4. Dezember 1996

Ansprache anlässlich des Jahresempfangs für das Diplomatische Korps im Palais Schaumburg in Bonn

 

Sehr geehrter Herr Nuntius,

Exzellenzen,

meine sehr verehrten Damen und Herren,

ich freue mich, daß ich das Diplomatische Korps zu dem traditionellen Jahresempfang im Palais Schaumburg willkommen heißen kann. Mein ganz besonderer Gruß gilt denjenigen Missionschefs, die im Laufe dieses Jahres als Repräsentanten ihres Landes neu zu uns gekommen sind. Ich hoffe, Sie haben sich gut eingelebt und fühlen sich in Deutschland wohl.

Meine Damen und Herren, Deutschland steht im siebten Jahr nach der wiedererlangten Einheit vor wichtigen innen- und außenpolitischen Herausforderungen. Die dramatischen Veränderungen in der Weltwirtschaft, zunehmende Globalisierung und internationaler Wettbewerb fordern ein Umdenken auch in unserem Land. Wir stellen uns diesen Herausforderungen.

Wir wollen und müssen - wie viele unserer Nachbarn und Partner in anderen Teilen der Welt und vor allem in Europa -, die Bürgerinnen und Bürger davon überzeugen, daß unser Land auf die neuen Herausforderungen vorbereitet werden muß. Dafür wollen wir Verständnis wecken und die notwendigen Entscheidungen durchsetzen.

In einer Weltwirtschaft, in der nationale Grenzen ökonomisch immer weniger eine Rolle spielen, gelten andere Regeln, als wir dies für lange Zeit auch bei uns in Deutschland gewöhnt waren. Heute müssen wir Deutsche uns mehr denn je - vor allem als eine der großen Exportnationen der Welt - auf den internationalen Wettbewerb einstellen. Umstrukturierungen und Veränderungen sind unerläßlich.

Ich halte diese Korrekturen für unabdingbar, um unsere Zukunft zu sichern. Die Menschen in Deutschland haben übrigens längst begriffen, daß wir echte, durchgreifende Veränderungen in Wirtschaft und Gesellschaft brauchen, um mehr Wachstumsdynamik zu ermöglichen und Beschäftigungshemmnisse zu beseitigen, um Arbeitsplätze zu sichern und neue Arbeitsplätze zu schaffen.

Meine Damen und Herren, seit der Wiedervereinigung unseres Landes in Frieden und Freiheit haben wir mit vereinten Kräften schon vieles erreichen können. Ich hoffe, viele von Ihnen hatten bereits Gelegenheit, einmal selbst in die neuen Bundesländer zu reisen. Diejenigen, die dies bisher noch nicht tun konnten, möchte ich herzlich einladen, dies ebenfalls zu tun.

Unsere Investitionen in die Zukunft Ostdeutschlands sind zugleich Investitionen für ein friedliches und geeintes Europa auf dem Weg in das 21. Jahrhundert. Dies gilt um so mehr vier Jahre vor dem Ende dieses Jahrhunderts und dem Ende dieses Jahrtausends, das so viel Not und Elend sah. Unser großes Ziel ist die feste Integration Deutschlands in ein sich immer enger zusammenschließendes Europa. Auch hierfür müssen wir - wie viele unserer europäischen Nachbarn und Partner auch - in unserem Land Veränderungen auf den Weg bringen. Das, was wir in Deutschland jetzt zu tun haben, tun wir nicht nur im eigenen Interesse. Stabilität und Aufschwung in Deutschland nutzen ganz Europa. Sie bieten vor allem auch die Gewähr, daß wir unserer Verantwortung in der Staatengemeinschaft gerecht werden können.

Für uns bleibt ein entscheidendes Ziel deutscher Politik der Bau des Hauses Europa. Die Entwicklung in Europa soll irreversibel sein, die Entscheidungen endgültigen Charakter haben. Die weitere Vertiefung der Europäischen Union und ihre Erweiterung vor allem auch nach Osten bleiben ebenfalls unverändert Ziel deutscher Politik. Dies ist mir ein besonderes persönliches Anliegen. Beim Europäischen Rat in Dublin in wenigen Tagen wollen wir den europäischen Einigungsprozeß in diesem Sinne ein weiteres Stück voranbringen. Dabei wird sich die ausgezeichnete deutsch-französische Zusammenarbeit, die auf der festen Freundschaft unserer Länder beruht, einmal mehr als Motor erweisen.

Unser Ziel ist ein lebendiger, dezentraler Verbund der Nationen und Regionen Europas. Das Schlagwort vom "europäischen Superstaat" ist abwegig. Ein europäischer Zentralismus ist mit uns Deutschen nicht zu machen. Gerade die Vielfalt Europas, seine mannigfaltigen kulturellen Traditionen und seine regionalen Besonderheiten sind Quelle seines Reichtums.

Die Regierungskonferenz der Europäischen Union ist eine bedeutende Etappe der Europäischen Agenda der nächsten Jahre. Darüber hinaus nenne ich zwei weitere ebenso wichtige Schritte: Zum einen geht es um den Übergang zur dritten Stufe der Wirtschafts- und Währungsunion. Die Bundesregierung tritt ohne Einschränkung dafür ein, die Wirtschafts- und Währungsunion zum vorgesehenen Zeitpunkt zu verwirklichen, und dies selbstverständlich unter Einhaltung der vertraglich vereinbarten Kriterien. Ich rate uns selbst - und allen anderen in Europa auch -, daß wir jetzt nicht in Spekulationen darüber verfallen, wenn gemäß dem Maastricht-Vertrag im Frühjahr 1998 bestimmt wird, wer diesen ersten Schritt mitgehen kann. Ich sage das einfach in meiner Art, wie ich es zu Hause gelernt habe: Man muß erst seine eigenen Hausaufgaben machen, bevor man über die Hausaufgaben anderer spricht. Zum anderen bleibt die Erweiterung der Europäischen Union eine zentrale Gestaltungsaufgabe. Wir sind uns der damit verbundenen wirtschaftlichen Herausforderungen durchaus bewußt. Wir wissen, was dies für die Institutionen bedeutet.

Gerade für uns Deutsche ist es aber ein besonderes Anliegen, daß die Grenze zwischen Deutschland und Polen nicht auf Dauer die Ostgrenze der Europäischen Union bleibt. Deutschland wird daher die mittel- und osteuropäischen Staaten auf ihrem Weg in die Europäische Union auch weiterhin nach Kräften unterstützen. Wir wollen die Beziehungen zu den Nachbarregionen Europas im Osten und Süden ausbauen. Mit der Konferenz von Barcelona vor gut einem Jahr ist das Fundament für eine neue Partnerschaft zwischen der Europäischen Union und den nichteuropäischen Mittelmeerländern gelegt worden.

Im Nahen Osten, dessen Schicksal Europas Lebensnerv unmittelbar berührt, gilt es, die Möglichkeiten für einen dauerhaften Frieden beherzt zu nutzen. Trotz der Rückschläge in den vergangenen Monaten gibt es zum Friedensprozeß keine akzeptable Alternative. Dies habe ich den Staatsmännern aus der Region, mit denen ich in den letzten Monaten wiederholt zusammengetroffen bin und vor allem auch in den letzten zwei Tagen sprechen konnte, deutlich gemacht.

Für uns Deutsche ist und bleibt die transatlantische Partnerschaft ein tragendes Element unserer Politik. Die deutsch-amerikanische Freundschaft - in Jahrzehnten gewachsen - ist ein kostbares Gut, das wir weiter pflegen wollen. Ich freue mich, daß ich dabei nach der Wiederwahl von Präsident Clinton unser vertrauensvolles persönliches Verhältnis fortsetzen kann.

Die NATO wird auch in Zukunft der zentrale Anker europäischer Sicherheit bleiben. Das Bündnis hat den Prozeß einer umfassenden Erneuerung eingeleitet. Hierzu zählen sowohl die Reform seiner inneren Strukturen als auch seine Öffnung und Erweiterung. EU-Erweiterung und NATO-Öffnung stehen in einem Zusammenhang. Sie sind die wesentlichen Eckpfeiler einer gesamteuropäischen Sicherheitsarchitektur.

Im zusammenwachsenden Europa müssen auch Rußland und die Ukraine einen ihrer Größe und Bedeutung entsprechenden Platz einnehmen. Sicherheit in Europa kann es nur mit, nicht gegen Rußland geben. Deshalb wollen wir mit Rußland, aber auch mit der Ukraine eine besondere Partnerschaft entwickeln. Das deutsch-russische Verhältnis ist in diesem Jahr weiter gefestigt worden. Wir wollen und werden den Weg guter Zusammenarbeit weiter verfolgen. Dabei gehen wir davon aus, daß Rußland als eine auch europäische Macht einen festen Platz im europäischen Haus einnehmen muß. Ich wünsche Boris Jelzin, dem ersten freigewählten Präsidenten Rußlands, Kraft und Gesundheit für seine wichtige Arbeit.

Meine Damen und Herren, Deutschland hat sich von Anfang an sehr bemüht, zusammen mit seinen Partnern ein Ende des Krieges in Bosnien-Herzegowina zu erreichen. Bei der Umsetzung des Friedensabkommens von Dayton leisten wir unseren Beitrag: Einheiten der Bundeswehr sind Teil der IFOR-Truppe. Wir Deutsche haben uns erstmals in dieser Weise an einer friedenssichernden Mission beteiligt. Wir sind stolz auf unsere Soldaten und das, was sie leisten und geleistet haben. Zusammen mit den Soldaten aus zahlreichen anderen Ländern tragen sie zur Sicherung des Friedens bei. Deutschland ist bereit, seine Mitwirkung an der zivilen Implementierung des Dayton-Vertrags und seiner militärischen Absicherung fortzusetzen und dazu ebenso wie seine Partner und Verbündeten einen militärischen Beitrag zu leisten.

Wir haben über 400000 Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien aufgenommen, mehr als jedes andere Land. Im kommenden Jahr muß unser gemeinsames Bestreben vor allem dem zügigen Wiederaufbau gelten, um so die Voraussetzungen für die Rückkehr der zahlreichen Flüchtlinge in ihre Heimat zu verbessern. Dort werden sie für den Aufbau eines demokratischen, auf Toleranz und Achtung der Menschenrechte gegründeten Gemeinwesens dringend gebraucht.

Jetzt geht es darum, gemeinsame politische Institutionen aufzubauen und eine neue Kultur des Zusammenlebens zu entwickeln. Hierbei kann die OSZE wesentliche Beiträge leisten. Wir haben gestern in Lissabon beschlossen, diese wichtige Organisation weiter zu stärken.

Meine Damen und Herren, ohne Demokratie und Menschenrechte kann es in keinem Land der Erde wirklichen Fortschritt geben. Es ist bedrückend, daß im zu Ende gehenden Jahr Zehntausende von Menschen, darunter viele Frauen und Kinder, Opfer von Willkür und Gewalt wurden. Die Vereinten Nationen sind auch hier besonders gefordert. Sie können ihrer großen Verantwortung allerdings nur dann wirklich gerecht werden, wenn die Organisation wirksamer wird. Deutschland ist der drittgrößte Beitragszahler in den Vereinten Nationen. Wir haben ein besonderes Interesse an einer handlungsfähigen UNO.

Die Erwartungen der internationalen Gemeinschaft an das wiedervereinigte Deutschland sind gestiegen. Wir stellen uns der Verantwortung. Deutschland steht für eine Politik international gleichberechtigter Zusammenarbeit. Wir wollen eine globale Entwicklungs- und Umweltpartnerschaft für das 21. Jahrhundert. Sie ist auch erforderlich für die Bewältigung einer der größten Herausforderungen der internationalen Völkergemeinschaft an der Schwelle zum nächsten Jahrhundert, der Sicherung der Welternährung. Auch hier sind Entwicklungsländer und Industrieländer gleichermaßen gefordert. Das hat der vor gut zwei Wochen zu Ende gegangene Welternährungsgipfel in Rom sehr deutlich unterstrichen.

Exzellenzen, meine Damen und Herren, in einer Reihe von Ländern sind positive Zeichen auszumachen. Noch nie haben so viele Menschen einen so großen Entwicklungssprung gemacht wie in den letzten zehn Jahren. Im Jahre 2020 werden, wenn die gegenwärtigen Trends anhalten, unter den 15 Ländern mit dem größten Bruttosozialprodukt neun heutige Entwicklungsländer sein.

Das Rezept des Erfolges heißt: eine freie wirtschaftliche Entwicklung, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Integration in die Weltwirtschaft. Nirgendwo sind die wirtschaftlichen Fortschritte so greifbar wie in der asiatisch-pazifischen Region. Kürzlich, auf meiner Reise nach Indonesien, den Philippinen und Japan habe ich mich erneut von der wirtschaftlichen Aufbruchstimmung und der gestiegenen politischen Bedeutung dieser Region überzeugen können.

Im vergangenen Frühjahr bin ich - gemeinsam mit meinen Kollegen aus der Europäischen Union - in Bangkok zum ersten Mal zu einem Gipfeltreffen mit den Staats- und Regierungschefs verschiedener asiatischer Staaten zusammengetroffen. Die Erfahrungen dieser Tage in Bangkok haben uns gezeigt - und das ist die Meinung meiner europäischen Kollegen insgesamt -, daß es dringend notwendig ist, diesen Dialog mit den asiatischen Ländern weiter auszubauen.

Meine Damen und Herren, auch Lateinamerika ist heute eine Region mit großem wirtschaftlichem Wachstum. Es ist nach den OECD-Ländern heute mit 26 Milliarden D-Mark ein bedeutender Standort deutscher Auslandsinvestitionen. Im vergangenen September habe ich drei große Länder Lateinamerikas - Argentinien, Brasilien und Mexiko - besucht und mir einen Eindruck von der positiven Entwicklung dort verschaffen können. Mich freut, daß auch die Europäische Union ihre Beziehungen nach Lateinamerika intensivieren konnte.

In Afrika hat es neben Rückschlägen positive Entwicklungen gegeben. So sind die Fortschritte im Südlichen Afrika beeindruckend. Die Veränderungen dort haben beispielhaft gezeigt, daß friedlicher Systemwandel und Aussöhnung möglich sind. Ich bin davon überzeugt, daß die regionale Zusammenarbeit im südlichen Afrika, aber auch in anderen Regionen des Kontinents weiter voranschreiten kann und wird.

Die Ereignisse der vergangenen Wochen im Osten Zaires zeigen jedoch auch, wie weit der Weg zu einer friedlicheren und gerechteren Welt mitunter noch ist. Mit der Hilfe für die Notleidenden und Flüchtlinge, so wichtig sie ist, ist es allein nicht getan. Es kommt entscheidend darauf an, aus Gründen der Menschlichkeit und aus Gründen der Vernunft, die Ursachen solcher Konflikte zu beseitigen.

Meine Damen und Herren, Deutschland ist ein weltoffenes Land, das auf viele Menschen eine große Anziehungskraft ausübt. Über sieben Millionen ausländische Mitbürgerinnen und Mitbürger leben unter uns. Das sind fast zehn Prozent unserer Bevölkerung.

Einige sind schon in der zweiten oder dritten Generation bei uns. Viele haben in Deutschland eine neue Heimat gefunden. Andere haben wir vorübergehend aufgenommen, weil sie durch Krieg oder Verfolgung aus ihrer Heimat vertrieben wurden.

Das harmonische Zusammenleben der Menschen in unserem Land setzt gegenseitigen Respekt, Kenntnis des anderen und die Fähigkeit zur Rücksichtnahme voraus. Es ist mir ein persönliches Anliegen, das Verständnis füreinander weiter zu stärken. Wir wollen und müssen den Dialog mit anderen Kulturen führen, um zu mehr Toleranz, Verständnis und Gemeinsamkeit zu kommen.

Exzellenzen, meine Damen und Herren, Sie alle wirken als Vertreter Ihrer Länder an dieser großen Aufgabe mit. Ich danke Ihnen für Ihre wichtige Arbeit im Dienst einer besseren Verständigung sowie guter und freundschaftlicher Beziehungen zwischen Deutschland und Ihren Heimatländern.

Ich wünsche Ihnen allen, Ihren Völkern und Regierungen sowie Ihren Familien dabei auch weiterhin viel Glück und Erfolg und uns allen ein friedliches und gesegnetes neues Jahr 1997.

Quelle: Bulletin der Bundesregierung. Nr. 100. 9. Dezember 1996.