4. Februar 1987

Rede bei der Festveranstaltung der Ludwig-Erhard-Stiftung in Bonn aus Anlass des 90. Geburtstags von Professor Dr. Ludwig Erhard

 

Ludwig Erhard wäre heute 90 Jahre alt geworden. - Vor zehn Jahren, an seinem 80. Geburtstag, hat er im Rückblick auf den Weg, der ihn in die Politik geführt hatte, gesagt: Erst das Erlebnis der totalitären Herrschaft des Dritten Reiches und die persönliche Begegnung mit Carl Goerdeler, dem Haupt des Widerstandes gegen Hitler, hätten ihn, den wissenschaftlich denkenden Mann, zum Politiker bestimmt.

Drei Monate nach dieser Ansprache starb Ludwig Erhard. Uns allen war damals bewusst, dass Deutschland nicht nur den erfolgreichsten Wirtschaftspolitiker seiner Geschichte, das menschliche Symbol des „Wirtschaftswunders", verloren hatte. - Verloren hatten wir vor allem einen unbeugsamen Kämpfer, einen Kämpfer für Freiheit und Recht und für eine Gesellschaftsordnung mit menschlichem Antlitz. Denn darin sah er selbst den Kern der Sozialen Marktwirtschaft.

Zu seinen entscheidenden Maximen gehörte, dass die Wirtschaft nicht zum Selbstzweck werden darf, sondern den Menschen zu dienen hat. Und deshalb wollte er diese Wirtschaft so geordnet und in die Gesellschaft eingefügt sehen, dass Freiheit und Selbstverantwortung in Solidarität mit dem Nächsten und in Übereinstimmung mit dem Gemeinwohl gelebt werden können. Ludwig Erhard hat sich immer als Gesellschaftspolitiker verstanden. In diesem Sinne hielt er die Soziale Marktwirtschaft für eine nie ganz vollendbare Aufgabe. Er hat sie uns als Erbe, als Auftrag, als eine bleibende Herausforderung zugesprochen.

Ausgangspunkt seines Nachdenkens über das Verhältnis von Staat, Gesellschaft und Wirtschaft war die bittere Erfahrung der Krise der Jahre ab 1929. Schon in einer Arbeit aus dieser Zeit formulierte er den Gedanken, dass bestimmte Fehlentwicklungen des „Kapitalismus" korrigiert werden müssten, um „wieder den Menschen in den Mittelpunkt aller Geschehnisse" zu stellen. Über die Jahrzehnte hinweg blieb dieser Satz die Grundlage seines Denkens.

Nichts verfälscht deswegen Erhards Denkansatz mehr als die Behauptung, er habe die Gesellschaft und den Staat ausschließlich oder einseitig von der Wirtschaft her interpretiert. Das Gegenteil ist richtig: Erhard ordnete von Anfang an das Wirtschaftliche dem gesellschaftlichen Zusammenhang unter.

Sein wissenschaftliches Fach, die Nationalökonomie, verstand er in diesem weiten, soziologischen Sinne: Es sollte ihr darum gehen, „das Zusammenleben der Menschen, die Grundlage des sozialen und staatlichen Lebens zu erkennen". Er war überzeugt, dass die Wirtschaft ihre Aufgabe, den Wohlstand der Bevölkerung zu mehren, überhaupt nur erfüllen kann, wenn ihre Ordnung menschengerecht gestaltet wird. Seine Vorstellung von der Sozialen Marktwirtschaft ging somit von einem realistischen Menschenbild aus. Hierin liegt die grundlegende Gemeinsamkeit, die Ludwig Erhard etwa mit Alexander Rüstow und Wilhelm Röpke, aber auch mit der katholischen Soziallehre verbindet.

Über das Verhältnis Erhards zu den verschiedenen Schulen des „Neoliberalismus" ist schon manches vermutet, aber noch wenig exakt erforscht worden. Sicher ist, dass Erhard sich sein Konzept auf dem Weg eines Außenseiters der Nationalökonomie erarbeitet hat, und zwar zunächst weitgehend unabhängig von gleichzeitigen Entwicklungen des neoliberalen Denkens. Die von Röpke und Rüstow ausgehenden Denkanstöße wurden für Erhard frühestens Mitte der dreißiger Jahre wichtig, im wesentlichen sogar erst deutlich später- jedenfalls zu einem Zeitpunkt, als er bereits über ein eigenständiges Konzept verfügte. Ähnliches wäre über Alfred Müller-Armack zu sagen, der später einer der engsten Berater Erhards wurde.

Festzuhalten bleibt, dass über Ludwig Erhard eine ganze Reihe nationalökonomischer Denkanstöße Eingang in die Soziale Marktwirtschaft gefunden haben. Dabei erfährt das Soziale in der Sozialen Marktwirtschaft bei ihm eine ganz spezielle Interpretation: Es geht nicht um Betreuungsleistungen des Staates, sondern darum, dass die Politik Eigenverantwortung und solidarisches Handeln und Verhalten in der Gesellschaft ermöglichen, fördern und dauerhaft stärken soll.

Wenn wir uns heute fragen, weshalb nach 1945 freiheitlich-soziale Konzeptionen relativ häufig in Veröffentlichungen und Diskussionen vertreten wurden, dürfen wir durchaus annehmen, dass darin die Bereitschaft, aus der Geschichte zu lernen, zum Ausdruck kommt. Vieles von dem, was wir heute unter Sozialer Marktwirtschaft verstehen, ist aus einer langen Tradition erwachsen. Aber es ist doch offensichtlich, dass die Erfahrung totalitärer Diktatur als abschreckendes Beispiel eines freiheitsfeindlichen Systems als Katalysator gewirkt hat.

Es kann kein Zufall sein, dass sich Denker ganz unterschiedlicher geistiger Prägung gedrängt fühlten, gerade während des Zweiten Weltkriegs Zukunftsentwürfe für eine freiheitliche Verfassung der Gesellschaft und der Wirtschaft voranzutreiben. Denken wir an die Auseinandersetzungen in den verschiedenen Widerstandsgruppen über Fragen der Wirtschafts- und Sozialordnung, etwa an die Bemühungen von Peter Graf Yorck zu Wartenburg, Gedanken seines Freundes Günter Schmölders im Kreisauer Kreis durchzusetzen. Wir wissen, dass Carl Goerdeler den Kontakt zu den Freiburger Widerstandskreisen gesucht hat, um sich in dieser Hinsicht beraten zu lassen. Der Kreis um Erwin von Beckerath war sicherlich die wissenschaftlich hochkarätige Gruppe von Nationalökonomen, die sich damals mit solchen Fragen umfassend auseinandersetzte.

Auch für Ludwig Erhard spielte die Erfahrung der Diktatur des Nationalsozialismus eine entscheidende Rolle. Wer ihm, wie ich als wesentlich Jüngerer, erst viel später begegnet ist, kann das aus vielen Zeugnissen - etwa aus seinen Reden - belegen. Er hat für sich selbst nicht in Anspruch genommen, im engeren Sinne dem Widerstand gegen das nationalsozialistische Regime angehört zu haben. Aber das war bei ihm nur Ausdruck des hohen Respekts, den er jenen entgegenbrachte, die unter Einsatz ihres Lebens einen Weg zum Sturz der Diktatur suchten. Nur bei ihnen mochte er von „Widerstand" sprechen. In seinen Überzeugungen stand er auf ihrer Seite, und er hat für seine Haltung persönliche Nachteile in Kauf genommen. Seinem Doktorvater, dem Soziologen und Nationalökonomen Franz Oppenheimer, der emigrieren musste und im Exil starb, hielt er zeitlebens die Treue.

Mit Carl Goerdeler, den er als väterlichen Freund empfand, stand er seit 1934 in regem Gedankenaustausch. Als Goerdeler nach dem 20. Juli 1944 untertauchen musste, wies er seine Freunde in einem auf der Flucht verfassten Memorandum auf Ludwig Erhard hin. Er empfahl ihn als Berater in Fragen des wirtschaftlichen Wiederaufbaus nach dem Krieg. Erhard hatte Goerdeler kurz vor dem 20. Juli 1944 eine umfangreiche Studie über Fragen der „Kriegsfinanzierung und Schuldenkonsolidierung" vorgelegt. Diese Denkschrift entstand 1943/44 im Auftrag einiger weitsichtiger Industrieller. Ludwig Erhard entwickelte darin seine Vorschläge für eine Lösung der dringendsten ökonomischen, zumal finanzwirtschaftlichen Nachkriegsprobleme. Es kam ihm darauf an, einen Übergang von der Kriegs- zur Friedenswirtschaft zu finden - einen Übergang, der eine freiheitliche und soziale Entwicklung der Gesellschaft und der Wirtschaft ermöglichte. Diese aus dem Erleben der Unfreiheit im totalitären Staat kommenden Gedanken drängten Erhard nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches zur Handlung und Gestaltung; sie wurden politisch.

Wenn wir heute, an seinem 90. Geburtstag, über das Erbe Ludwig Erhards sprechen, so erscheint es mir angemessen, nicht nur über die Zeit nach 1945 zu sprechen, sondern eben auch an die geistige Kraft zu erinnern, die dieser Mann schon in den Jahren des nationalsozialistischen Regimes bewiesen hat. Die Amerikaner machten Erhard noch 1945 zum bayerischen Wirtschaftsminister. Danach leitete er ein amtlich eingesetztes Expertengremium für Fragen der Währungsreform. 1.948 wurde er zum Direktor der Verwaltung für Wirtschaft in den vereinigten angelsächsischen Besatzungszonen berufen. Mit Beginn der Bundesrepublik Deutschland trug er als Wahlkämpfer für die Christlich Demokratische Union entscheidend zum Wahlsieg von 1949 und zu allen späteren Wahlsiegen der Union bis 1965 bei. Er übernahm das Wirtschaftsministerium in sämtlichen Kabinetten Adenauers, und er trat schließlich 1963 dessen Nachfolge als Bundeskanzler der Bundesrepublik Deutschland an.

Zwischen 1948 und 1966 bestimmte Erhard die deutsche Politik maßgeblich mit. Außer Konrad Adenauer prägte keine Persönlichkeit die Wirklichkeit der Bundesrepublik Deutschland in jenen Jahrzehnten stärker als er. Seine Zuversicht und Tatkraft, sein Mut, angesichts schwierigster Verhältnisse nicht nur dringende Nothilfe zu organisieren, sondern von Anfang an das Übel an der Wurzel zu packen, also eine langfristige Ordnungsperspektive aufzuzeigen und konkret anzugehen, sind aller Bewunderung wert. Erhard erkannte die Chance und traute sich zu, die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bedingungen des Landes grundlegend zu reformieren.

Er schuf eine Ordnung, in deren Rahmen sich die Leistung der Bürger alsbald wieder lohnte. Die Initiative der vielen einzelnen konnte er in einem Ausmaß ermuntern und beflügeln, dass Zuversicht und Fortschrittsfreude zu einem vorherrschenden Zeitgefühl wurden. Erhards unverwüstlicher, stets sichtbarer Optimismus übertrug sich auf die Menschen. Die Zukunft zeigte sich den Erfindungsreichen, den Fleißigen und Risikobereiten voller Chancen. Die Bereitschaft zum Einsatz aller Fähigkeiten wurde ermutigt und wirkte sich schon nach kurzer Zeit zum Wohl aller aus.

Auch dies sollten wir nicht vergessen: In seinen besten Zeiten bewährte sich Ludwig Erhard als ein Meister der politischen Psychologie - aber nicht durch Demagogie und schauspielerische Tricks, sondern durch Sachkenntnis, Aufrichtigkeit, Glaubwürdigkeit, durch einen manchmal auch an Grenzen stoßenden Glauben an Aufklärung und durch fordernde Hinwendung zum mündigen Bürger. Erhard hat uns beispielhaft gezeigt, wie wichtig für jeden politischen Erfolg in der Demokratie die Glaubwürdigkeit der verantwortlichen Politiker ist. Die Zeitgenossen nannten das, was sie häufig kaum begreifen konnten, aber an sich selbst erlebten, das „deutsche Wirtschaftswunder". Ludwig Erhard hat davon nicht viel gehalten; an Wunder glaubte er nicht. Mit dem Erfolg hat er durchaus gerechnet - vielleicht nicht ganz so schnell, wie er dann tatsächlich eingetreten ist.

Natürlich war eine entscheidende Voraussetzung dieser Aufwärtsentwicklung Konrad Adenauers Außenpolitik. Man kann vereinfachend sagen: Adenauer hat die Bundesrepublik Deutschland außenpolitisch gesichert und in der Wertegemeinschaft der westlichen Demokratien fest verankert. Erhard hat mit der Durchsetzung der Sozialen Marktwirtschaft der Wirtschaft unseres Landes einen gesellschaftlichen Ordnungsrahmen gegeben, der Stabilität und Wohlstand verbürgte und bis heute verbürgt.

Solche Verdienstzuweisungen erfassen allerdings nicht die ganze Wirklichkeit. Adenauers Innenpolitik des sozialen Friedens darf ebenso wenig vergessen werden wie die von Erhard besonders geförderte „Rückkehr zum Weltmarkt", die untrennbarer Bestandteil der Sozialen Marktwirtschaft war und ist. Es versteht sich von selbst, dass jede Politik zum Erfolg der Mitarbeit vieler bedarf. Was an zähem Fleiß, an Begabung, Wissen und Aufbauwillen im deutschen Volk vorhanden war, gehörte zu den großen Aktivposten unseres Landes nach dem Kriege, die Vorbedingung der erfolgreichen Politik waren. Aber es bleibt richtig und entspricht historischer Wahrheit, dass Adenauer und Erhard entscheidende Weichen stellten, um den Menschen diese Entfaltung in Freiheit und Solidarität zu ermöglichen. Konrad Adenauer und Ludwig Erhard ergänzten sich ideal. Gemeinsam verkörperten sie -über all die hinreichend bekannten Konflikte hinweg, unter denen zumindest Erhard oft genug gelitten hat, - die Epoche.

Es bleibt auch richtig, dass Adenauer und Erhard das, was sie ins Werk setzten, nur im großen Rahmen einer Volkspartei zum Erfolg führen konnten. Erhard wusste -bei aller Neigung, sich überparteilich zu geben und sich nicht zu stark im Alltag der innerparteilichen Diskussion zu engagieren, - sehr wohl, dass er diesen Rückhalt in einer Volkspartei brauchte, nicht zuletzt um die Soziale Marktwirtschaft vor der Auslieferung an einseitige Interessen zu bewahren. Wir in der Koalition der Mitte heute empfinden das Erbe Ludwig Erhards als eine unverändert gültige Herausforderung an die heutige Gesellschafts- und Wirtschaftspolitik. Wir sind deshalb im Herbst 1982 angetreten, die Soziale Marktwirtschaft im Geiste Ludwig Erhards zu erneuern. Wir konnten dabei in den letzten vier Jahren greifbare Fortschritte erreichen und wollen diese Politik in den nächsten Jahren fortsetzen.

Dazu einige Leitlinien:

1. Wir brauchen neue Freiräume für persönliche Leistung und eigenverantwortliches Handeln.

Wir vertrauen, wie Ludwig Erhard, auf den mündigen Bürger. Wer seinen Raum freier Entfaltung erweitert und ihm so - mit Erhards Worten - wieder „zum Bewusstsein seiner eigenen Kraft, seiner Stärke und seiner Würde" verhilft, vergrößert die dynamische Leistungskraft des Landes. Aber dies setzt voraus, dass der einzelne Bürger den Wert dieser zusätzlichen Freiräume erkennt, dass er sie mit eigenen Ideen und mit eigenem Handeln ausfüllt. Und dieses Ja zur Freiheit des eigenverantwortlichen Tuns ist heute nicht immer von vornherein selbstverständlich.

Viele Menschen scheinen eine tief wurzelnde Sehnsucht nach dem großen abgesicherten Lebensplan zu empfinden. Die Angst vor dem vermeintlichen Chaos eines ,.un- geregelten" Wirtschaftens auf der Grundlage individueller Entscheidungen belastet das Ordnungsprinzip der Marktwirtschaft mit vielfältigen Vorurteilen. Hinzu kommt wohl auch dies: In den Augen vieler entbehrt die Marktwirtschaft der vordergründigen „Faszination des Unmittelbaren", die für so viele von staatlichen Plänen, Programmen und Interventionen ausgeht.

Deswegen müssen wir immer wieder deutlich machen, dass Wahlfreiheit, Dezentralisierung von Entscheidungsmacht, Minderheitenschutz und der sparsame Umgang mit knappen Mitteln zu den politisch entscheidenden Elementen der Sozialen Marktwirtschaft gehören. Es gibt keinen Entscheidungsprozeß, der demokratischer und zugleich leistungsfähiger wäre als die „unsichtbare Hand" von Preis und Wettbewerb in unserer Wirtschaftsordnung, die täglich Millionen unterschiedlicher Interessen ohne jeden Zwang zum Ausgleich bringt. Für die praktische Politik bedeutet dies, dass wir den persönlichen Freiraum immer wieder so erweitern und gestalten müssen, dass die Vorzüge der Sozialen Marktwirtschaft nicht irgendeine akademische Angelegenheit, sondern erlebbare Erfahrung für möglichst viele Bürger werden.

In diesem Sinne müssen wir uns bemühen, wie wir es bereits getan haben, die Bürde staatlicher Bevormundung abzubauen. Wir haben den Zuwachs der staatlichen Ausgaben reduziert und die Deckungslücke des Bundeshaushalts halbiert. Wir haben die Investitionsbedingungen verbessert und die Renten wieder sicher gemacht. Die Staatsquote geht erstmals wieder zurück. Die Preise sind stabil, Löhne und Renten steigen wieder. Allein 1986 konnten die Bürger zusätzlich und real über 50 Milliarden DM mehr an Kaufkraft verfügen.

Diese Rückkehr zu soliden Staatsfinanzen war der entscheidende erste Schritt zu neuer politischer Gestaltungsfreiheit. Und hier wissen wir uns in besonderer Weise einig mit Ludwig Erhard: Er trat ja 1966 nicht zuletzt auch aus Protest gegen eine Entwicklung zu höherer Staatsverschuldung zurück, die aufzuhalten ihm nicht gelang. Er hielt diese Frage für zentral. Ein Schwerpunkt zukunftsweisender Politik muss - ganz im Sinne Erhards - die Reform unseres Steuersystems sein. Und es ist nicht nur eine finanztechnische Frage, was der Staat dem Bürger an Steuerlast zumutet, sondern eine eminent gesellschaftspolitische.

Wir wollen deshalb mit der Reform der Steuerstruktur mehr Steuergerechtigkeit verwirklichen. Wir wollen Subventionen, so schwer das auch sein wird, abbauen. Und wir wollen die Steuern weiter senken, um Leistungsanreize und eine neue Dynamik zu schaffen. Denn ohne diese Dynamik und ohne eine steigende Leistungsbereitschaft breiter Schichten unseres Volkes werden wir nicht in der Lage sein, die Herausforderungen einer modernen Industrienation am Ende dieses Jahrhunderts erfolgreich zu bestehen.

2. Wir müssen uns engagieren für die Offenheit von Weltwirtschaft und Welthandel.

Die Öffnung des deutschen Marktes für den internationalen Wettbewerb und die Einbindung der deutschen Wirtschaft in die Weltwirtschaft - diese Entscheidungen Erhards gehörten ganz ohne Zweifel zu den Kernpunkten seiner Politik. Und auch auf diesem Felde sind wir heute wieder gefordert, wenn auch in anderer Weise. Ging es damals um die Beseitigung von Zollen und anderen Handelsbarrieren an unseren eigenen Grenzen, ging es um den freien Austausch von Währungen und Devisen, so haben wir es heute mit vielfältigen Gefahren für den freien Welthandel und damit für die internationale Arbeitsteilung zu tun - das heißt mit der Gefährdung internationaler Rahmenbedingungen, die in den letzten 30 Jahren ganz entscheidend zum Wohlstand und zum Fortschritt beigetragen haben.

Die Probleme heißen heute: außenwirtschaftliche Ungleichgewichte in einer Größenordnung, wie dies noch vor wenigen Jahren kaum vorstellbar gewesen wäre; anhaltend hohe Defizite in den Staatshaushalten wichtiger Industrieländer; akute Verschuldungsprobleme in vielen Entwicklungsländern und - in Verbindung mit diesen Problemen: beträchtliche Schwankungen des Dollar-Kurses und die ständig wachsende Neigung zum Protektionismus, vor allem auch in Wahljahren.

In dieser schwierigen Situation muss sich die Bundesrepublik Deutschland - als eine der großen Industrie- und Handelsnationen der Welt - für die Offenheit von Weltwirtschaft und Welthandel engagieren. Wir tun dies mit allem Nachdruck - insbesondere auch im Rahmen der bevorstehenden neuen GATT-Verhandlungsrunde, der ich größte Bedeutung beimesse. Es kann kein Zweifel bestehen, dass der freie Welthandel heute vor seiner größten Bewährungsprobe seit langer Zeit steht. Der Dimension dieses Problems muss die Dimension unseres Engagements entsprechen.

3. Wir müssen uns dem Strukturwandel als bleibender Herausforderung stellen und unsere Wettbewerbsfähigkeit sichern.

Ludwig Erhard stand zu Beginn seiner politischen Tätigkeit vor der Aufgabe, die zerstörte Industriestruktur unseres Landes wieder aufzubauen. Unsere Aufgabe heute ist anders, aber von ähnlich weitreichender Bedeutung: Wir müssen unsere Wirtschaft an die sich verändernden Bedingungen des internationalen Wettbewerbs und an die neuen Möglichkeiten des technischen Fortschritts anpassen, wenn wir unseren Rang in der Spitzengruppe der Industrienationen halten und festigen wollen. Hier besteht unverändert Handlungsbedarf, und zwar nicht nur mit Blick auf die Investitionsschwäche der siebziger Jahre mit ihren weitreichenden negativen Folgen für Beschäftigung und Arbeitsplätze.

Handlungsbedarf besteht vor allem auch deswegen, weil der technische Fortschritt über viele Jahre hinweg negativ bewertet und als Hauptursache für den Verlust von Arbeitsplätzen verantwortlich gemacht wurde. Erst viel zu spät wurde zur Kenntnis genommen, dass hier Legendenbildung betrieben worden ist: Heute wissen wir, dass die Arbeitsplätze am ehesten dort verlorengegangen sind, wo die Chancen des technischen Fortschritts am wenigsten genutzt wurden. Anders ausgedrückt: Wer glaubte, er könne mitten im Rennen stehen bleiben, hatte bereits entschieden, dass das weitere Rennen ohne ihn stattfindet. Es kommt also heute darauf an, dass wir neue technische Möglichkeiten ohne Vorurteile entwickeln und nutzen - nicht in einem blinden Fortschrittsglauben, sondern mit verantwortlichem Handeln. Dazu gehört sicherlich, dass wir heute - besser als zu Erhards Zeiten - wissen, dass nicht alles, was gemacht werden kann, auch gemacht werden darf.

Die Zukunft der Industrienation Bundesrepublik Deutschland hängt entscheidend davon ab, dass das verantwortete, auch sittlich verantwortete Ja zum technischen Fortschritt und zu fortwährender wirtschaftlicher Erneuerung breite Unterstützung und Anerkennung in unserer Gesellschaft findet. Dies gilt übrigens nicht nur im Blick auf unsere internationale Wettbewerbsfähigkeit. Die Fähigkeit zu neuen wirtschaftlichen und technischen Problemlösungen brauchen wir auch im eigenen Haus -denken Sie nur an die Aufgaben, die sich aus dem Verhältnis von Ökonomie und Ökologie ergeben und die sich uns mit der Frage des Schutzes von Natur und Umwelt stellen.

Das Beispiel des Umweltschutzes zeigt zugleich, dass wir mehr brauchen als nur die fallweise Lösung von Einzelproblemen. Hier müssen wir gemeinsam darüber nachdenken, wie der Schutz von Natur und Umwelt mit den Mitteln der Sozialen Marktwirtschaft umfassend gewährleistet werden kann. Noch haben wir auf diesem wichtigen Feld - jedenfalls in den meisten Fällen - nicht das richtige Zusammenwirken von ökonomischen Anreizen. von Ge- und Verboten und von freiwilligen Selbstverpflichtungen gefunden. Und gerade hier ist unsere Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, auch im Blick auf die junge Generation, in den nächsten Jahren und Jahrzehnten in besonderer Weise gefordert.

4. Arbeitsplätze und Beschäftigung bedürfen gemeinsamer Anstrengungen aller Verantwortlichen.

Für Ludwig Erhard war die Arbeitslosigkeit ein sicheres Anzeichen für ordnungspolitische Defizite. Und die Soziale Marktwirtschaft würde sich selbst verleugnen, wenn sie vor dieser Herausforderung kapitulieren wollte. Aber gerade an diesem Beispiel wird deutlich, dass eben Soziale Marktwirtschaft nicht allein eine staatliche Veranstaltung ist. Nur wenn die Tarifpartner, die über so wichtige Eckdaten wie Löhne und Arbeitszeit entscheiden, hierzu ihren Beitrag leisten, können gemeinsame beharrliche Anstrengungen zu mehr Beschäftigung und weniger Arbeitslosigkeit führen.

Wie wichtig diese Weichenstellungen sind, wird im Rückblick auf die letzten fünfzehn Jahre deutlich. Nehmen Sie etwa - mit Blick auf die Bundesrepublik Deutschland und die USA - die unterschiedliche Entwicklung von Reallöhnen und Arbeitsplätzen: Im Fall der Vereinigten Staaten in den siebziger Jahren weitgehend stabile Reallöhne verbunden mit einer nachhaltigen Steigerung des Angebots an Arbeitsplätzen; hierzulande dagegen gleichzeitig eine deutliche Steigerung der Reallöhne, aber per saldo ein Rückgang der Erwerbstätigen, der erst 1983 zum Stillstand gebracht werden konnte.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Arbeitsmarktpolitische Rezepte und Erfahrungen können sicher nicht ohne weiteres von einer Industriegesellschaft auf eine andere übertragen werden, schon gar nicht, wenn es sich um Gesellschaften diesseits und jenseits des Ozeans handelt. Die Unterschiede in den sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen sind jedermann klar. Aber es muss uns zu denken geben, dass ähnliche Herausforderungen - wie die praktisch überall deutlich gewachsene Nachfrage nach zusätzlichen Arbeitsplätzen - in großen Industrieländern mit vergleichbarem Entwicklungsstand mit sehr unterschiedlichem Erfolg gemeistert worden sind.

Dieses Beispiel unterstreicht, welche Bedeutung der Mitverantwortung der Tarifpartner für die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung zukommt. Dies gilt besonders für unsere Ordnung der Sozialen Marktwirtschaft, denn sie bietet Unternehmern und Gewerkschaften große Chancen, aber sie stellt eben auch große Anforderungen an Augenmaß und Verantwortungsbewusstsein aller Beteiligten. Dies gilt um so mehr, als wir gerade auf dem Arbeitsmarkt vor neuen Herausforderungen stehen. Dies sind vor allem: wachsende Anforderungen an die Qualifikation breiter Schichten unserer Arbeitnehmerschaft; eine größere Flexibilität bei der Gestaltung der Arbeitszeit und eine stärkere Beteiligung der Arbeitnehmer am Produktivvermögen der Wirtschaft.

Diese wenigen Beispiele machen hinreichend deutlich, dass auch außerhalb der eigentlichen Politik entscheidende Weichen für die Zukunft gestellt werden. Deshalb brauchen wir in den vor uns liegenden Jahren die konstruktive Mitwirkung aller Gruppen in unserer Gesellschaft. Ich werde mich sehr nachdrücklich um diesen Konsens bemühen. Denn ohne einen Grundkonsens der gesellschaftlichen Gruppen sind die Herausforderungen letztlich nicht zu bestehen.

5. Wir müssen Wirtschaftspolitik und Gesellschaftspolitik wieder als eine Einheit verstehen.

In der politischen Wirklichkeit sieht es heute meist so aus, dass Wirtschaft, Arbeitslosigkeit und Sozialleistungen völlig getrennt voneinander gesehen und diskutiert werden. Das heißt, die Experten bemächtigen sich dieser Themen - sowohl bei den Politikern als auch bei den Verbänden und Interessengruppen. Dies führt dann zu Lösungsversuchen, deren Richtigkeit notwendigerweise ebenso begrenzt ist wie die vordergründigen Interessen derer, die daran mitgewirkt haben.

Nehmen Sie als ein Beispiel aus den ersten zwei Jahren der vergangenen Legislaturperiode die Diskussion, ob die finanzielle Förderung der Familien mit Kindern nicht zurückgestellt werden müsse, weil dies ja die Wirtschaft belaste und deswegen zumindest im Augenblick nicht ratsam sei. An dieser Argumentation wird deutlich, wie sehr wir uns daran gewöhnt haben, in getrennten Kategorien zu denken und zu entscheiden. Dass eine funktionierende und florierende Wirtschaft eine zukunftorientierte Gesellschaft voraussetzt und dass diese wiederum ganz entscheidend von den Familien mit Kindern bestimmt wird -dieser Zusammenhang ist manchmal aus den Augen verloren worden. Ludwig Erhard ist immer wieder entschieden dafür eingetreten, dass Wirtschafts- und Finanzpolitik, Steuer- und Sozialpolitik, Familien- und Arbeitsmarktpolitik - dass all dies keine getrennten Veranstaltungen mit getrennter Kontenführung sind, sondern dass sie in ihrem Erfolg entscheidend voneinander abhängen.

Nur eine leistungsfähige Wirtschaft ist in der Lage, denen zu helfen, die auf unsere Solidarität angewiesen sind. Nur das, was zuerst erarbeitet und erwirtschaftet worden ist, kann anschließend auch verteilt werden. Wer dies vergisst oder verschweigt, handelt vielleicht für die Tagespolitik im Blick auf den nächsten Wahltermin taktisch geschickt, aber letztlich in der Sache unverantwortlich -und zwar gerade denen gegenüber, die auf unsere Solidarität rechnen. Dieses „ganzheitliche Denken" in wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Zusammenhängen gehört zum großen Erbe Ludwig Erhards und ist für uns notwendiges Rüstzeug für die vor uns liegenden Jahre. Denn die tiefgreifenden demographischen Veränderungen mit ihren Auswirkungen beispielsweise auf Rentenversicherung, Gesundheitswesen, Arbeitsmarkt, Bildungswesen und Wohnungsbau verlangen Lösungen, die sich für Wirtschaft und Gesellschaft insgesamt als tragfähig erweisen müssen.

Ich halte es für den größten Erfolg der letzten Jahre, dass Pessimismus und Resignation, die fast schon zum Signum des Zeitgeistes zu werden drohten, sich langsam wieder in Optimismus, Zuversicht und Selbstvertrauen verwandelt haben. Dies ist ein Stück auf dem Weg einer geistigen Wende, auf die wir alle angewiesen sind.

Es war Ludwig Erhard, der in den Aufbaujahren unseres Landes eine solche Atmosphäre der Ermutigung schuf -eine Atmosphäre, in der sich die schöpferischen Kräfte frei entfalten konnten. Diese Erfahrung, die heute noch tief in den Herzen von Millionen Menschen eingebettet ist, die Ludwig Erhard erlebt, ihn vielleicht nicht immer verstanden haben, die aber in ihm ein Symbol der Zuversicht und der Hoffnung in schwieriger Zeit sahen - dieses Erbe Ludwig Erhards sollten wir pfleglich in unsere Zeit mit hinein nehmen. Denn von diesen schöpferischen Kräften hängt letztlich unser aller Zukunft ab. Das war damals so, und dies hat bis zum heutigen Tag unverändert Gültigkeit.

Quelle: Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (Hg.): Bundeskanzler Helmut Kohl - Reden zu Fragen der Sozialen Marktwirtschaft. Bonn 1989, S. 7-26.