4. Dezember 1996

Rede bei der Barbara-Feier des mitteldeutschen Braunkohlereviers in Leipzig

 

Meine Herren Minister,
meine Damen und Herren Abgeordnete,
lieber Herr Professor Bilkenroth,
liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter,
meine sehr verehrten Damen und Herren,

I.

in der Eröffnungsrede, die wir gerade gehört haben, war zu Recht die Rede von Problemen und Herausforderungen, vor denen Sie hier im mitteldeutschen Revier stehen. Zugleich klang aber auch der Stolz auf das an, was in den vergangenen sechs Jahren seit der Wiedervereinigung Deutschlands erreicht worden ist. Als ich vor über zehn Jahren zum ersten Mal in diese Region gereist bin, lag für mich - ebenso wie für viele andere - die Vorstellung, daß wir heute gemeinsam das Fest der Heiligen Barbara feiern würden, in weiter Ferne. Der heutige Tag ist deshalb für mich - und dies werden Sie sicher ähnlich empfinden - bei allen Sorgen, die wir natürlich auch haben, zuallererst ein Grund zur Dankbarkeit.

Der Tag der Heiligen Barbara ist der Tag der Bergleute. Ihre Arbeit unter Tage oder im Tagebau in den deutschen Kohlerevieren hat die Grundlage für das Entstehen einer industriellen Landschaft in Deutschland geschaffen. Ohne den Einsatz der Bergleute hier im mitteldeutschen Revier, in der Lausitz und ebenso an Rhein, Ruhr und Saar wäre der industrielle Wiederaufbau unseres zerstörten Landes nach dem Zweiten Weltkrieg nicht denkbar gewesen.

Gerade auch vor diesem Hintergrund stelle ich mit Blick auf die Diskussion über die Zukunft der deutschen Kohle fest, daß jene, die über dieses Thema in einer Manier der Tabula rasa sprechen, schlechte Ratgeber sind. Ich sage mit aller Deutlichkeit: Der deutsche Bergbau wird mit Sicherheit nicht zu einem Museumsbergbau verkommen. Ich zähle bei den schwierigen Fragen, die wir in diesem Zusammenhang jetzt zu bewältigen haben, auf vernünftige Gespräche und auf ein konstruktives Miteinander.

Die Bundesregierung hat sich nach der Wiedervereinigung Deutschlands von Beginn an dafür eingesetzt, daß die ostdeutsche Braunkohle bei der Energieversorgung unseres Landes einen angemessenen Platz erhält. Ich habe mich damals auch persönlich in die Bemühungen um die Privatisierung der ostdeutschen Braunkohle eingeschaltet. Allerdings war eine Neustrukturierung der ostdeutschen Energiewirtschaft unumgänglich. Viele Menschen haben dabei ihren Arbeitsplatz verloren.

Bei einem zukünftigen Rückblick auf diese schwierige Zeit - davon bin ich überzeugt - wird man einmal feststellen, daß die Menschen die ungeheuren Herausforderungen und auch persönlichen Umstellungen in einer Bereitschaft des Miteinanders gemeistert haben. Dies gehört zu den großen wirtschaftspolitischen Erfolgen der deutschen Wiedervereinigung. Mein besonderer Respekt und meine Hochachtung gelten den Gewerkschaften und den Betriebsräten, die Mitverantwortung übernommen haben für schwierige Entscheidungen, die notwendig waren, um der ostdeutschen Braunkohle eine gute Zukunft zu sichern. Sie haben damit ein vorbildliches Beispiel für alle in Deutschland gegeben, wie große Probleme in gemeinsamer Verantwortung bewältigt werden können.

Heute können wir feststellen, daß die Anstrengungen der letzten Jahre sich gelohnt haben. Die ostdeutsche Braunkohle ist inzwischen fester Bestandteil der deutschen Energiewirtschaft. Der Braunkohlebergbau hier und in der Lausitz ist ein wichtiger industrieller Kern in den neuen Bundesländern. Mitte Juli dieses Jahres ist in meinem Beisein ein Braunkohlekraftwerk modernster Bauart in Schkopau feierlich in Betrieb genommen worden. Dieses Kraftwerk ist Energielieferant für das ostdeutsche Chemiedreieck.

Insgesamt wird von 1990 bis zum Jahr 2000 in einer Größenordnung von rund 20 Milliarden D-Mark in die Modernisierung des Braunkohletagebaus sowie in neue Kraftwerke investiert. All dies sind unverzichtbare Voraussetzungen für eine dauerhaft positive wirtschaftliche Entwicklung in Ostdeutschland. Deshalb wünsche ich mir, daß die Stromabnehmer hier in den neuen Bundesländern die Energie aus heimischer Braunkohle in noch stärkerem Umfang nutzen als dies bisher geschieht.

Meine Damen und Herren, die ostdeutsche Braunkohle ist heute nicht nur ein wettbewerbsfähiger, sondern auch ein zunehmend umweltverträglicher Brennstoff. Dazu gehört, daß stillgelegte Gruben ohne Schaden an die Natur zurückgegeben werden. In den letzten Jahrzehnten sind der Umwelt mit großer Rücksichtslosigkeit schlimme Wunden geschlagen worden. Vergiftete Böden, ein zerstörter Wasserhaushalt der Natur, eine verunstaltete Landschaft - dies muß der Vergangenheit angehören.

Die schrittweise Beseitigung dieser gewaltigen ökologischen Altlasten zählt zu den besonders wichtigen Aufgaben. Bereits 1991 und 1992 hat die Bundesanstalt für Arbeit Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in Höhe von einer Milliarde D-Mark für Sofortmaßnahmen bereitgestellt. Seit 1993 haben Bund und ostdeutsche Braunkohleländer die Altlastensanierung mit jährlich bis zu 1,5 Milliarden D-Mark finanziert.

Dieses Geld ist gut angelegt - vieles ist erreicht worden. Rund 20000 Hektar Land wurden wieder aufgeforstet, 40 Millionen Bäume und Sträucher wurden gepflanzt. Viele Bergleute haben hier eine neue Heimat und eine neue Tätigkeit gefunden. Für ihre Arbeit gilt ihnen ein Wort des Dankes. Sie leisten einen ganz wichtigen Beitrag, um den guten Ruf der Braunkohle wieder herzustellen, zu befestigen und in die Zukunft zu führen.

Die Sanierungsarbeiten sind, wie Sie alle wissen, noch längst nicht beendet. Die Finanzierung für 1997 war bisher offen, für die Anschlußfinanzierung ab 1998 gab es noch keine Regelung. Ich freue mich, Ihnen heute mitteilen zu können, daß die Finanzierung der Braunkohlealtlastensanierung für 1997 jetzt in voller Höhe von bis zu 1,5 Milliarden D-Mark gesichert ist.

Der Bund und die betroffenen Länder Brandenburg, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen sind darüber hinaus am 28. November 1996 - hier hat die Heilige Barbara positiv gewirkt - übereingekommen, kurzfristig einen bedarfsgerechten Finanzrahmen für den Zeitraum 1998 bis 2002 festzulegen. Für den Zeitraum nach 2002 werden Bund und Länder rechtzeitig einen möglichst bedarfsgerechten Finanzrahmen festlegen. Ich denke, dies ist eine gute Botschaft und eine zukunftsweisende Perspektive für Arbeitsplätze und Lebensbedingungen der Menschen hier im mitteldeutschen Revier und in der Lausitz.

II.

Meine Damen und Herren, in den vergangenen zwei Tagen habe ich in Lissabon an der Gipfelkonferenz der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa teilgenommen. In Gesprächen mit vielen Kollegen war mit Händen zu greifen, wie tiefgreifend die Veränderungen in der Welt und in Europa sind. Ich nenne nur den Wegfall des Ost-West-Gegensatzes und die neuen Kommunikationstechnologien, die die weltwirtschaftliche Arbeitsteilung nachhaltig beeinflussen werden. Darauf müssen wir uns in Deutschland einstellen. Wenn wir - ich sage es in der Sprache des Fußballs - auch zukünftig um den Weltcup mitspielen wollen, müssen wir bereit sein, unsere Trainingsmethoden, unsere Trainingszeiten und unsere Strategie auf dieses Ziel zu programmieren. Es geht mit einem Wort darum, Zukunft zu sichern. Wir haben die großartige Chance - Professor Bilkenroth hat es in seiner Eröffnungsrede angesprochen -, in wenigen Jahren anläßlich der EXPO 2000 in Hannover der Welt zu zeigen, was wir können. Diese Chance sollten wir nutzen.

Deutschland ist - nach den USA - die zweitgrößte Exportnation der Welt. Wenn wir diesen Platz halten wollen - und das wollen wir doch - dann müssen wir noch stärker zur Kenntnis nehmen, was in der Welt um uns herum geschieht. Ich denke zum Beispiel an die zunehmende Bedeutung leistungsstarker Volkswirtschaften aus Asien. Der Anteil der ostasiatischen Schwellenländer am Welthandel hat sich seit 1970 von zweieinhalb Prozent auf heute mehr als zehn Prozent vervierfacht. Dagegen ist der deutsche Anteil im gleichen Zeitraum von fast zwölf Prozent auf rund neun Prozent geschrumpft. Mit einem Wort: Unsere Exporte haben zwar noch zugenommen, aber nicht mehr so stark wie der Welthandel.

Unmittelbar vor unserer eigenen Haustür, in Mittel- und Osteuropa, haben sich die ehemaligen Ostblockländer auf den Weg gemacht, wirtschaftlich zum Westen aufzuschließen. Die Entwicklung unserer Nachbarn zu Demokratie, Rechtsstaat und Marktwirtschaft ist für uns ein Grund zu Freude. Wir wollen, daß diese Länder, ich nenne stellvertretend Tschechien, Ungarn, Rußland und die Ukraine, trotz aller Schwierigkeiten dabei erfolgreich sind.

Die Alternative wäre ein Rückfall in alte Strukturen und Bedrohungen. Vor zehn Jahren - daran will ich bei dieser Gelegenheit erinnern - haben wir in der NATO sehr kontrovers über die Stationierung von Kurzstreckenraketen in Deutschland gesprochen. Die Hilfe zur Selbsthilfe, die wir den Reformländern Mittel- und Osteuropas heute gewähren, ist eine Investition in den Frieden auf unserem Kontinent.

Nicht zuletzt eröffnen ein erfolgreicher Reformprozeß und das Entstehen neuer Märkte in diesen Ländern große Chancen für unsere Exportwirtschaft. Auf der anderen Seite ergibt sich natürlich auch ein stärkerer Konkurrenzdruck. Dies kommt zum Beispiel in deutlichen Lohnkostenunterschieden zum Ausdruck. Die Löhne in Prag oder Warschau betragen nur einen Bruchteil des deutschen Niveaus. Natürlich kann die Konsequenz nicht lauten, in einen Wettlauf um niedrige Löhne einzutreten. Wir müssen aber darüber nachdenken, wie wir die hohen Arbeitskosten in Deutschland senken können.

Gefragt ist mehr Kreativität bei den Arbeitszeiten. Ich denke zum Beispiel an mehr Teilzeitarbeit und an die Einführung von Arbeitszeitkonten. Die Tarifpartner sind gefordert, hier vermehrt zu Lösungen zu kommen, die die Wettbewerbsfähigkeit von Arbeitsplätzen in Deutschland stärken. Dafür ist es notwendig, daß man wieder stärker miteinander und nicht übereinander spricht. Wir brauchen einen Pakt der Vernunft zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden, den gemeinsamen Willen, in den Auseinandersetzungen des Tages wieder stärker das erprobte Miteinander zu suchen. Auf dieser Basis haben wir eine gute Chance, die Herausforderungen der Zukunft in Deutschland zu lösen.

Meine Damen und Herren, dramatische Veränderungen kommen nicht nur aus der Weltwirtschaft auf uns zu. Auch bei uns zu Hause kommt es zu Entwicklungen, deren Konsequenzen uns alle betreffen. Ich denke zum Beispiel an den Altersaufbau unserer Bevölkerung. Es ist für mich immer wieder erstaunlich festzustellen, daß in dieser zentralen Frage wichtige Fakten nicht ausreichend zur Kenntnis genommen werden. Tatsache ist: Deutschland gehört zu den Ländern mit der niedrigsten Geburtenrate in Europa. Daran wird sich in absehbarer Zeit nach aller Voraussicht wenig ändern. Die Zahl der Single-Haushalte ist in der Vergangenheit stetig gestiegen.

Darüber hinaus wächst der Anteil der älteren Menschen in unserer Bevölkerung. Ich mache dies anhand eines einprägsamen Beispiels deutlich: Die Zahl der Menschen, die 100 Jahre und älter sind, hat sich von gut 1000 im Jahre 1980 auf über 4500 in diesem Jahr mehr als vervierfacht. Die Lebenserwartung nimmt zu. Sie betrug vor über 100 Jahren, als Bismarck die Alterssicherung eingeführt hat, gerade 45 Jahre. Das Renteneintrittsalter wurde damals auf 70 Jahre festgesetzt. Bis heute ist die Lebenserwartung auf über 75 Jahre gestiegen.

Es ist deshalb unsere Pflicht, heute ernsthaft und nüchtern über die Renten von morgen zu diskutieren. Wir müssen offen darüber sprechen, wie wir den jungen Menschen auf die Frage nach ihrer Altersversorgung antworten, die sie erwarten können, wenn sie in der Mitte des nächsten Jahrhunderts in Rente gehen. Natürlich gibt es dafür kein Patentrezept. Die Bundesregierung hat eine Kommission eingesetzt, die zu Beginn des nächsten Jahres Vorschläge für die Fortentwicklung der Rentenversicherung vorlegen wird. Es geht darum, die Funktionsfähigkeit und Finanzierbarkeit unseres Systems der Alterssicherung für die Zukunft zu sichern.

III.

Meine Damen und Herren, bei allen notwendigen Veränderungen haben wir keinen Anlaß, den Standort Deutschland schlechtzureden. Unser Land verfügt über eine ausgezeichnete Infrastruktur. Ich erinnere nur an den Neubau der Messe und den Ausbau des Flughafens hier in Leipzig. Wir haben darüber hinaus in unserem Land eine ausgewogene Wirtschaftsstruktur mit einem leistungsfähigen Mittelstand. Wir sind ein wohlhabendes Land, dem es möglich ist - und dies wird in aller Welt bewundert -, in den Jahren von 1990 bis 1996 rund 750 Milliarden D-Mark von West- nach Ostdeutschland zu transferieren. Dieses Geld ist gut angelegt. Wir haben damit ein großartiges wirtschaftliches und soziales Aufbauwerk angestoßen.

Die Arbeitnehmer in Deutschland sind hervorragend qualifiziert. Das duale System der Berufsausbildung genießt weltweite Anerkennung. Im Ausland will man hier von uns lernen, ich nenne in diesem Zusammenhang die Volksrepublik China und Indonesien. Vor diesem Hintergrund habe ich wenig Verständnis dafür, daß der eine oder andere über eine zu große Zahl von Lehrlingen klagt. Es ist richtig: Die Zahl der Lehrlinge wird in den nächsten zehn Jahren noch weiter ansteigen. Dies ist ein Anlaß zur Freude. Hochqualifizierte junge Menschen sind das Kapital für eine gute Zukunft des Standortes Deutschland.

Meine Damen und Herren, unser Land hat gute Zukunftschancen, wenn wir die Zeichen der Zeit erkennen und handeln. Die Anzeichen für eine deutliche konjunkturelle Belebung mehren sich. Alles spricht dafür, daß sich der Auf- schwung im nächsten Jahr beschleunigen wird. Die Voraussetzungen dafür sind günstig. In Deutschland herrscht faktisch Preisstabilität. Die Zinsen befinden sich auf einem historischen Tiefstand. Die Tarifabschlüsse dieses Jahres sind insgesamt wesentlich wettbewerbsorientierter als in den Jahren zuvor. Die lebhafte Weltkonjunktur wird unserer Exportwirtschaft weitere Impulse geben. Nicht zuletzt hat sich die Aufwertung der D-Mark vom Frühjahr 1995 mittlerweile praktisch zurückgebildet.

Das Wiederanspringen der Konjunktur wird jedoch nicht ausreichen, um die Arbeitslosigkeit in Deutschland durchgreifend zu verringern. Das Schaffen neuer Arbeitsplätze ist und bleibt die innenpolitische Aufgabe Nummer eins. Diese Aufgabe ist lösbar. Von 1983 bis 1992 ist es schon einmal gelungen, drei Millionen zusätzliche Arbeitsplätze in der alten Bundesrepublik zu schaffen. Auch heute haben wir - trotz des Beschäftigungsrückgangs der letzten Jahre - noch 1,5 Millionen Arbeitsplätze mehr als 1983. Wenn die Arbeitslosigkeit heute trotzdem höher ist als damals, hat dies auch damit zu tun, daß viele Zuwanderer auf den deutschen Arbeitsmarkt geströmt sind - allein vom 1988 bis 1993 über 2,5 Millionen.

Bei der Diskussion über neue Beschäftigungsmöglichkeiten müssen wir stärker über die Frage reden, wo zusätzliche Arbeitsplätze entstehen können. In den international tätigen Großunternehmen wird die Zahl der Arbeitsplätze auf absehbare Zeit kaum wieder steigen. Sie sind gezwungen, sich auf neu entstehenden Märkten zu engagieren und dort auch in Produktionsstätten zu investieren. Dies ist nicht zuletzt wichtig, um die Arbeitsplätze dieser Unternehmen in Deutschland zukunftssicher zu machen.

Motor der Beschäftigung in Deutschland ist und bleibt die mittelständische Wirtschaft. Von 1990 bis 1995 sind hier eine Million neue Arbeitsplätze geschaffen worden. In Großunternehmen wurden dagegen rund 750000 Stellen abgebaut. Deshalb brauchen wir eine breite Gründerwelle im Mittelstand. Jeder Existenzgründer gibt im Durchschnitt vier Menschen Arbeit. Wir müssen in unserer Gesellschaft ein Klima schaffen, das junge Menschen ermutigt, sich eine eigene Existenz aufzubauen. Sie verdienen dafür unsere Anerkennung und Unterstützung. Es ist ein Alarmsignal, wenn mehr als 50 Prozent aller Hochschulabsolventen in Deutschland in den Öffentlichen Dienst streben, aber keine 15 Prozent ein eigenes Unternehmen gründen wollen. Mit Sicherheitsdenken werden wir die Herausforderungen der Zukunft nicht meistern.

Das Schaffen wettbewerbsfähiger Beschäftigung hat auch etwas mit gesunden öffentlichen Finanzen zu tun. In Deutschland wird inzwischen jede zweite erwirtschaftete D-Mark vom Staat verteilt. Damit sind Zukunftsarbeitsplätze nicht zu gewinnen. Wir müssen die Freiräume für private Initiative und beschäftigungschaffende Investitionen vergrößern. Deshalb müssen wir die Konsolidierung der öffentlichen Haushalte entschlossen fortsetzen. Es ist unser klares Ziel, die Defizitobergrenze von 53,3 Milliarden D-Mark im Bundeshaushalt 1997 ohne Wenn und Aber einzuhalten.

Meine Damen und Herren, wir werden die Probleme, vor denen wir in Wirtschaft und Gesellschaft stehen, ungeachtet aller materiellen Schwierigkeiten lösen, wenn wir sie mit der richtigen inneren Einstellung angehen. Dazu gehört, daß wir die Bedeutung einer moralischen Werteordnung für unsere Gesellschaft wieder stärker erkennen. Die mißbräuchliche Inanspruchnahme von Sozialleistungen, Steuerhinterziehung, Subventionsbetrug: Diese schlimmen Vergehen gegen die große Mehrheit der ehrlichen Bürger müssen wir kompromißlos bekämpfen.

Wir müssen überall in unserer Gesellschaft Front machen gegen Trittbrettfahrer, die - ohne selbst etwas zu tun - Leistungen von anderen in Anspruch nehmen. Als Kinder haben wir von unseren Eltern häufig den Satz gehört: So etwas tut man nicht! Dieser Satz gilt auch für das Zusammenleben in unserer Gesellschaft. Wir müssen uns untereinander darauf verlassen können, daß es eine breite Mehrheit in der Bevölkerung gibt, die bei der Lösung anstehender Probleme eben nicht den schnellen Vorteil auf Kosten anderer sucht, sondern aus moralischer Überzeugung sagt: So etwas tut man nicht - auch wenn es nicht im Gesetz steht.

IV.

Meine Damen und Herren, wir haben seit der Wiedervereinigung Deutschlands vor sechs Jahren eine gewaltige Wegstrecke beim Aufbau Ost zurückgelegt. Die Umstrukturierung und der Neuaufbau der ostdeutschen Wirtschaft sind jedoch noch längst nicht abgeschlossen. Eine große Wegstrecke liegt noch vor uns. Zu den besonders schwierigen Erfahrungen gehört für mich der plötzliche Zusammenbruch der sowjetischen Märkte gleich zu Beginn des Aufbaus Ost. Dies hatte den abrupten Wegfall traditioneller Handelsbeziehungen der ostdeutschen Wirtschaft zur Folge. Zu den positiven Erfahrungen der Wiedervereinigung zählt für mich die gelebte Solidarität zwischen beiden Teilen Deutschlands. Ich denke dabei an die schnelle Anpassung der Renten für die älteren Mitbürger in den neuen Bundesländern.

Ich bekenne mich zu dieser Entscheidung, die ich im Jahre 1990 - gegen den Rat vieler Experten - maßgeblich mit herbeigeführt habe. Für mich war und ist es nicht akzeptabel, daß die älteren Menschen - bildlich gesprochen - in Frankfurt an der Oder auf Dauer nur den Bruchteil der Altersbezüge eines Rentners in Frankfurt am Main beziehen, weil sie durch vier Jahrzehnte kommunistischer Zwangsherrschaft daran gehindert wurden, sich eigene Rentenansprüche zu erarbeiten. Noch 1990 betrug die Rente in Ostdeutschland nach 45 Versicherungsjahren 470 bis 600 Ost-Mark. Heute sind es 1600 D-Mark. Dies ist für mich ein besonders erfreuliches Kapitel der deutsch-deutschen Solidargemeinschaft.

Meine Damen und Herren, deutsche Einheit und europäische Einigung sind zwei Seiten derselben Medaille. Wir stehen in Europa vor der Aufgabe, den Integrationsprozeß weiter voranzubringen und unumkehrbar zu machen. Wir sind entschlossen, die Regierungskonferenz zur Überprüfung und Fortentwicklung des Maastrichter Vertrages im 1. Halbjahr 1997 erfolgreich abzuschließen. Und Europa wird sich eine neue gemeinsame Währung geben. Die Vollendung der Europäischen Währungsunion kräftigt unsere Wettbewerbsposition gegenüber Konkurrenten aus den Dollar- und Yen-Währungsräumen. Damit werden wir den Standort Europa weiter stärken.

Der Bau des Hauses Europa und die europäische Einigung sind jedoch letztlich vor allem eine Frage von Krieg und Frieden im 21. Jahrhundert. Dies haben uns die erschreckenden Bilder aus dem früheren Jugoslawien - nur wenige Flugstunden vom Leipziger Flughafen entfernt - bewiesen. Noch vor sechs Jahren hätten wir eine solche Entwicklung für unmöglich gehalten. Wir müssen alles daran setzen, daß es dort zu einer dauerhaft friedlichen Lösung kommt. Wir leisten unseren Beitrag dazu, indem wir Soldaten unserer Bundeswehr für einen Friedensdienst dorthin entsenden.

Die Lehre aus dem Krieg in Jugoslawien muß lauten, aus der Geschichte zu lernen und ungeachtet aller anderen wichtigen Herausforderungen das Notwendige zu tun, um Frieden und Freiheit im 21. Jahrhundert zu bewahren. Die Chancen dafür sind gut. Zum ersten Mal in der Geschichte der Deutschen haben wir exzellente Beziehungen mit Washington, mit Paris, mit London und mit Moskau. Deutschland wird als Partner und vielfach auch als Freund geschätzt. Man vertraut uns, und man vertraut dem, was wir aus den Erfahrungen der Geschichte gestalten. Dies ist ein Aktivposten, den man bei der Diskussion über den Standort Deutschland stärker berücksichtigen sollte.

Meine Damen und Herren, in diesem Sinne möchte ich mit Ihnen auf eine gute Zukunft anstoßen. Dafür steht mir, wie ich feststellen muß, lediglich ein Glas Wasser zur Verfügung. Ich erinnere mich an Zeiten, in denen Bergleute den Wunsch auf eine gute Zukunft mit einem Glas Schnaps besiegelt haben und schließe daraus, daß im mitteldeutschen Revier die Modernität Einzug gehalten hat. Ich greife dies gerne auf, hebe mein Glas und trinke - in einer Simulation mit Wasser - auf Ihr Wohl, auf die gute Zukunft des mitteldeutschen Braunkohlereviers und auf die Zukunft unseres Landes. Ihnen allen ein herzliches Glückauf!

Quelle: Bulletin der Bundesregierung. Nr. 2. 6. Januar 1997.