4. Februar 1997

Ansprache bei dem Ersten Spatenstich für den Neubau des Bundeskanzleramtes in Berlin

 

Frau Bundestagspräsidentin,

Herr Regierender Bürgermeister,

meine sehr verehrten Damen und Herren,

heute ist ein wichtiger Tag für Berlin und für unser Land. Der Erste Spatenstich für das neue Bundeskanzleramt in Berlin ist ein Akt von hoher symbolischer, aber auch praktischer Bedeutung. Als wir auf dem Weg hierher durch das Brandenburger Tor und am Reichstag entlang gingen, habe ich an die Zeit vor der Wiedervereinigung zurückgedacht.

Vor zehn Jahren feierte Berlin seinen 750. Geburtstag. Es war noch geteilt. Wir haben damals davon geträumt, daß der Reichstag einmal wieder Sitz eines gesamtdeutschen Parlaments sein würde, daß wir hier - in einem vereinten Berlin - den Regierungssitz für ein vereintes Deutschland würden einrichten können. Aber wer hätte wirklich gedacht, daß ein Vorgang wie der heutige in so kurzer Zeit, ja überhaupt noch zu unseren Lebzeiten, möglich werden könnte?

Die Bundesregierung erfüllt ihre Verpflichtungen aus dem Umzugsbeschluß des Deutschen Bundestages, einen würdigen und angemessenen Rahmen für die Arbeit von Parlament und Regierung zu gewährleisten. Alle Unkenrufe, der Umzug werde durch eine widerstrebende Bürokratie bewußt verzögert, werden Lügen gestraft. Daß ein so großes Unterfangen wie die Verlegung des Regierungssitzes von Bonn nach Berlin allerdings eine enorme Herausforderung bedeutet und auch viele Probleme mit sich bringt, darf niemanden überraschen.

An zentraler Stelle in der Bundeshauptstadt Berlin entsteht jetzt ein Kanzleramt, das nicht nur die architektonischen und die städtebaulichen Anforderungen erfüllt, sondern auch den historischen, politischen und kulturellen Dimensionen dieses Standorts gerecht wird. Die nähere Umgebung dieses Platzes symbolisiert wie kaum eine andere die jüngere deutsche Geschichte. Sie verkörpert Glanz und Hybris, Zerstörung und Wiederbeginn: Der Reichstag wurde im Kaiserreich erbaut, aber er steht für die Entwicklung einer Demokratie. Seine Zerstörung kam nach dem Ende der Weimarer Republik, als die Demokratie selbst zerstört worden war. Sein Wiederaufbau nach dem Krieg stand für den Wiederbeginn des demokratischen Rechtsstaats, aber auch - das soll nicht vergessen werden - für die Bindungen Berlins an die Bundesrepublik Deutschland.

Jetzt wird der Reichstag zum Plenargebäude des Deutschen Bundestages ausgebaut. Er wird damit das sichtbare Herzstück unserer parlamentarischen Demokratie. Für mich war selbstverständlich, daß das Bundeskanzleramt als zentraler Ort der Exekutive in unmittelbarer Nähe dazu liegen solle.

Meine Damen und Herren, das Brandenburger Tor ist das Wahrzeichen Berlins, es ist und bleibt zugleich für Millionen Menschen ein Symbol der Freiheit. Ich nenne aber auch zwei weitere Bauwerke in der Nachbarschaft - zunächst das Schloß Bellevue, den Sitz des Bundespräsidenten. Es war ebenfalls in den Zeiten der Teilung und des Kalten Krieges Symbol der Bindungen des freien Berlin an den Bund. Ich nenne die Kongreßhalle, die in schweren Zeiten mit amerikanischer Hilfe gebaut wurde. Sie war und bleibt ein Zeichen deutsch-amerikanischer Freundschaft. Wir wollen uns nicht nur an diese Geste erinnern, sondern wir wollen diese Freundschaft als ein wichtiges Gut für unser Land pflegen und erhalten.

Wo jetzt das Bundeskanzleramt gebaut wird - so habe ich gehört -, befand sich bis weit ins 19. Jahrhundert hinein ein Holzlagerplatz, damals vor den Toren der Stadt. In der Gründerzeit Ende des 19. Jahrhunderts entstand eine städtische Bebauung. Im Inferno des Zweiten Weltkrieges sanken die Häuser in Schutt und Asche. 1945 befand sich hier eine Trümmeraufbereitungsanlage. Ich hoffe sehr, daß die Geschichte dieses Geländes nicht vergessen wird, mehr noch, daß sie als Mahnung verstanden wird: Sinn einer klugen und verantwortlichen Politik ist es, dem Frieden und der Freiheit zu dienen. Nie wieder dürfen aus deutscher Politik Trümmer und Leid entstehen.

Der Bereich des Spreebogens wurde seit dem Krieg freigehalten für den Tag, an dem Parlament und Regierung wieder von Berlin aus ihre Funktionen wahrnehmen würden. Der Tag kam, und ich empfinde dies immer noch als ein Geschenk, als einen Grund zu großer Dankbarkeit. Für die Wiedervereinigung unseres Vaterlandes und seiner geteilten Hauptstadt haben alle deutschen Bundeskanzler gearbeitet: Konrad Adenauer, Ludwig Erhard, Kurt Georg Kiesinger, Willy Brandt und Helmut Schmidt. Ich habe im Rahmen meiner Möglichkeiten ebenfalls versucht, meinen Beitrag zu leisten. Heute will ich besonders auf Ludwig Erhard hinweisen, der am heutigen Tag 100 Jahre alt geworden wäre. Wer ihn und seinen Patriotismus gekannt hat, der kann sich gewiß vorstellen, was er empfunden hätte, wenn er heute mit uns hier stehen könnte.

Ich bin sicher, daß das neue Bundeskanzleramt, entworfen von den Architekten Axel Schultes und Charlotte Frank, ein städtebauliches Wahrzeichen ersten Ranges werden wird - für die Regierung unserer Bundesrepublik Deutschland und für unsere Bundeshauptstadt. Es ist der einzige vollständige Neubau unter den künftigen Parlaments- und Regierungsbauten in Berlin. Damit ist zugleich ein hoher Anspruch verbunden. Dieses Haus ist ja nicht nur Amtssitz des Bundeskanzlers, sondern auch Sitz des Verfassungsorgans Bundesregierung: Hier werden regelmäßig die Kabinettsitzungen stattfinden.

Der Entwurf, nach dem gebaut wird, strahlt ein gelassenes Selbstbewußtsein aus. Er vereint Bescheidenheit mit Würde. Ich denke, dies steht uns Deutschen gut an. In diesem Haus werden Staatsgäste aus aller Welt empfangen. Dieses Haus wird deshalb auch eine Visitenkarte für unser Land sein. Es ist jetzt schon abzusehen, daß die Bundeshauptstadt Berlin ein von Staatsgästen vielbesuchter Platz sein wird. Das verpflichtet uns, für eine gute Repräsentation unseres Volkes zu sorgen.

Ich danke allen Beteiligten, vor allem den Architekten und Preisrichtern. Ich wünsche uns allen einen guten Bauverlauf und dem Werk ein gutes Gelingen! Ich wünsche mir, daß dieses Haus - das neue Kanzleramt der Bundesrepublik Deutschland -, die Stadt Berlin und unser Land mit Gottes Hilfe eine gute Zukunft in Frieden und Freiheit haben mögen!

Quelle: Bulletin der Bundesregierung. Nr. 15. 18. Februar 1997.