4. Dezember 1986

Rede im Rahmen der Kulturdebatte des Deutschen Bundestages in Bonn

 

Mir geht es heute vor allem um die Auseinandersetzung und um die Diskussion zu Fragen der Geschichte unseres Landes. Unsere gemeinsame Kultur und Geschichte ist für mich ein festes Band für die Einheit der Nation.

Das gemeinsame Erbe unserer Kultur ist uns anvertraut, damit wir es an die nächste Generation weitergeben können. Nation ist natürlich mehr als nur die Gemeinsamkeit von Kultur, Geschichte und Sprache, aber die Teilung des Landes hat viele andere Gemeinsamkeiten beschnitten. Mauer und Stacheldraht trennen Familien und Freunde. Das Leben unserer Nation ist in eine unnatürliche Bahn gezwungen, politisch und wirtschaftlich und nicht zuletzt kulturell. Aber ich füge auch hinzu: Solange die Spaltung dauert, so lange ist die Teilhabe an der einen deutschen Kultur - es gibt eben nur die eine deutsche Kultur - vielleicht das stärkste Band gemeinsamer Identität aller Deutschen.

Wir wollen aus diesem Grund vielfältige kulturelle Kontakte mit den Deutschen in der DDR. Lange nicht alles, was wir uns wünschen, konnte bisher erreicht werden. Aber ich denke, das neue Kulturabkommen bietet eine große Chance zu mehr Gemeinsamkeit. Es schützt, ja es fördert die bereits bestehenden Kontakte und erleichtert den Aufbau von zusätzlicher Zusammenarbeit. Wir begreifen dieses Abkommen nicht als einen Endpunkt einer Entwicklung, sondern als einen guten Ausgangspunkt für Verbesserungen, für mehr kulturellen Austausch.

Unabhängig von der Form staatlicher Organisation ist Deutschland stets zuerst Kulturnation. Weil dies so ist, ist die Pflege der Kultur auch eine nationale Aufgabe. Unser Grundgesetz will ausdrücklich den Kulturstaat. Längst hat sich unser Land viel weiter als Kulturgesellschaft entwickelt, als es mit dem allgemein üblichen Etikett von der Industrienation gesagt werden kann: Ein freiheitlicher Staat bewährt sich in kultureller Vielfalt, in Pluralismus. Daraus erwächst auch Anziehungskraft.

Eine wichtige Voraussetzung dafür ist nach unserer Verfassungsordnung der Kulturföderalismus. Er bietet eine große Chance, dass Kulturpolitik, dass kulturelles Schaffen auf regionale Besonderheit eingestellt werden kann. Es ist durchaus die Frage zu stellen - ich stelle diese Frage als überzeugter Föderalist -, ob wir in der Entwicklung der letzten Jahre im Verhältnis zwischen Bund und Ländern - das gilt übrigens auch für das Verhältnis von Ländern zu Gemeinden - diesem Anspruch hinreichend gerecht wurden.

Kunst und Kultur sind seit langem nicht mehr Anliegen einer elitären Schicht. Sie sind Bestandteil im Lebensalltag unseres Volkes. Die Renaissance des Geschichtsbewusstseins nicht zuletzt und gerade bei jungen Menschen - übrigens diesseits und jenseits der Mauer - zeigt, wie lebenskräftig der Wille zur Selbstfindung ist. Die historische Standortbestimmung, die die Deutschen in der Bundesrepublik Deutschland und in der DDR suchen, darf jedoch nicht in falscher Idylle verweilen oder gar eine Rechtfertigung irgendwelcher Ideologie sein.

Wir Deutschen können uns unserer Geschichte nicht entziehen . Wir bekennen uns auch zu den schrecklichen und dunklen Kapiteln. Wir bagatellisieren sie nicht. Wir wissen, was in deutschem Namen anderen Völkern Schreckliches angetan wurde. Aber gerade weil wir uns dem nicht entziehen, dürfen wir auch dankbar sein für das andere, deutlich sichtbare großartige Erbe unseres Volkes. Zu unserer Geschichte gehört eben beides. Wer nach Weimar kommt, kann dort nicht nur in die Gruft Goethes und Schillers gehen, sondern in wenigen Autominuten auch hinauffahren zum Konzentrationslager und zur Erinnerungsstätte Buchenwald. Beides ist deutsche Geschichte. Deutsche Geschichte ist eben auch Luther und Kant, Dürer und Cranach, Heinrich Heine und Albert Einstein. Deutsche Geschichte ist das 19. Jahrhundert mit dem Hambacher Fest und der Paulskirche, mit der Reichsgründung unter Bismarck, ist der Erste und der Zweite Weltkrieg, der 20. Juli.

Niemand in Deutschland hat das Recht, für seinen Teil der gespaltenen und geteilten Nation nur die guten Erinnerungen der Geschichte zu reservieren, die schlimmen und die bösen aber den Nachbarn zuzuschieben. Und wir haben das in der Geschichte der Bundesrepublik auch nie getan. Ich brauche nur an die Diskussion zur Wiedergutmachung zu erinnern, um ein Beispiel dafür zu geben, dass alle Demokraten in der Bundesrepublik so dachten und handelten. Wer Luther feiert, wird auf die Dauer dem christlichen Gewissen seine Achtung nicht verweigern dürfen. Wer Friedrich den Großen würdigt, sollte seinen Leitspruch beherzigen, dass jeder nach seiner Fasson glücklich werden solle. Und wer Goethe einbürgern will, darf nicht das Erbe der Aufklärung ausschlagen.

Dass sich jetzt die politische Führung der DDR wieder stärker auf die deutsche Geschichte besinnt, hat besondere Motive: Weil der real existierende Sozialismus die Menschen nicht anspricht, soll die kommunistische Einparteienherrschaft durch eine einseitige Inanspruchnahme deutscher Geschichte abgestützt werden.

Wir dürfen deutsche Geschichte und Kultur nicht denen überlassen, die sie missbrauchen wollen. Wir wollen nicht, dass die Menschen manipuliert werden. Wir wollen, dass sie ihre eigene Überzeugung, ihr eigenes Bild davon gewinnen, wer wir Deutsche sind und wo wir in der Kontinuität der Geschichte stehen. Das ist ja auch die Anfrage gerade aus der jungen Generation.

Mit zwei Initiativen will die Bundesregierung dieses Nachdenken über unsere Geschichte fördern. In Berlin wird ein Deutsches Historisches Museum errichtet. Es soll der ganzen deutschen Geschichte gewidmet sein. Als Beitrag des Bundes zum 750. Geburtstag der Stadt werden wir 1987 den Grundstein dafür legen. Beim Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland in Bonn steht vor allem die Zeit nach 1945 im Mittelpunkt. Ich denke: es ist doch überfällig, die Geschichte unseres Staates im Zusammenhang darzustellen - des Staates, den die Deutschen wollten, die sich nach der Katastrophe des Nationalsozialismus frei entscheiden durften.

In beiden Fällen geht es nicht darum, ein quasi amtliches Geschichtsbild zu vermitteln. Ein solches Bild gibt es in einer freien Gesellschaft nicht. In Bonn und Berlin soll deutsche Geschichte so dargestellt werden, dass sich unsere Bürger darin wiedererkennen - auch in der kontroversen Auseinandersetzung. Offene und kontroverse Deutungen über die Vielfalt dieser Zeit müssen selbstverständlich möglich sein.

Die Bundesregierung hat mit den Vorarbeiten hervorragende Historiker und Museumsfachleute betraut. Sie arbeiten, wie sich jeder überzeugen kann, unabhängig, ohne Vorgabe zu Inhalt und Form. Ich möchte allen, die mitwirken, herzlich danken. Lassen Sie mich angesichts mancher Kontroverse hinzufügen: Beiden Projekten tut eine intensive öffentliche Debatte gut, wenn sie an der Sache orientiert ist. Als Gegenstand parteipolitischer Auseinandersetzung, Verleumdung oder Diffamierung aber sind sie überhaupt nicht geeignet.

Keine Regierung kann und darf - und für mich darf ich sagen: will - eine bestimmte Geschichtsauffassung diktieren. Der freiheitliche Staat kann sich nicht als Richter der Kunst verstehen. „Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei", so heißt es kategorisch in Artikel 5 unseres Grundgesetzes. Das ist doch ein wichtiger Ertrag des Lernens aus der Geschichte, aus der Erfahrung der Nazi-Barbarei.

In diesen Wochen erscheint mit Unterstützung der Bundesregierung eine Dokumentation über Malerei und bildende Kunst, die vom Hitler-Regime als „undeutsch" und „entartet" denunziert und verfemt wurden. Die Publikation ist Tribut und ehrendes Andenken an die Künstler der äußeren und inneren Emigration und ihre Kunst, die sich nicht vom Geist der Barbarei ersticken ließ.

Kulturelle Entwicklung braucht den Streit der Meinungen, den Wettstreit der Ideen, auch die Konkurrenz von Lebensvorstellungen. Wir wollen dabei nicht nur an künstlerische Spitzenleistungen denken, sondern wir brauchen auch die breite kulturelle Entfaltung. Immer mehr Menschen sind bereit, teilweise beachtliche Teile ihres Einkommens kulturellen Bedürfnissen zu widmen. Immer mehr Menschen wollen künstlerisch selbst tätig werden. Es ist doch nicht wahr, dass das Fernsehzeitalter dies alles erstickt hat. Die Motivation ist, wenn Sie etwa in Jugendmusikschulen gehen, doch deutlich zu erkennen. Die Menschen wollen schöpferisch sein - beim Musizieren, beim Malen, beim künstlerischen Gestalten, in Theatergruppen, in der Literatur. Die Renaissance der Lyrik, die schon totgesagt war, ist ein Beispiel.

Die Ausgestaltung unserer Kulturgesellschaft ist eine der wichtigsten Zukunftsaufgaben. Kultur darf nicht in Nischen verbannt werden, sie muss die Wirklichkeit des Landes durchdringen. Hier bieten sich Perspektiven einer Weiterentwicklung unserer wissenschaftlich-technischen Zivilisation. Sie kann jenseits der Grenzen ihrer zweckrationalen Verfasstheit vom Pluralismus der Lebensformen und -entwürfe menschlicher gestaltet und vielfältig bereichert werden.

Paul Tillich hat Kultur einmal gekennzeichnet als „das vom Menschen inszenierte symbolische Universum'". Gerade so - als eine sinngebende Gestaltungskraft - geht vom kulturellen Schaffen große Faszination aus. Vor allem in einer modernen, stark von Nummern und Daten beherrschten Welt spricht das die Menschen an. Wo es dabei um Kunstförderung im engeren Sinn geht, sollten für uns zwei Kriterien bestimmend sein: die Kreativität der Kunst und der notwendige Freiraum, den Kunst braucht. Das bedeutet ein klares Bekenntnis zum Pluralismus. Wer ex cathedra für sich und seine Meinung in Anspruch nimmt, dass diese oder jene Richtung oder Qualifikation die einzig mögliche ist, versagt bei dieser entscheidenden Herausforderung einer offenen Gesellschaft.

Dabei gilt freilich auch: Kunst wird zur Kultur, wenn sie Menschen fesselt. Sie verlöre ihren Sinn, wenn sie die Menschen gar nicht mehr ansprechen wollte und nur zum Selbstzweck geriete. Bei der staatlichen Kunstförderung - das war zu allen Zeiten, in allen Kulturepochen ein besonderes Problem - geht es immer auch um die richtige Balance zwischen Maß und Wagnis. Kultur lässt sich nur mit Aufgeschlossenheit bewahren, auch gegenüber den Zeitgenossen. Kultur ist auch das Angebot zur Selbstdarstellung unserer Nation im Ausland. Wir wollen diese Chance auf keinen Fall auslassen. Dazu gehört, dass wir auch neue Wege der Förderung unserer Muttersprache gehen.

Wer in der auswärtigen Kulturpolitik die Pflege der eigenen Muttersprache vernachlässigt, kann auf die Dauer die Kultur des Landes nicht richtig darstellen. Wir wollen deshalb in der nächsten Legislaturperiode vor allem jenseits unserer Grenzen eine groß angelegte Aktion zur Förderung der deutschen Sprache einleiten. Aber auch in den Schulen unseres Landes ist sicherlich noch mehr Pflege der Sprache am Platze. Ob im Ausland oder bei uns selbst: Bei der Kulturpolitik geht es nicht um anonyme Institutionen, es geht überhaupt nicht um abstrakte Theorien. Kulturpolitik muss den Menschen als zentralen Bezugspunkt haben - seine personale Entfaltung, seine Gestaltungskraft und auch die schöpferische Entwicklung der Gesellschaft selbst.

Ich hoffe, dass wir in der nächsten Legislaturperiode - wie ich hoffe, unter insgesamt günstigeren materiellen Bedingungen, - auf diesem Weg ein wesentliches Stück vorankommen.