5. Juni 1997

Ansprache bei der Kranzniederlegung am Grabe George C. Marshalls anlässlich der Feierlichkeiten zum 50. Jahrestag der Verkündung des Marshall-Plans auf dem Nationalfriedhof Arlington in Washington

 

Sehr geehrter Präsident Ford,

Exzellenzen,

meine sehr verehrten Damen und Herren,

 

für Ihr freundliches Willkommen danke ich Ihnen von Herzen. Wir haben uns heute hier versammelt, um einen bedeutenden Sohn des amerikanischen Volkes zu ehren. George Marshall hat die Entwicklung Europas und die Geschichte meines Vaterlandes nach dem Zweiten Weltkrieg entscheidend mitgeprägt. Sein Name steht für die Ideale der transatlantischen Partnerschaft und Freundschaft, für Großzügigkeit und politische Weitsicht, für tätige Nächstenliebe und unermüdlichen Dienst an der Sache der Freiheit. Gerade wir Deutschen werden diesen großen Mann niemals vergessen. Das gilt besonders für jene, die damals - wie ich - Hunger und Not litten und selbst erlebt haben, welcher Segen sich mit dem Marshall-Plan für ihre Heimat und für ihr eigenes Leben verband.

 

Für uns Europäer, die wir damals das Glück hatten, im freien Teil unseres Kontinents zu leben, bedeutete Marshalls Vision weitaus mehr als eine hochwillkommene wirtschaftliche oder finanzielle Unterstützung. Sie war das ermutigende Zeichen eines Neubeginns - ein Zeichen, das uns Europäern, vor allem auch uns Deutschen Hoffnung und innere Kraft wiedergab. Die Botschaft war klar: Nicht Verwüstung und Verzweiflung sollten unser Schicksal sein, sondern der demokratische Wiederaufbau und eine Zukunft in Frieden und Freiheit.

 

In ganz Europa - dies war das Ziel George Marshalls - sollten durch immer engere wirtschaftliche und politische Zusammenarbeit Wohlstand, Stabilität und Sicherheit geschaffen und dauerhaft bewahrt werden. Man muß daran erinnern, was das damals bedeutete: Nur zwei Jahre nach dem Ende des schlimmsten Krieges, den die Welt erlebt hatte, war diese Botschaft Marshalls für die Menschen wie ein Stern der Hoffnung, an dem sie sich orientieren, auf den sie hoffen konnten.

 

Die Geschichte hat George Marshall recht gegeben. Der Weg, den er wies und für den er sich mit ganzer Kraft einsetzte, ist aber noch nicht zu Ende - er führt weiter in die Zukunft. Wir sind in Europa dabei, auf diesem Weg voranzugehen. Wir bauen das Haus Europa.

 

Mit dem klaren strategischen Blick des erfahrenen Soldaten hatte George Marshall - ebenso wie Präsident Harry S. Truman - früh erkannt, daß es nicht nur darauf ankommen werde, den schwer errungenen Frieden militärisch zu sichern. Wichtiger noch war es, daß Gegner von einst einander die Hände reichten und damit der Friede auch in den Herzen verankert wurde.

 

Aus der gemeinsamen Arbeit für den Aufbau, aus dem politischen und wirtschaftlichen Zusammenwirken sollten Vertrauen, Verständnis und Freundschaft zwischen den Völkern unseres Kontinents entstehen. Heute, 50 Jahre nach Marshalls berühmter Rede in Harvard, lebt sein politisches Vermächtnis fort.

 

Seit dem Fall der Berliner Mauer beginnt es, sich auch für jene Menschen und Völker in Europa zu erfüllen, die über 40 Jahre lang gezwungen waren, unter kommunistischer Zwangsherrschaft zu leben. Wir haben jetzt die Chance, den ganzen Kontinent Europa in Frieden und Freiheit auf Dauer zu einen. Dieses Ziel gehört zum Vermächtnis George Marshalls.

 

Dazu gehört ebenso der Auftrag, die Freundschaft zwischen dem amerikanischen Volk und den Völkern Europas zu pflegen und nach Kräften zu vertiefen. Für uns Deutsche ist die transatlantische Partnerschaft und Freundschaft eine der größten Errungenschaften unserer Geschichte. Ohne sie hätte sich die Bundesrepublik Deutschland nicht zu dem entwickelt, was sie heute ist: die freiheitlichste und stabilste Demokratie, die es je auf deutschem Boden gegeben hat.

 

Es ist mir wichtig, hier in Arlington angesichts der Gräber so vieler großer Amerikaner zu sagen: Die treue und feste Freundschaft Amerikas hat maßgeblich dazu beigetragen, daß wir Deutschen vor bald sieben Jahren unsere Einheit wiedererlangen konnten - in Frieden und mit der Zustimmung aller unserer Nachbarn und Partner. Dafür sind und bleiben wir dem amerikanischen Volk für immer zu Dank verpflichtet.

 

Meine Damen und Herren, in wenigen Jahren geht dieses Jahrhundert zu Ende. Es war ein Jahrhundert, in dem Gewalt, Krieg und Völkermord unendliches Leid über Millionen und aber Millionen Menschen gebracht haben. Heute, an der Schwelle zum 21. Jahrhundert, ist die ganze Menschheit aufgefordert, ein neues Zeitalter des Friedens und der Freiheit beginnen zu lassen. Das ist die Chance unserer Generation. Lassen Sie uns diese Chance nutzen. Gemeinsam mit unseren Partnern und Freunden wollen wir - Amerikaner und Deutsche - dafür arbeiten.

 

Wir brauchen dafür jenen Mut und Weitblick, jene Geduld und Entschlossenheit, die George Marshall uns in seinen Worten und Taten vorgelebt hat. Wir werden sein Andenken dankbar bewahren.

 

 

 

Quelle: Bulletin der Bundesregierung. Nr. 51. 17. Juni 1997.