4. Oktober 1974

Rede auf dem Familienpolitischen Kongress der CDU in Münster

 

Das Thema „Familie" ist gerade heute von hoher Aktualität. Deshalb hat die CDU zu diesem Fachkongress eingeladen. Wir wollen unsere familienpolitischen Ziele kritischer Prüfung unterziehen und den politischen Notwendigkeiten von heute und morgen anpassen. Denn auch die Familienpolitik der CDU ist nicht statisch, sondern wird selbstverständlich entsprechend den Wandlungen und Veränderungen in unserer Gesellschaft fortgeschrieben.

Die Aktualität des Themas Familie ergibt sich zum einen unter finanz- und sozialpolitischen Gesichtspunkten. Hierzu möchte ich einige Punkte nennen, die in engem Zusammenhang mit unseren familienpolitischen Erörterungen stehen müssen: Fragen der Steuerpolitik, Kindergeld, Erziehungsgeld, Ausbildungsbeihilfen usw. Der angeblich sozial-liberalen Bundesregierung muss vor allem in das politische Stammbuch geschrieben werden: Im Vergleich zur inflationären Entwicklung von Löhnen und Preisen sind die Sozialeinkommen überproportional zurückgeblieben. Das hat zur Folge, dass Familien mit Kindern zu den am meisten Inflationsgeschädigten zählen. Ich sehe die Aktualität des Themas Familie zum anderen in einem umfassenderen, wertorientierten Sinne: Denn am Thema Familie lässt sich die ethische, geistige und ordnungspolitische Position des einzelnen wie einer Gruppe oder einer Partei deutlich erkennen. Wir verhehlen unsere Position in dieser Frage nicht, sondern bekennen selbstbewusst: Unsere familienpolitischen Ziele und Vorstellungen erwachsen aus einer christlich-humanen Anthropologie, also aus unserem christlichen Menschenbild.

Es ist nicht von ungefähr, sondern geradezu typisch, dass sich etwa in der Regierungserklärung von Bundeskanzler Schmidt ebenso wie in den beiden vorangegangenen von Willy Brandt keine Ausführungen über ein konsequentes familienpolitisches Konzept finden lassen. Die Regierungserklärung von Schmidt begnügt sich mit Hinweisen auf die Reform des Ehe- und Familienrechts sowie auf die Erweiterung des Schutzes und der Rechte der Kinder. Das Thema Familie spielt offensichtlich überhaupt für die SPD nur eine sehr nachgeordnete Rolle. Die SPD-Parteiprogramme und Wahlplattformen zeichnen sich nämlich durch eine bemerkenswerte Zurückhaltung in Bezug auf familienpolitische Zielsetzungen aus. Um so weniger überrascht es, dass sich in Verlautbarungen der Jungsozialisten in der SPD sehr distanzierte, ja äußerst kritische Einstellungen zur Familie finden. Sie stehen vor allem im Zusammenhang mit einer völlig einseitigen Sicht der Emanzipation der Frau. Aber das muss wohl so sein und ist charakteristisch für eine politische Haltung, die alle Probleme, auch die der Frauen, monokausal und einseitig auf den angeblichen Grundwiderspruch von Kapital und Arbeit zurückführt und demzufolge der Frau die Fähigkeit zum Erkennen dieser Zusammenhänge abspricht. Dann kommt man konsequenterweise zu Schlüssen wie sie auf dem JUSO-Kongress 1974 in München zum Thema Familie gefasst wurden. Ich zitiere: „Dieser Zustand resultiert nicht zuletzt aus dem Zusammenspiel von bürgerlicher Mutterschafts- und Familienideologie und den Interessen des Kapitals an den billigen weiblichen Arbeitskräften zwecks Mehrwertsteigerung und ihrer Ausnutzung als industrielle Reservearmee zur Bewältigung zyklischer Krisen des Kapitalismus." Auf diese Weise ist dann alles erklärt, und weiteres Nachdenken über Familienpolitik bleibt diesen Ideologen in ihrer Selbstgerechtigkeit erspart.

Doch lassen Sie mich jetzt direkt auf Familienprobleme in der heutigen Zeit eingehen. Es gab in jüngster Zeit Entwicklungen in der gesellschaftspolitischen Diskussion, in denen die Familie total in Frage gestellt wurde. Das hat sich bereits, wie mir scheint, überlebt, wie sich alles Extreme überleben wird. Die Familie beweist sich allein durch ihr Fortbestehen immer wieder selbst, wenn auch des öfteren verdeckt und versteckt in nicht legalisierten Formen.

Das heißt nicht, dass die Familie keine Veränderungen erfahren hat. Der Strukturwandel in Wirtschaft und Gesellschaft hat auch vor ihr nicht haltgemacht und erfordert kritische Überprüfung ihrer Zielsetzung und Förderung und intensives Nachdenken darüber, wie wir politisch am besten zur Stärkung der Familie beitragen können. Auf alte Fragen, etwa denen nach der Erziehungsaufgabe und der Sozialisationsaufgabe der Familie oder ihrer Leistungsfähigkeit in Bezug auf die seelische und körperliche Regeneration des Menschen, müssen wir neue Antworten in unsere Überlegungen einbeziehen. Wir wollen und wir werden diesen Fragen nicht ausweichen. Wir nehmen diese Fragen gerne auf, um auch unsere Positionen und politischen Aktionen immer wieder neu zu überprüfen zum Nutzen der Familie und um sie instand zu setzen zur bestmöglichen Bewältigung ihrer Aufgaben.

Ein rein gefühlsmäßiges und rational nicht mehr hinterfragbares Zurückgehen auf den Artikel 6 des Grundgesetzes, das heißt ein bloßes Pochen auf den Schutz der Familie durch das Grundgesetz, ist nach unserer Auffassung für die heutige Diskussion nicht mehr ausreichend. Vorrangig sehe ich die Behandlung der Problematik Familie und der damit anstehenden Lösungsversuche in einer engen Verbindung mit anderen gesellschaftspolitischen Problemen, die uns derzeit beschäftigen oder in jüngster Zeit beschäftigt haben. Als Beispiele solcher gesellschaftspolitischer Entscheidungen, die tiefe Auswirkungen auf die Familie haben, sehe ich: die Reform des § 218 Strafgesetzbuch, Fragen des Familien- und Ehescheidungsrechts, Probleme des Jugendhilferechts im Zusammenhang mit dem Recht des Kindes, der Eltern und dem des Staates, Probleme des Sorgerechts der Eltern und die Reform des Sexualstrafrechts.

Die Behandlung all dieser Komplexe, in denen ohne Zweifel zahlreiche familienpolitische Probleme stecken, zeigt immer wieder, von welcher ethischen und gesellschaftspolitischen Grundposition die handelnden Parteien ausgehen: Wichtige meinungs- und entscheidungsbildende Kreise in der SPD setzen auch hier vielfach bei der Konflikttheorie an. Sie wollen das gesellschaftliche System als solches ändern oder abschaffen, anstatt die Mängel im Rahmen des Vorhandenen zu beheben. Sie nutzen somit vorhandene gesellschaftliche Schwachstellen und Mängel als Vehikel, um eine neue Gesellschaftsordnung einzuführen. Deren weitaus gravierendere Mängel haben sich in anderen Teilen unserer Welt aber längst erwiesen. Lassen Sie mich das an einem Beispiel verdeutlichen: Wenn manche Kinder im Elternhaus nicht die an sich notwendige Förderung ihrer geistig-seelischen, körperlichen und sozialen Entwicklung erhalten, dann sollte man nicht die Elternhauserziehung an sich verteufeln und das alleinige Heil in einer zwangsweisen, obligatorischen Kindergartenerziehung und ausschließlich in Ganztagsschulen sehen, sondern nach unserer Auffassung muss man dann die Elternhäuser so unterstützen, dass sie ihre Erziehungsaufgaben erfüllen können. Das verstehen wir, die CDU, unter Herstellung von Chancengerechtigkeit. Dabei sehen wir durchaus die Nützlichkeit und Notwendigkeit einer ergänzenden außerhäuslichen Erziehung für Kleinkinder. Das aber erst ab einem gewissen Alter, das auch von der Kinderpsychologie als das Alter angesehen wird, von dem an ein Kind eines außerhäuslichen, familienergänzenden Erziehungsfeldes bedarf.

Ich glaube, an diesem Beispiel aus der Familienpolitik ist der Unterschied zwischen unserer ethisch-gesellschaftspolitischen Position und den Zielen der Sozialisten deutlich geworden. Hinter all den hier nur angedeuteten Problemen stehen entscheidende ordnungspolitische Aspekte, die unterschiedliche familienpolitische Zielsetzungen zur Folge haben, denn: Die Gestaltung der Familie als kleinster Organisationseinheit der Gesellschaft, das Verhältnis der Ehepartner und das der Eltern und Kinder zueinander, die Ausweitung des Freiheitsraumes des einzelnen im privaten und gesellschaftlichen Bereich und die Entfaltung von Solidarität zwischen den Menschen und anderes mehr, alle diese ordnungspolitischen Aspekte hängen entscheidend davon ab, wie ich das Verhältnis „Einzelner-Staat-Gesellschaft" sehe und welche Zuordnung und Aufgabenstellung ich jedem dieser drei Faktoren beimesse, wie stark ich die Leistungsfähigkeit des Grundsatzes der Subsidiarität bei der Aufgabenstellung und bei der Bewertung der Leistungsfähigkeit der einzelnen gesellschaftlichen Ebenen einschätze und wie hoch in meinem Bewusstsein und Verhalten die freie und solidarische Gruppe, das heißt etwa die Familie, im Verhältnis zum einzelnen und zum Gesellschaftsganzen, zum Kollektiv, rangiert.

Wer wie wir Freiheit in ethischer Bindung vor übersteigerten Individualismus und wer wie die CDU solidarische Verpflichtung und Hilfe vor kollektiven Zwang stellt, der kommt auch zu ganz eindeutigen Vorstellungen und Zielsetzungen bei der Lösung gesellschaftspolitischer Probleme. Lassen Sie mich das an einigen Beispielen verdeutlichen:

1. Das menschliche Leben, auch das ungeborene, kranke und alte hat in unserer Vorstellung eine unbedingte Vorrangstellung vor persönlicher Freiheit und Emanzipation. Eine Umkehrung dieser Werte würde nicht mehr Freiheit und Humanität, sondern Inhumanität und Egozentrik im darwinistischen Sinne bedeuten. Von daher begründet sich auch die prinzipielle Haltung der CDU in der Frage der Neufassung des §218.

2. Ehe und Familie erhalten in unserer Auffassung eine hohe ethische Bewertung als Institutionen, die im Prinzip auf die Lebensdauer der Partner angelegt sind. Dies gebietet allein schon die Achtung und Solidarität der Partner füreinander. Das ist entscheidend für unsere Haltung in der Ehescheidungsfrage.

3. Das Recht der Eltern und das Recht des Kindes werden von uns gleich bewertet. Das erlaubt durchaus eine stärkere Gewichtung des einen oder anderen Rechtes je nach Lebensphase. Hierin liegt die Grundeinstellung der CDU zum Sorgerecht der Eltern begründet.

4. Wir streben die Zusammenführung und Solidarisierung aller Generationen in einem Familienverband an. Das bedeutet keineswegs, dass das Wohnen unbedingt in einem gemeinsamen Haushalt erfolgen muss, aber es soll doch soweit wie möglich gefördert werden und vor allem das persönliche Verantwortungsempfinden der verschiedenen Generationen füreinander wecken und verstärken, um so auch die häufig vorhandene Ghettosituation der alten Menschen aufzulösen.

5. Die CDU setzt sich ein für die Entwicklung und Förderung freiwilliger Hilfen der Menschen untereinander in den Gemeinschaften von Nachbarschaft, Gemeinde, Kirchen usw. Dabei ist uns selbstverständlich, dass ohne organisierte soziale Dienstleistungen in einer Industriegesellschaft Sozialarbeit nicht mehr möglich ist. Freiwillige Nachbarschaftshilfe kann und sollte ergänzend dazukommen, aber auch sie muss in einem bestimmten Umfang organisiert und gefördert werden. Aus unserer Wertschätzung des Engagements des einzelnen in allen denkbaren sozialen Bereichen leitet sich unsere positive Einstellung zur direkten Selbsthilfe und zu den freien Trägern in der Sozial- und Jugendarbeit ab.

Unter diesen Voraussetzungen und Bedingungen gibt es für die CDU nur „Gesellschaftspolitik aus einem Guss", also Gesellschaftspolitik nach einheitlichen Leitprinzipien und Maßstäben. Alle anstehenden gesellschafts- und familienpolitischen Probleme und alle in der Erörterung stehenden Lösungen werden von uns mit der gleichen ethisch-sozialen Elle gemessen. Daher unterliegen alle politischen Gestaltungsbemühungen in den verschiedenen sozialen Bereichen nach unseren Vorstellungen den folgenden Zielen:

Für den einzelnen soll ein möglichst großer Freiheitsraum erhalten, geschaffen und erweitert werden.

Eine möglichst umfassende, frei gewollte und freiwillig übernommene Hilfsverpflichtung des einzelnen für den Mitbürger, auch den schwächeren, in Familie, Gemeinde, Gruppe und Staat muss in unserer Bevölkerung, insbesondere bei den jungen Menschen, selbstverständlich werden.

Möglichst große Chancengerechtigkeit für alle Bürger soll herbeigeführt werden. Diese soziale Chancengerechtigkeit bedeutet in unserem Sinne gleiche Verteilung der Ausgangschancen für die personale und soziale Entwicklung.

Die Familie gewinnt in diesem Bewertungssystem deshalb einen so hohen Rang, weil sie als soziale Institution mehr als alle anderen gute Möglichkeiten für die Verwirklichung der Chancengerechtigkeit bietet. So erhält nach unserer Auffassung Familienpolitik erst ihre Zielsetzung und ihre Sinnerfüllung im Kontext zum allgemeinen gesellschaftspolitischen Orientierungsrahmen. Er ergibt sich aus der Bestimmung personaler und sozialer Grundwerte, wie ich sie eben kurz beschrieben habe.

In diesem Zusammenhang dieser unserer personalen und sozialen Grundwerte ordnen wir auch die Bewertung der Forderung nach „Gestaltung des Fortschritts" ein. Anders als modische Kulturpessimisten und Kulturkritiker bejahen wir den technischen und ökonomischen Fortschritt. Ohne Wachstum der Wirtschaft gibt es keine wachsenden Finanzmittel und sonstigen Voraussetzungen zur humanen Gestaltung unserer Welt. Nullwachstum bedeutet Rückschritt! Von daher ergibt sich für uns auch die Notwendigkeit einer produktivitätsorientierten Wirtschaftspolitik. Nicht Inflation und künstliche Aufblähung des Wirtschaftskreislaufs, sondern kontrolliertes echtes Wachstum muss das Ziel sein.

Hier setzt unsere harte Kritik an der Politik der SPD/FDP-Koalitions-Regierung der letzten Jahre ein. Diese Regierungen, für die nicht nur Brandt, sondern auch Bundeskanzler Schmidt als der damalige Finanzminister die Verantwortung trägt, haben die Inflation und ihre schädlichen Folgen, vor allem für die Bezieher von Sozialeinkommen, also kinderreiche Familien und Rentner, nicht energisch genug bekämpft und den Verfall der Sparleistungen hingenommen. Wirtschaftliches Wachstum kann aber nicht ausschließlicher Maßstab für die gesamte Gesellschaftspolitik sein. Sie ist bedeutend mehr als nur Wirtschaftspolitik! Bei der Formulierung gesellschaftspolitischer Zielvorstellungen stehen humane und soziale Gesichtspunkte im Vordergrund: Sie sind auch dort zu beachten, wo ökonomische Aspekte zunächst Vorrang haben, etwa bei der Gestaltung der konkreten Arbeitswelt oder bei der Konjunkturpolitik.

Andererseits dürfen wirtschaftlich-finanzielle Aspekte bei sozialpolitischen Maßnahmen, etwa der Familienpolitik, keinesfalls außer acht gelassen werden. Dabei sind insbesondere lang- und kurzfristige Auswirkungen sauber zu trennen. Denn gerade soziale Investitionen bringen oft erst nach Jahren eine „Rendite". Es führt deshalb gesellschaftspolitisch in die Irre, wenn solche sozialen Investitionen bei kurzfristiger Betrachtungsweise als „unrentabel" bezeichnet werden. Das gilt ganz besonders bei den Ausgaben im Bereich der Familienpolitik.

Immer wieder werden gerade in der Gesellschaftspolitik Zielkonflikte entstehen; sie dürfen von den Politikern vor der Bevölkerung nicht vertuscht oder verharmlost werden, wie es die Regierung häufig tut, weil dies bequemer ist. Die Bürger haben ein Recht und einen Anspruch darauf, solche Zielkonflikte zu erfahren und über die Folgen der einen oder anderen Entscheidung vorher informiert zu werden, damit sie sich selbst ein Urteil bilden können. Das verstehen wir, die CDU, unter Respektierung des mündigen und urteilsfähigen Bürgers.

Bei aller gebotenen nüchternen Einschätzung der finanzpolitischen Lage und unter Berücksichtigung des immer stärker werdenden Zielkonflikts zwischen dem gesellschaftspolitisch Wünschenswerten und dem wirtschaftlich Erreichbaren wird die CDU künftig noch mehr als heute darauf bedacht sein, dass bei der Lösung politischer Probleme, die unter starken wirtschaftlichen Einschränkungen stehen, der humane Aspekt, zum Beispiel das Ziel „Förderung und Stärkung der Familie", eindeutiger zum Tragen kommt. Das bedeutet oft nicht eine Erhöhung der Kosten, sondern nur eine Umorientierung im Denken und neue Schwerpunkte bei der Finanzierung.

Nach Auffassung der CDU ist unser Prinzip der Familienfreundlichkeit verstärkt anzuwenden beim Wohnungs- und Städtebau, bei der Entwicklung der Verkehrs Struktur und der Neuordnung der Verkehrstarife, bei der Fortentwicklung von Arbeitsorganisationsformen im Betrieb wie zum Beispiel Schichtarbeit und gleitende Arbeitszeiten.

Wir müssen einfach wieder mehr lernen, die Gestaltung der verschiedenen Lebensräume am Menschen und seinen Bedürfnissen und damit auch an den Erfordernissen der Familie zu orientieren. Das ist das humane und politische Anliegen der CDU, dass die technisch-organisatorische Zweckmäßigkeit nicht überhandnimmt. Sie ist häufig zum Selbstzweck geworden und hat sich ihrem eigentlichen Ziel, nämlich den Menschen zu dienen, entfremdet. Ich bin überzeugt, dass sich so auch viele gesellschaftspolitische Fehlentwicklungen von vornherein vermeiden lassen. Und das ist rentabler, als entstandene Fehler und Fehlentwicklungen im nachhinein zu beseitigen.

Wenn wir als CDU die Familie so hoch bewerten, dann heißt das aber noch lange nicht, dass wir die Familie gleichsam in einen „keimfreien Schonraum" stellen. Die Familie ist auch für uns weder unantastbar noch unbegrenzt leistungsfähig, noch bedingungslos unterstützungswürdig. Die Familie muss sich auch selbst helfen, sich aktivieren, kreativ sein, sich in die Gesellschaft hinein öffnen und sich an den Lösungen gesellschaftlicher Probleme beteiligen, wenn sie in unserer Zeit voll aktionsfähig bleiben will. Die moderne Familie muss offen, mobil, aktiv sein. Nur dann entspricht sie auch den Vorstellungen und Anforderungen moderner Menschen.

Der Staat muss die Familie in ihrem unersetzbaren Eigenwert respektieren. Auch im Bereich der Familie darf er nach unserer Vorstellung nicht alles reglementieren wollen. Nach unserem Staatsverständnis muss der Staat Voraussetzungen und Bedingungen zur Eigenhilfe für den einzelnen und für die Familie schaffen. Die staatlichen Institutionen müssen Hilfe zur Selbsthilfe für die freien gesellschaftlichen Gruppen und ihre Institutionen ermöglichen. Das ist Solidarität und Subsidiarität im Sinne der CDU. Der einzelne und die Familie werden künftig stärker denn je mehr Beratung, mehr Bildung, mehr ambulante Hilfe benötigen. Sonst werden sie kaum in der Lage sein, mit den Problemen dieser Zeit und der immer komplizierter werdenden Welt fertig zu werden.

Wir sehen gerade auf dem Gebiet staatlich geförderter gesellschaftlicher Selbsthilfe ein Hauptaufgabengebiet. Das zeigt sich etwa in unserer Initiative zur Schaffung von „Sozialstationen". Sozialstationen sind als Kristallisationspunkte mitmenschlicher Hilfe gedacht. Sie sind zentrale Einsatzstellen für dezentral arbeitende Fachkräfte der ambulanten Kranken-, Alten- und Familienhilfe. Mit den bisherigen Mitteln und Organisationsstrukturen können die großen Aufgaben sachkundiger mitmenschlicher Hilfe nicht mehr hinreichend bewältigt werden. Es ist an der Zeit, unsere politische Phantasie anzustrengen, um moderne Organisationsformen zur Sicherung und zum Ausbau sozialer Dienste zu entwickeln. Dass die CDU hier den freien Trägern eine besonders bedeutsame Rolle zuweist, brauche ich vor diesem Kongress von Fachleuten wohl nicht besonders hervorzuheben. Allerdings gibt es auch für uns keinen totalen und bedingungslosen Freifahrt schein für die Inanspruchnahme oder Durchsetzung des Prinzips der Subsidiarität. Wo diese nicht funktioniert, wo freie Träger nicht in der Lage oder gar nicht gewillt sind zu handeln, da muss der Staat eingreifen, damit die Hilfsbedürftigen nicht Not leiden. Denn der Mensch steht höher als ein theoretisches Prinzip! Subsidiarität beruht immer auf Gegenseitigkeit und gilt so lange, wie die Sache - oder besser: die Menschen -, um die es geht, nicht Schaden leidet.

Es ist und bleibt eines der obersten politischen Ziele der Union, sich für den einzelnen einzusetzen in all seinen Schwierigkeiten, in die er geraten kann. Es gibt heute kaum eine größere Gefahr als die der persönlichen Vereinsamung in der anonymen Masse. Jugendliche, alte Menschen, alleinstehende Männer oder Frauen sind davon häufig in gleicher Weise betroffen. Leider häufen sich die Fälle von Vereinsamung offenbar mit steigendem wirtschaftlichem Fortschritt und wirtschaftlicher Entwicklung. Menschliche Vereinsamung und Isolierung und damit geistig-seelische Verkümmerung gilt es aufzuheben. Hier liegt auch eine der Hauptfunktionen der Familie. Personale Entfaltung und Geborgenheit im Kreise der Familie zu ermöglichen - das sind zwei zentrale Bezugs- und Zielpunkte für die Familienpolitik der CDU.

Nur wenn der Mensch Geborgenheit und Möglichkeit zu individueller Entfaltung findet, fühlt er, erlebt er menschenwürdige Umwelt. Deshalb sehe ich in all unseren politischen Überlegungen auch nicht nur die funktionierende „Bilderbuchfamilie", die junge Familie mit Kindern vor mir. Wichtig ist für mich auch, was die Familie, der Familienverband, den alten und kranken Menschen, den geistig und körperlich Behinderten, den Alleinstehenden, den ledigen Müttern geben kann. Insoweit kann die Familie weit mehr als andere Einrichtungen tatsächlich einen echten und messbaren Beitrag zur Entwicklung einer humanen Gesellschaft und zur Gestaltung des Fortschritts leisten. Was für die Arbeitsbedingungen gilt, gilt auch für diesen wie für jeden anderen sozialen Bereich: Der Mensch ist wichtiger als die Sache.

Freiheit, Solidarität, Chancengerechtigkeit, Geborgenheit - sind keine leeren Worte oder Utopien mehr im Hinblick auf eine Familie, die für ihre Mitglieder da ist, die sich als Solidargemeinschaft versteht und entsprechend lebt. Hier kann sich auch erweisen, ob es in unserer Gesellschaft noch eine Gesinnungsethik gibt oder ob wir nur noch ausschließlich nach Leistungsmaßstäben leben, mit denen die Menschen nur noch nach ihrer messbaren produktiven Leistung bewertet werden -eine total inhumane Gesellschaft! Aus diesem hohen Stellenwert, den die CDU der Familie gibt, resultiert die politische Aufgabe, die Familie auch wirtschaftlich, soweit eben vertretbar, abzusichern: Kinderreichtum darf nicht zu sozialem Abstieg führen. Die Betreuung alter Eltern darf nicht zur unerträglichen Belastung werden. Die Pflege kranker Familienangehöriger darf nicht zur brutalen Überforderung der Gesunden ausarten. Die Berufstätigkeit von Müttern darf nicht zum Zwang werden. Die Hausfrauentätigkeit darf nicht zum Abbau des Selbstwertgefühls der Frau führen.

Staat und Gesellschaft müssen finanziell und organisatorisch der Familie Hilfen bieten. Das vor allem dann, wenn ohne eigene Schuld der Betroffenen die finanzielle Situation der Familie sich verschlechtert. Das kann durch wachsende steuerliche Belastung, durch Sinken des Sozialeinkommens und durch ständig steigende Lebenshaltungskosten verursacht werden. Das gerüttelt Maß an Schuld der SPD/FDP-Bundesregierung für derartige soziale Verschlechterungen, vor allem für die Familie, muss ohne Beschönigung in das Bewusstsein der Bürger hervorgehoben werden.

Bei aller Notwendigkeit zur finanziellen Stärkung der Familie erhoffe ich mir aber gerade von diesem Kongress auch wichtige Beiträge im Hinblick auf eine Änderung der inneren Einstellung der Bevölkerung und vor allem vieler Politiker gegenüber der Familie und ihrer Förderung. Dieser Kongress sollte dazu beitragen, dass Familienpolitik als gesellschaftsgestaltendes Prinzip wieder stärker in den Vordergrund der Gesamtpolitik tritt. Dabei ist die CDU offen für jede Diskussion, für jede neue Antwort auf die alte Frage, was Familie heute für den einzelnen, die Gesellschaft und den Staat zu leisten vermag. Unser Ziel ist eine kinderfreundlichere und familienbewusstere Gesellschaft. Das ist der beste Weg zu einer am Menschen orientierten Gestaltung des Fortschritts, wie wir ihn für notwendig ansehen.

 

Quelle: Redemanuskript. ACDP 01-710-068/3