4. Juli 1983

Ansprache bei einem Abendessen im Kreml anlässlich des Besuchs in der Sowjetunion vom 4. bis 7. Juli 1983

 

Sehr geehrter Herr Ministerpräsident!

Ich danke Ihnen, zugleich im Namen meiner Delegation, für Ihre Begrüßung und für die uns in Moskau erwiesene Gastfreundschaft.

Es erfüllt mich mit Befriedigung, daß ich einen Dialog mit Ihnen aufnehmen kann, der bereits Tradition hat, eine Tradition, die Konrad Adenauer bei seinem Besuch in Moskau im September 1955 begründet hat.

Die von mir geführte Bundesregierung ist am 6. März 1983 durch das überzeugende Votum der Wähler bestätigt worden.

Wichtige Ziele meines außenpolitischen Programms sind die Fortentwicklung langfristiger Beziehungen mit der Sowjetunion und mit unseren übrigen östlichen Nachbarn; die Begründung einer neuen und besseren Qualität unserer Beziehungen und regelmäßigere Gespräche und Kontakte auf allen Ebenen, auch auf höchster Ebene.

Mein Besuch steht im Zeichen des gegenseitigen Kennenlernens zweier neuer politischer Führungen und der Erläuterung der jeweiligen Standpunkte. Er bietet die Möglichkeit, beiderseitiges Verständnis und Vertrauen zwischen unseren beiden Staaten und zwischen Ost und West ganz allgemein zu stärken.

Unsere beiden Staaten gehören verschiedenen politischen und gesellschaftlichen Systemen an. Die Bundesrepublik Deutschland ist Teil des Atlantischen Bündnisses, Mitglied der Europäischen Gemeinschaft; sie ist den Vereinigten Staaten von Amerika und unseren Partnern in Europa freundschaftlich verbunden. Unsere auf gemeinsamen Überzeugungen fest gegründete Verankerung im Westen ist eine Realität, ein Erfordernis unserer Sicherheit; sie ist aber auch Teil unserer Berechenbarkeit und unserer Glaubwürdigkeit. Sie ist Grundlage unserer Dialogbereitschaft und unseres Verständigungswillens mit den Regierungen der Sowjetunion und den übrigen Staaten des Warschauer Paktes und ihren Bürgern.

Angesichts des Ausmaßes der zu bewältigenden Probleme haben die Menschen in der Bundesrepublik Deutschland und in der Sowjetunion bei allen Unterschieden in den politischen Auffassungen und bei ihrer Zugehörigkeit zu gegensätzlichen Gesellschaftsordnungen einen gemeinsamen Ausgangspunkt: die Sorge um die Sicherung des Friedens und um die Überwindung der Spannungen und ihrer Ursachen.

Die deutsch-sowjetischen Beziehungen haben für uns in unserer geographischen und politischen Situation im Zentrum Europas ganz besonderen Rang. Sie können nicht losgelöst werden von den Rahmenbedingungen des West-Ost-Verhältnisses insgesamt.

Zwischen Deutschen und Russen hat es schon sehr früh enge persönliche Verbindungen und vielfältige Formen der Zusammenarbeit gegeben. Das Rußland insbesondere des 19. Jahrhunderts hat fortwirkenden Einfluß auf die deutsche und europäische Kultur.

Die Ereignisse in diesem Jahrhundert, die Leiden und schweren Opfer in zwei Weltkriegen haben die Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern erschüttert. Was jedoch an historischen Verbindungen zwischen uns gewachsen ist, wurde dadurch nicht zerstört; die leidvollen Erfahrungen haben darüber hinaus gemeinsame Verpflichtungen geschaffen.

Wir haben aus der Geschichte unsere Lehren gezogen. Unser Volk ist von tiefer Friedenssehnsucht erfüllt. Wir wissen, daß wir den Frieden in Europa und weltweit nur miteinander sichern können.

Angesichts der schwierigen internationalen Situation brauchen wir tragfähige Kompromisse und den Blick über gegenwärtige ernste Schwierigkeiten hinaus auf die langfristigen Perspektiven unserer Zusammenarbeit.

Wir wollen deshalb eine Politik der Verständigung, der Kooperation, der Entspannung und des Ausgleichs mit dem Osten auf der Grundlage und in konkreter Ausfüllung der Verträge mit der Sowjetunion, mit der Volksrepublik Polen, mit der ČSSR auf der Grundlage des Viermächte-Abkommens, des Grundlagenvertrages mit der DDR und der Schlußakte von Helsinki sowie der darauf gegründeten Vereinbarungen und Erklärungen.

Es gibt vielfältige Möglichkeiten, die politische, wirtschaftliche und kulturelle Zusammenarbeit zu verstärken.

Wir wollen eine realistische Politik. Ihr Kern ist der Gewaltverzicht. Sie ist geprägt vom Geist guter Nachbarschaft in den gegenseitigen Beziehungen. Sie versucht, den vereinbarten Modus vivendi konstruktiv zu nutzen und auszufüllen.

Wir gehen davon aus, daß eine solche Politik langfristig auch zur Lösung der ungeklärten Probleme beitragen wird, die ganz Deutschland betreffen. Wir halten am Selbstbestimmungsrecht unseres Volkes und an der Einheit unserer Nation fest. Wir resignieren nicht. Uns ist durch unsere Verfassung aufgetragen, auf einen Zustand des Friedens in Europa hinzuwirken, in dem das deutsche Volk in freier Selbstbestimmung seine Einheit vollendet.

Wir denken in historischen Dimensionen. Wir wissen, daß diese Aufgabe nur im Rahmen einer europäischen Friedensordnung zu verwirklichen ist. Wir wollen zu ihr beitragen.

Herr Ministerpräsident, unser Zusammentreffen findet in einer schwierigen internationalen Gesamtlage statt. Konflikte und Spannungen, Ambitionen der Mächte und Vernachlässigung des universalen Gebots der Mäßigung gefährden den Frieden und die Stabilität in vielen Teilen der Welt.

Wir sind uns über die Ursachen der Konflikte und über die Wege ihrer Lösungen in wichtigen Bereichen nicht einig.

Dies ist der Fall bei der andauernden Intervention sowjetischer Streitkräfte in Afghanistan, durch die die internationalen Beziehungen in starkem Maße gestört bleiben. Die Sowjetunion sollte sich dem Wunsch des afghanischen Volkes und der internationalen Staatengemeinschaft nach einer politischen Lösung der Afghanistan-Frage nicht entziehen. Von einer solchen Lösung würden günstige Wirkungen auf das gesamte Ost-West-Verhältnis ausgehen.

Außerdem bietet die Lage in Indochina, im Nahen Osten und in verschiedenen Regionen Afrikas und anderer Kontinente Anlaß zur Sorge.

Die Bundesrepublik Deutschland achtet und unterstützt die Unabhängigkeit und die echte Blockfreiheit der Staaten in der Dritten Welt. Diese dürfen nicht in den Gegensatz zwischen Ost und West hineingezogen werden.

Die vor wenigen Tagen in Belgrad beendete Konferenz der Vereinten Nationen über Fragen des Handels und der Entwicklung hat erneut die schweren wirtschaftlichen Probleme der Länder der Dritten Welt deutlich gemacht. Alle Industrieländer in West und Ost sind aufgerufen, ihre Märkte weiter zu öffnen sowie die finanzielle und technische Zusammenarbeit mit den Entwicklungsländern zu intensivieren. Hier ist, Herr Ministerpräsident, der Ort für friedlichen Wettbewerb aller Länder und Systeme.

Nicht nur wir, sondern auch alle unsere Verbündeten wollen eine substantielle Verbesserung der Ost-West-Beziehungen. Der Dialog zwischen Ost und West, den wir heute zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Sowjetunion praktizieren, ist hierzu ein wichtiges Mittel.

Ich setze mich für ein baldiges Gipfeltreffen zwischen Ihrem Generalsekretär und dem amerikanischen Präsidenten ein. Wir sind der Auffassung, daß ein solches Treffen, wenn es gut vorbereitet wird, viel Mißtrauen abbauen und die Lösung drängender Probleme einleiten kann.

Im letzten NATO-Kommuniqué wird neben der Entschlossenheit des Bündnisses zur Verteidigung auch die Bereitschaft betont, „durch Zusammenarbeit und Dialog ein konstruktives Ost-West-Verhältnis mit dem Ziel echter Entspannung zu entwickeln". Dies ist ein Angebot aller Bündnismitglieder.

Mißverständnisse und Mißtrauen auszuräumen, Spannungen abzubauen - diesem Ziel dient der in Helsinki begonnene Prozeß zur Sicherung des Friedens und zum Wohle der Menschen in ganz Europa. Wir müssen ihn entschlossen und beharrlich fortsetzen.

Der baldige erfolgreiche Abschluß des Madrider KSZE-Folgetreffens mit einem substantiellen und ausgewogenen Schlußdokument, zu dem ein Mandat für eine Konferenz über Vertrauensbildung und Abrüstung in Europa gehören muß, wäre ein zukunftsweisender Schritt.

Der in Madrid vorgelegte Kompromiß für ein Schlußdokument wahrt die Interessen aller Beteiligten. Wir sollten auf seiner Grundlage rasch zu einem befriedigenden Ergebnis kommen.

Zu Polen kennt die Sowjetunion unsere Haltung und die unserer Bündnispartner. Wir haben mit diesen gemeinsam die Hoffnung, daß die Reise von Papst Johannes Paul II., der auf Einladung der polnischen Regierung seine Heimat besucht hat, dazu beitragen wird, in Polen jenen nationalen Konsens herbeizuführen, den dieses Land braucht, um aus der gegenwärtigen Krise herauszufinden.

Für die Bundesrepublik Deutschland an der Nahtstelle zweier Bündnisse und zweier gesellschaftlicher Systeme haben Fragen der Sicherheit und der Abrüstung besonderes Gewicht.

Für uns bleibt Gewaltverzicht ein Kernstück unserer Friedenspolitik. Er ist in der Charta der Vereinten Nationen verankert und wurde in der Schlußakte von Helsinki bekräftigt. Er ist tragendes Element unserer Verträge mit unseren Nachbarn im Osten. Die Staats- und Regierungschefs des Atlantischen Bündnisses haben in der Bonner Erklärung vom Juni 1982 feierlich bestätigt, daß keine ihrer Waffen jemals eingesetzt wird, es sei denn als Antwort auf einen Angriff. Deutlicher kann ein Gewaltverzicht nicht formuliert werden. Diese Aussage ist weitreichender als eine Absage an den Ersteinsatz von Nuklearwaffen.

Wir haben den Vorschlag der Prager Erklärung, auf die der Warschauer-Pakt-Gipfel in Moskau erneut Bezug genommen hat, mit Interesse zur Kenntnis genommen. Eine erneute, verbindliche Bekräftigung des Gewaltverbotes kann zur Verbesserung der internationalen Lage beitragen, wenn dadurch Gewaltandrohung konkret verhindert wird, Gewaltanwendung dort, wo sie andauert, beendet wird.

Wir sehen das historisch begründete Sicherheitsinteresse der Sowjetunion. Wir erwarten aber auch unsererseits Verständnis für unsere Sicherheitsbedürfnisse.

Die Situation bei den landgestützten nuklearen Mittelstreckenwaffen ist besonders ernst. Am 6. Mai 1978 ist in der deutsch-sowjetischen Erklärung ausdrücklich festgestellt worden, „daß beide Seiten es als wichtig betrachten, daß niemand militärische Überlegenheit anstrebt". Zugleich gingen beide Seiten davon aus, daß annähernde Gleichheit und Parität zur Gewährleistung der Verteidigung ausreichen.

Schon 1978 war die Sowjetunion bei den landgestützten Mittelstreckenraketen weit überlegen und hat seit dem Datum der gemeinsamen Erklärung ihren Bestand an nuklearen Gefechtsköpfen bei diesen Raketen noch verdoppelt.

Generalsekretär Andropow hat am 3. Mai 1983 die Anzahl nuklearer Gefechtsköpfe als entscheidendes Kriterium der nuklearen Bedrohung definiert.

Trotz der schon 1978 bestehenden Überlegenheit der Sowjetunion bei den landgestützten Mittelstreckenraketen ist im Westen bisher keine einzige amerikanische Rakete dieser Art stationiert worden.

Der Westen strebt nicht nach Überlegenheit, wie ihm in der gemeinsamen Erklärung des Warschauer-Pakt-Gipfels in Moskau vom 29. Juni unterstellt wird. Auch wenn sich das Atlantische Bündnis bei Ausbleiben eines konkreten Verhandlungsergebnisses zur Stationierung veranlaßt sehen würde, bliebe die Zahl der amerikanischen Systeme weit hinter der Zahl der von sowjetischer Seite bereits stationierten Mittelstreckenraketen und Gefechtsköpfe zurück.

Die sowjetische Staatsführung hat wiederholt von dem gemeinsamen Haus gesprochen, in dem die Völker Europas in Frieden zu leben haben. Ich möchte aber unterstreichen, daß das Wohnen im gemeinsamen Haus besondere Rücksichtnahme aufeinander verlangt.

Es ist für die Bundesrepublik Deutschland von lebenswichtigem Interesse, die militärischen Rüstungen durch ausgewogene und verifizierbare Rüstungskontrollvereinbarungen abzubauen und einzugrenzen.

Der Westen hat der Sowjetunion das bisher breiteste Angebot operativer Vorschläge für Rüstungskontrolle und Abrüstung vorgelegt. Darin kommt der klare Wille zur Verständigung und zum Interessenausgleich mit dem Osten zum Ausdruck.

Alle Vorschläge sind aus der tiefen Sorge um die Erhaltung des Friedens entstanden. Sie verdienen kein Mißtrauen, sondern nüchterne Prüfung. Sie halten nüchterner Prüfung stand. Sie sollen und können zu Vereinbarungen führen, die beiden Seiten dienen und den Frieden sichern.

Wir teilen nicht die Auffassung, daß die Genfer Verhandlungen bisher völlig erfolglos verlaufen sind. Die wichtigen Substanzfragen sind klar definiert worden. Bei entsprechenden politischen Entscheidungen und der erforderlichen Kompromißbereitschaft könnte noch in diesem Jahr ein Verhandlungsergebnis erreicht werden.

Ich begrüße es ausdrücklich, daß der Warschauer-Pakt-Gipfel in seiner Erklärung vom 29. Juni die Situation ebenso einschätzt und bereit ist, noch in diesem Jahr ein Ergebnis zu erzielen. Ich hoffe, daß das hierin zum Ausdruck kommende Bekenntnis des Warschauer Pakts zu Abrüstung und Rüstungskontrolle in Genf und auch in den anderen Verhandlungsforen wirksam werden wird.

Ich akzeptiere nicht den Vorwurf, daß die USA nicht ernsthaft verhandeln. Ich weiß aus zahlreichen Gesprächen mit dem amerikanischen Präsidenten, daß er bestrebt ist, alle Verhandlungsmöglichkeiten auszuschöpfen.

Wir erkennen an, daß auch die Sowjetunion in Genf mit Ernst verhandelt. Ihr Ziel, die westliche Stationierung zu verhindern und ihre Monopolstellung im Mittelstreckenbereich zu erhalten, wird dem Prinzip der Gleichheit nicht gerecht. Das bleibt ein schwerwiegendes Hindernis in den Verhandlungen.

Wir stehen zu beiden Teilen des Doppelbeschlusses. Wir setzen uns dafür ein, daß alle Verhandlungsmöglichkeiten ausgeschöpft werden. Wir wollen Frieden schaffen mit immer weniger Waffen.

Ich appelliere an die Sowjetunion, ein ausgewogenes Verhandlungsergebnis möglich zu machen. Ich stimme mit der sowjetischen Regierung darin überein, daß es hierzu nicht zu spät ist.

Ich möchte aber an dieser Stelle ebenso deutlich sagen: Wenn sich in diesem Jahr ein konkretes Verhandlungsergebnis noch nicht erzielen läßt, dann wird entsprechend den im Bündnis eingegangenen Verpflichtungen die Stationierung wie geplant beginnen. Davon läßt sich die von der Mehrheit des deutschen Volkes unterstützte Bundesregierung nicht abbringen. Das Bündnis wird auch dann bereit sein, die Verhandlungen fortzusetzen.

Ich bin zuversichtlich, daß unsere Begegnung hilfreich sein kann.

Die Warschauer-Pakt-Erklärung vom 29. Juni zu den INF-Verhandlungen ermutigt mich dazu, auf einen Erfolg zu hoffen.

Die von mir geführte Bundesregierung wünscht auch für die Genfer Verhandlungen über strategische Waffen substantielle Fortschritte, wobei wir einen engen Sachzusammenhang zu den Mittelstreckenverhandlungen sehen.

In gleichem Maße sind wir an einem baldigen Erfolg der Wiener Verhandlungen über beiderseitige ausgewogene Truppenverminderungen in Europa und der Genfer Gespräche über ein umfassendes Verbot für chemische Waffen interessiert.

Wir haben mit Interesse zur Kenntnis genommen, daß die Sowjetunion bei den MBFR-Verhandlungen in Wien vor wenigen Tagen einen Vertragsentwurf eingebracht hat, der neben dem westlichen Vorschlag vom Juli 1982 die Grundlage für eine weitere Annäherung in den noch offenen Kernfragen darstellen kann.

Die Abrüstung im nuklearen Bereich darf uns den Blick für die Notwendigkeit konventioneller Rüstungsbegrenzung nicht verstellen. Wir wollen deshalb durch Truppenreduzierungen in Mitteleuropa bei MBFR sowie durch mehr Transparenz bei militärischen Aktivitäten in ganz Europa, die wir im Rahmen einer Konferenz über Vertrauensbildende Maßnahmen und Abrüstung in Europa anstreben, die Stabilität erhöhen und mehr Sicherheit erreichen.

In den Verhandlungen bietet sich jetzt die große Chance, die Grundlagen für eine langfristige Entspannung und Zusammenarbeit zwischen West und Ost zu schaffen, die auf Gleichheit und Gleichberechtigung aufbauen. Dafür tritt die Bundesregierung mit allem Nachdruck ein.

Ebenso nachdrücklich treten wir dafür ein, daß die Auseinandersetzungen und Meinungsunterschiede in der Sicherheitspolitik nicht auf unsere Zusammenarbeit in anderen Bereichen übergreifen oder sie gar zum Erliegen bringen.

Herr Ministerpräsident, eine gesicherte politische Zukunftsperspektive würde auch die Chancen erhöhen, die Möglichkeiten auszuschöpfen, die sich für die langfristige wirtschaftliche Zusammenarbeit bieten. Ich bin der festen Überzeugung, daß hier noch ein weites Feld für den Ausbau unserer Beziehungen besteht.

Mit Genugtuung können wir auf die erfreuliche Entwicklung der Wirtschaftsbeziehungen zwischen unseren Staaten blicken, die sich in einer stetigen Zunahme des bereits hohen Niveaus des Warenaustausches spiegelt. In den letzten zehn Jahren ist dieser Austausch um das Achtfache angestiegen.

Die Bundesrepublik Deutschland bleibt an langfristiger Zusammenarbeit mit Ihrem Lande interessiert, so wie sie im Rahmen der bestehenden Verträge über unser Jahrhundert hinaus angelegt ist. Wir wollen diese Verträge weiterentwickeln.

Der Wert einer aktiven und zukunftsorientierten Wirtschaftskooperation im gegenseitigen Interesse erschöpft sich nicht in ihrem wohlstandsmehrenden Nutzen. Wir betrachten sie darüber hinaus auch als eine wichtige und solide Basis für stabile, auf Dauer angelegte fruchtbare politische Beziehungen.

Die Bundesregierung hat dies im Mai dieses Jahres mit ihrer Bereitschaft, die beiden Kooperationsabkommen von 1973 und 1974 um weitere zehn Jahre zu verlängern, dokumentiert.

Herr Ministerpräsident, die Beziehungen zwischen unseren beiden Ländern und Völkern haben tiefe menschliche und historische Wurzeln. Menschen aus allen Regionen Deutschlands sind nach Rußland gekommen, um sich an seiner geistigen und wirtschaftlichen Entwicklung zu beteiligen.

Aus dieser langen Geschichte rührt auch die uns in diesen Tagen beschäftigende humanitäre Frage. Deutsche und Sowjetbürger deutscher Nationalität wollen zu ihren Familien und Verwandten in meinem Lande ausreisen. Diese Möglichkeit muß im Geist der Menschlichkeit erhalten bleiben. Das ist für uns ein ganz wesentlicher Punkt der gegenseitigen Beziehungen.

Es gilt, die Tendenzen der letzten Jahre aufzuhalten und zu einer positiven Praxis zurückzukehren. Wir würden es sehr begrüßen, wenn baldige Fortschritte in der Ausreisefrage möglich würden.

Darüber hinaus bleiben wir an einer wesentlichen Verbesserung der Lebensbedingungen und der Möglichkeit zur kulturellen Selbstverwirklichung der Deutschen in der Sowjetunion interessiert.

Lassen Sie uns auch beim Austausch in Kunst und Wissenschaft, beim Sport, bei der Jugend, den Gewerkschaften und anderen gesellschaftlichen Gruppen auf Fortschritt setzen.

Persönliches Kennenlernen der Menschen ist der beste Weg zum gegenseitigen Verstehen; gegenseitiges Verstehen ist das sicherste Unterpfand des Friedens.

In diesem Sinne habe ich Ihnen, Herr Ministerpräsident, bei unserer ersten Begegnung vorgeschlagen, daß wir den politischen Dialog auf höchster Ebene und auf allen anderen in der Praxis bewährten Ebenen zu einem festen Bestandteil unserer Beziehungen machen.

Ich würde mich deshalb freuen, wenn wir unser Gespräch mit Generalsekretär Andropow und mit Ihnen in der Bundesrepublik Deutschland fortsetzen könnten. Wir haben in aller Offenheit miteinander gesprochen und haben einander aufmerksam zugehört. Um dies zu erreichen bin ich hierhergekommen, und schon deshalb war diese Begegnung zwischen uns von großem Nutzen.

Ich wünsche uns, daß diese Möglichkeit gegenseitigen Verständnisses unsere zukünftige Arbeit erleichtert und daß sie sich zu einer soliden Vertrauensbasis entwickelt.

Ich erhebe mein Glas auf Frieden und Verständigung zwischen den Völkern, auf eine glückliche Zukunft und eine erfolgreiche Entwicklung Ihres Landes, auf das persönliche Wohl des Herrn Generalsekretärs, auf Ihr persönliches, Herr Ministerpräsident, und auf das Wohl aller Bürger Ihres Landes.

Quelle: Bundeskanzler Helmut Kohl: Reden 1982-1984. Hg. vom Presse- und Informationsamt der Bundesregierung. Bonn 1984, S. 253-264.