diese Last nicht alleine tragen. Nur gemeinsame Anstrengungen aller westlichen Industrienationen versprechen auf Dauer Erfolg.

Zur gesamteuropäischen Verantwortung der EG gehört auch, dass diese Länder Mitglied der Gemeinschaft werden können, sobald sie die politischen und wirtschaftlichen Voraussetzungen erfüllen. Ein wichtiger Schritt auf diesem Wege werden Assoziierungsverträge sein, wie sie zur Zeit zwischen der EG und den neuen Demokratien Polen, Ungarn und CSFR verhandelt werden. Unsere historisch-kulturelle Verbundenheit mit diesen Ländern, aber auch mit vielen Völkern der Sowjetunion oder auch den Balten hat eine lange Tradition. Es wird eine der großen Herausforderungen der nächsten Jahre sein, diese Völker mehr und mehr in die Gestaltung der europäischen Zukunft einzubeziehen. Ich will das gerade hier in Frankfurt an der Oder betonen: Für uns ist es nicht annehmbar, dass die Ostgrenze der EG auf Dauer entlang von Oder und Neiße verläuft. Wer das nicht begreift, den müssen wir davon zu überzeugen suchen, dass es um das Interesse auch der Westeuropäer geht - um einen historischen Auftrag der Gemeinschaft.

Die epochalen Veränderungen der Jahre 1989 und 1990 haben unseren Blick dafür geschärft, wie eng Ost und West in Europa kulturell miteinander verbunden sind. Wir spüren das nicht zuletzt in der Musik von Chopin oder Tschaikowsky. Das Schaffen von Marc Chagall - ich denke an die von ihm gestalteten Kirchenfenster in Mainz, Metz und Reims - oder von Joseph Brodsky, dem Literaturnobelpreisträger, zeigt den unersetzlichen Anteil, den Russland bis in die Gegenwart hinein zu unserem europäischen Kulturerbe leistet. Nicht zuletzt das Scheitern des Putschversuchs in der Sowjetunion hat jedermann vor Augen geführt, dass Europa nicht am Bug endet. Die Menschen, die in Moskau, St. Petersburg und anderen Orten auf die Straße gingen, sehnten sich nicht weniger nach Freiheit als die Menschen in Danzig, Prag oder Leipzig.

Mehr denn je brauchen wir den Dialog zwischen katholischen, evangelischen und orthodoxen Christen in Europa. Es geht darum, einen ökumenischen Bogen von den Klöstern und Kapellen Irlands bis hin zu den Kirchen und Kathedralen von Kiew oder Moskau zu schlagen. Das ist eine Aufgabe, die langen Atem erfordert. Aber sie ist -neben vielem anderen - notwendig, damit unser Kontinent auf gemeinsamer geistiger Grundlage zu sich selbst findet. Der Weg in die gemeinsame europäische Zukunft kann nur über die Achtung der Menschenrechte, den Schutz der Minderheiten und das Selbstbestimmungsrecht führen.

Das gilt auch für die Völker Jugoslawiens. Wenn wir gemeinsam auf diesem Weg vorangehen, ehren wir damit auch das Vermächtnis eines Mannes, der zum Umbruch in Osteuropa entscheidend beigetragen hat: Andrej Sacharow. Meinungsfreiheit, Toleranz und Achtung vor dem Nächsten sind Werte, die der Friedensnobelpreisträger verkörperte.

V.

Die einende Kraft des kulturellen Erbes Europas, gegenseitiges Verständnis und Vertrauen können sich am besten in einem Europa offener Grenzen entfalten. Für die europäische Jugend ist gerade dies von größter Bedeutung. Wo könnte das besser verstanden werden als in dieser Stadt an der Oder? Ein vereintes Europa braucht vor allem das Engagement junger Menschen, wenn Frieden und Freiheit auf Dauer bewahrt werden sollen. Ich kann nicht oft genug betonen, wie wichtig es ist, der Jugend in Europa neue Chancen der Begegnung zu eröffnen. Dass sich junge Europäer heutzutage in den Ferien auf dem Bahnhof in Frankfurt an der Oder oder in Bonn ein Interrail-Ticket lösen und damit kreuz und quer durch Europa fahren können, bringt mehr für Europa als manche Konferenz.

Die Öffnung der Grenzen in ganz Europa ist ein entscheidender Schritt auf dem Weg in eine gute Zukunft. Mit dem deutsch-polnischen Vertrag über gute Nachbarschaft haben sich Deutsche und Polen ihrer gesamteuropäischen Verantwortung gestellt. Das gemeinsame Jugendwerk ist nicht nur ein bedeutender Beitrag zur deutsch-polnischen Aussöhnung, sondern wird auch ein wesentlicher Faktor der europäischen Einigung sein.

In meiner pfälzischen Heimat, in dieser deutsch-französischen Grenzregion, steht das Hambacher Schloss. Der gemeinsame Freiheitswille hat Polen und Deutsche dort bereits 1832 vereint. In jener besonders schweren Stunde polnischer Geschichte fanden sich deutsche, polnische und französische Patrioten unter dem Wort zusammen: „Ohne Polens Freiheit keine deutsche Freiheit, ohne Polens Freiheit kein dauerhafter Friede, kein Heil für die europäischen Völker." Es ist eine bewegende Erfüllung der Worte von Hambach, wenn sich heute Polen in wiedererrungener Freiheit und Selbständigkeit und Deutschland in wieder gewonnener Einheit und Freiheit die Hand zum Frieden und zu guter Nachbarschaft reichen. Ohne die deutsch-französische Freundschaft hätte das Werk der Einigung Europas nicht begonnen werden können. Ohne deutsch-polnische Partnerschaft und Freundschaft wird es sich nicht vollenden lassen.

VI.

Europäische Gesinnung und Verwurzelung in der eigenen Region sind kein Widerspruch. Im Gegenteil: „Einheit in Vielfalt" - das ist unsere Vision von der Zukunft Europas. Dieser Grundsatz gilt für die politische Einigung Europas, er gilt aber noch viel mehr für die kulturelle und geistige Einigung unseres Kontinents. Gerade darin liegt das Geheimnis der ungebrochenen Kraft Europas: im fruchtbaren Spannungsverhältnis zwischen Einheit und lebendiger Vielfalt unseres kulturellen Erbes.

Ich plädiere immer wieder leidenschaftlich dafür, dass dieses Europa der Regionen - ich würde lieber sagen der Landschaften - Wirklichkeit wird. Jeder von uns hat solche Wurzeln: Sie liegen in Sizilien, Bayern, Wales oder in der Provence. Italien, Deutschland, Großbritannien oder Frankreich sind unsere Vaterländer - das vereinte Europa unsere gemeinsame Zukunft. Dieses Europa soll kein nivellierter Kontinent, es soll ein buntes Bukett mit vielen kräftigen Farben werden. Ein europäischer Zentralstaat hätte - wie jeder Zentralstaat auf der Welt - keine Zukunft. Das Lebensgefühl unserer Generation und vor allem der jüngeren Generation geht glücklicherweise in eine andere Richtung. Heimat, Vaterland, Europa - das ist der Dreiklang der Zukunft.

Nicht zuletzt die ethnischen, sprachlich-kulturellen und religiösen Minderheiten prägen das Bild der Vielfalt, durch die Europa sich auch künftig auszeichnen soll. Sie dürfen aus dem Selbstverständnis der Nationen nicht ausgegrenzt werden, denn sie tragen zum kulturellen Reichtum jedes Volkes und letztlich ganz Europas bei. Niemand kann wollen, dass die Unterschiede zwischen den Regionen eingeebnet werden, dass Eigenheiten und unterschiedliche Charaktere gleichsam in einem Schmelztiegel verschwinden. Die Prinzipien der Subsidiarität und des Föderalismus haben sich bei uns und anderswo in vielfältiger Weise bewährt.

Auch und gerade auf dem Weg zu den „Vereinigten Staaten von Europa" wollen wir auf sie zurückgreifen und sie zum Gestaltungsprinzip des künftigen Europa machen. „Einheit in Vielfalt" ist nicht zuletzt Voraussetzung für die Kreativität und Schaffenskraft der Menschen in Wirtschaft und Politik, in Wissenschaft und Kultur.

Wenn wir in diesem Sinne fähig sind, aus der Geschichte zu lernen, wenn wir die Idee Europa, die Zukunft des Kontinents in diesem Sinne begreifen, dann werden die neunziger Jahre als ein bedeutendes Jahrzehnt in die Geschichtsbücher eingehen. Als Vorsitzender der CDU Deutschlands sage ich Ihnen, dass wir als eine der großen deutschen Volksparteien diese europäische Orientierung beibehalten werden.

Ich habe vor einigen Wochen vor Studenten in Kalifornien gesagt, dass man mit diesem Alten Kontinent wieder rechnen müsse. Und viele Studenten haben dort begeistert gejubelt. Hier in Europa sind wir zurückhaltender, weil wir meistens die Alltagssorgen vor Augen haben, die den Blick auf die Zukunft verstellen. Aber Europa ist heute nicht nur Gegenwart, seine Zukunft hat längst schon begonnen - obwohl das noch nicht alle begriffen haben. Ich darf Sie alle einladen, an einem Europa mitzubauen, das sich nach Jahrzehnten der widernatürlichen Teilung endlich wieder auf seine geistigen Fundamente besinnt.

Quelle: Broschüre, hrsg. von der Bundesgeschäftsstelle der CDU, Bonn o. J., S. 15-22.