5. März 1993

Rede auf dem bildungspolitischen Kongress der CDU in Wiesbaden

 

Zunächst will ich all denen danken, die mit ihren Referaten und in Diskussionen dazu beigetragen haben, dass dieser Kongress so interessant und anregend verlaufen ist. Aus meiner Sicht kann man die Bedeutung dieser beiden Tage hier in Wiesbaden für unsere Partei, aber auch für die politische Gesamtentwicklung in unserem Land gar nicht hoch genug einschätzen. Ich sage das bewusst gegen die weitverbreitete Neigung, alles, was mit Bildung, Ausbildung und Kultur zusammenhängt, in die Obhut der Fachleute abzuschieben. Für die CDU Deutschlands ist es geradezu existentiell, dass sie die Fragen von Bildung und Ausbildung als Themen ersten Ranges behandelt. Sicherlich stehen im Augenblick angesichts der weltweit zu beobachtenden rezessiven Tendenzen Fragen der Ökonomie, der Arbeitsplatz- und der sozialen Sicherheit ganz oben auf der Tagesordnung. Aber es wäre äußerst kurzsichtig, wenn man den engen, unauflösbaren Zusammenhang von Ökonomie und Bildungssystem übersähe. Deswegen ist das Thema „Bildung und Ausbildung" so wichtig für unser Land und alle, die sich um seine Zukunft bemühen.

Die Beschäftigung mit diesem Thema reicht aber natürlich weit über die Ausbildung im engeren Sinne hinaus bis zu der Frage nach dem geistigen Koordinatensystem unseres Landes: Wie steht es um die Konsensfähigkeit hinsichtlich der Grundlagen unserer Verfassungsordnung? Wie ist es um die Verbindlichkeit unseres Wertekataloges bestellt? Deshalb verdient beispielsweise die aktuelle Diskussion im Zusammenhang mit der Überarbeitung unserer Verfassung höchste Aufmerksamkeit. Denn was hier zum Teil - leider von der Öffentlichkeit viel zu wenig beachtet - an Vorstellungen und Forderungen herumgeistert, markiert in meinen Augen den Weg zu einer anderen Republik.

Darum bin ich froh, dass wir in diesen beiden Tagen Gelegenheit haben, das Thema Bildungspolitik nachdenklich, aber auch mit innerem Engagement zu behandeln. Denn hier geht es um eine Kursbestimmung für Jahrzehnte. Junge Leute zwischen zehn und fünfundzwanzig Jahren, über deren Bildung und Ausbildung wir heute diskutieren, werden erst weit im nächsten Jahrhundert auf dem Höhepunkt ihres Lebens sein und die Entwicklung unseres Landes bestimmen. Deswegen ist das, was wir jetzt tun oder unterlassen, von allergrößter Bedeutung für die Zukunft.

Dieser Kongress soll deutlich machen, dass es bei der Sicherung des Standortes Deutschlands nicht nur um die ökonomischen, sondern auch um die immateriellen Grundlagen unserer Zukunftssicherung geht. Die Qualität des Standortes Deutschland hat zwar zu einem wesentlichen Teil etwas mit Steuerbelastung, mit Lohnnebenkosten, mit Arbeitszeit, mit Energie- und Umweltkosten zu tun - aber eben nicht ausschließlich! Ob Deutschland sich im weltweiten Wettbewerb behaupten kann, hängt auch von anderen Faktoren ab: von der Qualität unserer Ausbildungseinrichtungen, von Ausbildungszeiten, von der beruflichen Qualifikation der Menschen, von ihrer Flexibilität, Spontaneität, ihrer Weltoffenheit und ihrem Erfindungsgeist - nicht zu vergessen von „klassischen" Tugenden wie Fleiß und Zuverlässigkeit, die man den Deutschen nachsagt.

Wir stehen heute in einem schärfer werdenden internationalen Wettbewerb. Wir sagen ständig, die Uruguay-Runde des GATT müsse erfolgreich abgeschlossen werden und wir sollten unseren Beitrag dazu leisten. Das ist völlig richtig, aber wir müssen uns auch im Innern auf die neuen Herausforderungen einstellen, um auch künftig im internationalen Wettbewerb bestehen zu können. Wir brauchen ihn nicht zu fürchten, haben aber auch keinen Grund zur Überheblichkeit. Ich habe gerade in diesen Tagen in Asien beobachten können, welche unglaublichen ökonomischen Veränderungen sich dort vollziehen. Allein Indien, Indonesien und die Volksrepublik China werden Ende dieses Jahrzehnts zusammen eine Bevölkerung von weit über zwei Milliarden Menschen haben.

Wir haben andererseits beinahe beiläufig registriert, dass vor ein paar Wochen, am 1.Januar, der große Europäische Binnenmarkt in Kraft getreten ist. Ich bin sicher, dass in diesem Jahr Großbritannien und Dänemark den Maastricht-Vertrag ratifizieren werden und dass in zwei Jahren Österreich, Schweden, Finnland und wohl auch Norwegen der Gemeinschaft beitreten können. Und ich bin auch sicher, dass die Politische sowie die Wirtschafts- und Währungsunion noch in diesem Jahrzehnt kommen werden. In den nächsten Jahren werden sich also enorme Veränderungen vollziehen, und deshalb ist es an der Zeit, dass wir auch über die Bedeutung der Bildungspolitik für den Standort Deutschland reden.

Meine Reise durch fünf Länder Asiens hat mir erneut bestätigt, dass Asien der Kontinent des 21. Jahrhunderts wird. Sie hat mir aber auch die großen Chancen vor Augen geführt, die wir dort haben, wenn wir uns angewöhnen, weltoffen und in globalen Dimensionen zu denken. Trotz unseres Mangels an Rohstoffen sind wir neben Japan die führende Exportnation in der Welt, in dieser Hinsicht also die Nummer eins in Europa. Das wird auch wohl so bleiben; ja, nach der Vollendung des Aufbaus in den neuen Bundesländern wird sich diese Stellung eher noch festigen - das erwarten übrigens nahezu alle Fachleute in der ganzen Welt. Wir sind trotz dieses Mangels an Rohstoffen „Spitze", weil wir über hervorragend qualifizierte Facharbeiter, über fähige Forscher und Führungskräfte verfügen. Deshalb ist die Frage von Aus- und Weiterbildung eine Schicksalsfrage für unser Land.

Wir sind es uns aber auch als Kulturnation schuldig, dass das Bild der Deutschen in der Welt nicht nur durch den Export von materiellen Gütern, sondern gleichfalls vom Reichtum und von der Vielfalt unserer Kultur geprägt wird. Ich bin darin auf eindrucksvolle Weise in Singapur und Indonesien, in Japan, in der Republik Korea und nicht zuletzt in Indien bestätigt worden. Ich weiß, dass gelegentlich kritisch gefragt wird, ob wir eigentlich noch 25 Lehrstühle für Indologie brauchen. Wenn Sie allerdings nach Indien kommen, werden Sie dort das beglückende Erlebnis haben, dass man Ihnen sagt: „Ihr Deutschen habt mehr als viele andere unsere Kultur erforscht." Gerade am Beispiel der Indologie zeigt sich, dass das, was Generationen vor uns aufgebaut haben, noch heute unser Erscheinungsbild in der Welt mitprägt.

In unserem Verständnis ist Bildung nicht nur auf einen ökonomischen Zweck hin orientiert. Sie hat zunächst die Aufgabe, Wissen zu vermitteln, den geistigen Horizont zu erweitern und die Persönlichkeit zu prägen. Darüber hinaus soll sie natürlich auch berufliche Qualifikation ermöglichen.

Wir müssen heute prüfen, ob unsere althergebrachten Verfahrens- und Verhaltensmuster, unsere Normen und Einstellungen tragfähig genug sind, um die Zukunft in Freiheit, Wohlstand und sozialer Sicherheit zu meistern. Das heißt, wir müssen überkommene Auffassungen überdenken und ganz nüchtern prüfen, was noch tragfähig ist und was nicht. Das eigentliche Problem der Bundesrepublik Deutschland sind nicht die aktuellen ökonomischen Schwierigkeiten, die uns wahrlich zu schaffen machen, sondern das eigentliche Problem - das wir übrigens auch ohne die deutsche Einheit hätten, denn es ist vor allem ein Problem der alten Bundesrepublik - liegt in der Frage, ob wir den Mut aufbringen, bei der notwendigen Standortbestimmung die Prioritäten neu zu bestimmen. Das gilt für alle möglichen Bereiche, natürlich auch für die Finanzpolitik. Ich hoffe sehr, dass möglichst viele, die in CDU und CSU Verantwortung tragen, diese Notwendigkeit erkennen. Wir haben dabei kein Monopol, und wir beanspruchen es auch nicht. Es wäre mir sehr viel lieber, wir kämen in der Diskussion über einen Solidarpakt, der ja mehr umfasst als die Steuerverteilung in diesem und im nächsten Jahr, zu einem wirklichen Ideenwettbewerb, zumal ja viele Ausgangspositionen überhaupt nicht parteipolitisch geprägt sind, sondern auf objektiven Daten gründen. Dass Deutschland eine der niedrigsten Geburtenraten in der Welt hat, ist solch ein objektives Datum; die daraus folgenden demographischen Veränderungen gehören dazu, die veränderten Lebensgewohnheiten und vieles andere. Damit müssen wir uns auseinandersetzen. Ich bin sehr dafür, dass wir in einen wirklichen Wettbewerb um die besseren Ideen und um den besseren Weg in die Zukunft eintreten.

Zu einer gründlichen Bestandsaufnahme gehören selbstverständlich die Würdigung der Erfolge und die Kritik an Fehlentwicklungen. Zur Würdigung der Erfolge gehört auch, dass wir uns dankbar an jene erinnern, die diese Erfolge ermöglicht haben. Ein schlichtes, aufrichtiges „Dankeschön" scheint in Deutschland leider völlig aus der Übung gekommen zu sein, statt dessen gehört Jammern auf hohem Niveau offenbar zum guten Ton.

Vieles in unserem Bildungs- und Ausbildungssystem hat sich bewährt und wird weltweit - besonders von unseren Partnern in der Europäischen Gemeinschaft, aber auch in den Vereinigten Staaten von Amerika - als beispielhaft empfunden. Dass sich die neue Administration in den USA intensiver um die berufliche Qualifikation der Facharbeiterschaft bemühen will, führt sie beinahe automatisch zu einer gründlichen Beschäftigung mit unserem deutschen Ausbildungssystem. Und wenn unsere alte Freundin Margaret Thatcher sagt, das deutsche duale Berufsbildungssystem sei das beste in der Welt, dann dürfen wir das gerade ihr ruhig glauben! In der Tat hat sich die Verbindung von Betrieb und Berufsschule hervorragend bewährt. Das gilt nicht nur für die alten Bundesländer. Das duale System bietet auch den jungen Menschen in den neuen Bundesländern eine gute Perspektive für die Zukunft. Wir sind jetzt vor allem darum bemüht, dass dort alle jungen Leute, die das wollen, auch einen Ausbildungsplatz erhalten. Denn das ist wohl das Wichtigste, was Gesellschaft und Staat jungen Menschen mit auf den Weg geben können: bestmögliche Ausbildung - gerade in einer schwierigen Übergangszeit.

Die duale Berufsausbildung ist das Fundament unseres Ausbildungssystems und damit auch eine wichtige Grundlage unserer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit. Die Erfahrung mit dem dualen System lehrt uns übrigens auch, dass es sich lohnt, aus Überzeugung den Verlockungen des Zeitgeistes zu widerstehen. Man wird ja noch daran erinnern dürfen, dass in den siebziger Jahren die Regierung Brandt das duale System völlig umkrempeln wollte. Gelegentlich treffe ich einen der damaligen Hauptakteure - seinerzeit Minister, später Bürgermeister von Hamburg, jetzt in der Wirtschaft tätig. Wenn man dem heute vorhielte, was er damals vorgeschlagen hat, so würde er vermutlich beteuern, das müsse jemand anderer gewesen sein! Damals haben wir von der Union mit äußerster Entschiedenheit diese sogenannten „Reformen" verhindert. Ebenso entschieden habe ich bei entsprechender Gelegenheit auf europäischer Ebene immer wieder darauf bestanden, dass wir in der Frage des dualen Systems der Berufsausbildung keine Kompromisse machen können und werden.

Für vorbildlich halte ich auch das gut ausgebaute, differenzierte und breit gestreute Angebot an Bildungseinrichtungen in Deutschland. Die deutsche Grundlagenforschung hat international einen guten Ruf. Und dennoch müssen wir uns fragen, ob wir mit den derzeitigen Gesamtaufwendungen von Staat und Wirtschaft diesen Ruf auf Dauer werden erhalten können.

Die Lehrpläne unserer Universitäten lassen den Studenten Freiräume in der Gestaltung des Studiums. Das gibt ihnen die Chance, Kreativität zu entwickeln. Auch die Chance, frühzeitig in die wissenschaftliche Forschung einbezogen zu werden, halte ich für ein Positivmerkmal. Und nicht zuletzt verweise ich auf den Föderalismus, der sich als Motor für Vielgestaltigkeit und Wettbewerb im Bildungswesen bewährt hat. Ich wünsche mir, dass dieser Wettbewerb noch intensiver und vor allem transparenter wird. Denn im Zuge der fortschreitenden wirtschaftlichen und politischen Einigung Europas werden wir uns - ob es uns passt oder nicht - auf immer mehr Feldern dem internationalen Vergleich stellen müssen. Ich rate deshalb dringend dazu, den internationalen Vergleich zu suchen und grenzüberschreitende Zusammenarbeit zu entwickeln.

Es gibt aber auch Entwicklungen, die meiner Ansicht nach in die falsche Richtung laufen: Ungleichgewichte zwischen den Bildungsbereichen, die Ausbildungsdauer und die Ausbildungseffizienz. Ich nenne als erstes die sinkende Zahl der abgeschlossenen Ausbildungsverträge. Allein in den letzten sieben Jahren sank die Zahl der Lehranfänger im Westen um rund 200 000 auf rund 500 000 Bewerber im Jahre 1992. Über 120 000 Ausbildungsstellen konnten letztes Jahr nicht besetzt werden. Im gleichen Jahr schrieben sich rund 250 000 Studienanfänger an den westdeutschen Hochschulen ein. Das Zahlenverhältnis der Lehrlinge im ersten Lehrjahr zu den Studenten im ersten Semester hat sich deutlich zu Lasten des dualen Systems verändert. Inzwischen ist die Zahl der Studenten in ganz Deutschland auf 1,8 Millionen angestiegen. Ihnen stehen 1,6 Millionen Lehrlinge gegenüber. Dabei muss man zwar berücksichtigen, dass das Studium länger dauert als eine Lehre. Dennoch bleibt dieses Zahlenverhältnis bedenklich. Denn wenn diese Entwicklung anhält, dann wird sich die Schere zwischen dem geringen Angebot und dem hohen Bedarf an qualifizierten Facharbeitern bedrohlich weiter öffnen. Bildung und Beschäftigung dürfen aber nicht noch weiter auseinanderdriften. Die Beschäftigungsprobleme der Hochschulabsolventen nehmen bereits deutlich zu. Fast ein Viertel der Hochschulabgänger findet schon heute keinen Arbeitsplatz, der ihrer Ausbildung entspricht. Man findet sie in vielen Berufen, nur nicht in dem, für den sie ausgebildet wurden. Es wäre an sich ja keine schlimme Sache, wenn jemand nach dem Studium für eine kurze Zeit in einem völlig anderen Metier tätig würde. Aber man muss sich über die menschliche Situation der Betroffenen und über die volkswirtschaftlichen Konsequenzen dieser Entwicklung im klaren sein. Es ist doch für die jungen Leute - und natürlich auch für ihre Familien - eine bedrückende Erfahrung, wenn alle Anstrengungen der Gymnasial- und Studienzeit zu einem solchen Ergebnis führen. Andererseits tragen die wachsenden Studentenzahlen schon heute dazu bei, dass die Qualität des Studiums leidet.

Die Hochschulen, vor allem die Universitäten, können angesichts dieser Zahlen ihren Aufgaben in Forschung und Lehre kaum noch gerecht werden. Auf der anderen Seite droht dem bewährten dualen Berufsbildungssystem eine schleichende Auszehrung, wenn nur noch wenige junge Menschen Bäcker, Mechaniker oder Fliesenleger werden wollen. Die Fachkräfte in Industrie und Handwerk, im Handel und in den freien Berufen sind aber eine tragende Säule unserer Sozialen Marktwirtschaft und müssen das auch bleiben. Denn die soziale Struktur unseres Landes geriete sonst in eine bedenkliche Schieflage. Die Zukunft einer modernen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft ist eben mit Akademikern allein nicht zu gestalten.

Hinzu kommt noch die schlichte Frage, die mir junge Leute immer wieder stellen: Wie sieht eigentlich meine Lebensrechnung aus, wenn ich zum Beispiel ein Chemiestudium absolviere, während mein Bruder inzwischen längst als Meister bei der BASF arbeitet? Der eine kommt vielleicht mit dreißig Jahren ins Erwerbsleben, während der andere bereits seit seinem 18. Lebensjahr den wirtschaftlichen Ertrag seiner Ausbildung erntet. Hier ist ein Umdenken notwendig. Solange es dabei bleibt, dass ein Hochschulzertifikat einen höheren gesellschaftlichen Stellenwert hat als eine nichtakademische Ausbildung, werden wir hier jedoch wenig ändern können. Es ist jetzt über dreißig Jahre her, dass hier in dieser Stadt eine Dame im Kultusministerium zum ersten Mal die Forderung erhob, dass möglichst die Hälfte eines jeden Geburtsjahrgangs zum Abitur geführt werden sollte. Die Dame hat sich glücklicherweise aus der deutschen Politik zurückgezogen, aber die Folgen solcher Forderungen sind inzwischen unübersehbar.

Ich komme damit zu einem Punkt, der auch auf diesem Kongress wieder eine lebhafte Diskussion ausgelöst hat, zumal sich die Finanzminister auf einen Ausflug in die Schulpolitik begeben haben, statt sich vorrangig mit der Finanzierung des Solidarpaktes zu beschäftigen. Es wäre mir schon lieber gewesen, sie hätten dieses Thema zumindest in einer anderen Form behandelt. In der Sache selbst werde ich hier wohl kaum viel Zustimmung finden, wenn ich sage, dass die Ausbildungszeiten an unseren Gymnasien zu lang sind. Der Parteivorsitzende der CDU erlaubt sich, darauf hinzuweisen, dass es bereits seit zehn Jahren einen diesbezüglichen Parteitagsbeschluß gibt - einen jener Beschlüsse, die nach heftigen Debatten um die Mitternachtsstunde gefasst, aber von vielen sofort wieder verdrängt werden, weil machtvolle Interessenlagen ins Spiel geraten.

Tatsache ist, dass die Schüler bei uns das Gymnasium in der Regel zu spät verlassen und dass sie nach einem anschließenden Studium im Vergleich zu ihren europäischen Altersgenossen um Jahre später in den Beruf kommen. Tatsache ist auch, dass in unserem Falle die Wehrpflicht eine Rolle spielt. Wenn ein Studium bei uns fünf bis sieben Jahre dauert - von der Referendarzeit und von der Promotion ganz zu schweigen -, dann ist dies im internationalen Vergleich einfach zu lang. Ich fürchte, in wenigen Jahren werden junge Leute in Deutschland den Politikern vorhalten: „Wie könnt ihr eigentlich ein Ausbildungssystem am Leben halten, das dazu führt, dass alle unsere gleichaltrigen Konkurrenten in der Europäischen Gemeinschaft lange vor uns erfolgreich ins Berufsleben gestartet sind?"

Ich glaube im übrigen, dass diese Entwicklung auch etwas zu tun hat mit einer Einstellung, die unseren jungen Leuten seit Jahren gepredigt wird, nämlich möglichst spät in dieses unwirtliche Leben hinauszugehen, möglichst lange auf dem bequemen Sofa des Umhegtseins sitzen zu bleiben. Genau das darf aber nicht die Perspektive junger Menschen in Deutschland sein! Was wir jetzt brauchen, ist Offenheit für die Chancen, die sich uns in einer veränderten Welt bieten. Was wir jetzt brauchen, ist Selbstvertrauen, ist die Einsicht, dass „da draußen" ein kalter Wind wehen mag, aber dass es köstlich ist, das Abenteuer des Lebens zu suchen und zu genießen.

Die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung kann nicht aufgehen, wenn durch staatliche Leistungen besonders geförderte Jungakademiker erst mit 28, 29 oder 30Jahren ins Berufsleben eintreten und es mit 60Jahren schon wieder verlassen - und das angesichts einer mittleren Lebenserwartung von 73/74 Jahren bei den Männern und 75/76 Jahren bei den Frauen. Ich frage mich, ob wir in diesem Punkt nicht endlich umdenken müssen und auch neue Formen eines stufenweisen Ausscheidens aus dem aktiven Berufsleben ermöglichen sollten.

Es gibt noch einen anderen Schwachpunkt in unserem Bildungssystem, nämlich die mangelnde Ausbildungsqualität an unseren Hochschulen. Ich warne allerdings vor pauschalen Anklagen und willkürlichen Vergleichen zwischen früher und heute. Es gibt Beispiele für hervorragende Lehrtätigkeit unter schwierigsten Bedingungen, aber auch für das genaue Gegenteil. Was uns heute immer noch fehlt, ist eine plausible Leistungskontrolle gegenüber den Lehrenden. Die einschlägigen Vergleiche mit den USA hinken, weil wir es dort zu einem Großteil mit privatwirtschaftlich strukturierten Hochschulen zu tun haben, die beispielsweise den Studierenden die Möglichkeit einräumen, ihre Professoren zu beurteilen - und damit auch über deren Aufstiegschancen und Einkommen mit zu entscheiden. Ich behaupte nicht, dass wir dieses Verfahren so übernehmen sollten, doch muss von unseren Hochschullehrern zumindest erwartet werden, dass sie sich bestimmten Beurteilungskriterien stellen.

Die Fehlentwicklungen in unserem Ausbildungssystem haben verschiedene Gründe. Zunächst muss ich all denen energisch widersprechen, die jetzt die Hauptschulen herunterreden und sie als „Restschule" abtun wollen; eine Schule, die immerhin noch von rund einer Million Schülern besucht wird, verdient dieses Etikett nicht. Aber ich glaube, dass die Hauptschule nur dann wirklich gestärkt wird, wenn ihre Unterrichtsinhalte handlungsorientierter und praxisnäher sind. Aus gutem Grund nimmt sich die deutsche Wirtschaft des wichtigen Themas an, wie Schule und Ausbildungsstätte besser kooperieren können. Denn immerhin kommen von der Hauptschule die meisten Bewerber für gewerblich-technische Ausbildungsberufe und für das Handwerk.

Nur wenn wir die duale Ausbildung differenzierter und flexibler gestalten, können wir den Anforderungen des modernen Berufslebens besser gerecht werden. Wir müssen noch intensiver darüber nachdenken, wie wir in der dualen Ausbildung attraktive Alternativen zum Studium entwickeln können, indem wir beispielsweise nach dem Ausbildungsabschluss Möglichkeiten zur weiteren Qualifizierung schaffen. Ich glaube im übrigen, dass die Zugangsmöglichkeit zur Hochschule über eine qualifizierte Berufsausbildung ohne Abitur die duale Ausbildung attraktiver machen kann. Freilich müssen die Bewerber über die erforderliche Eignung verfügen. Die Wirtschaft hat mittlerweile erkannt, dass sie durch die eigene Personalplanung dazu einen entscheidenden Beitrag leisten kann. Daran sollte sich auch der öffentliche Dienst ein Beispiel nehmen, statt im Laufbahn- und Besoldungsrecht das genaue Gegenteil zu bewirken.

Genau an diesem Punkt wären wir relativ rasch handlungsfähig, wenn wir nur wollten. Denn aus Gesprächen mit klugen Gewerkschaftern und Leuten aus der Wirtschaft wie aus der öffentlichen Verwaltung weiß ich sehr genau, dass dieses Problem erkannt wird. Wir müssten uns eigentlich nur zusammensetzen und vernünftig an die Sache herangehen.

In diesem Zusammenhang muss ich auch ein kurzes Wort zum Anforderungsprofil des Abiturs sagen. Die Nivellierung dieses Anforderungsprofils war der falsche Weg zu mehr Chancengerechtigkeit. Das Abitur muss wieder zu dem werden, was es eigentlich sein soll, nämlich der Nachweis für die Hochschulreife. Es verdient diese Bezeichnung erst dann, wenn in allen Bundesländern wieder bestimmte Kernfächer für das Abitur verlangt werden. Dazu gehören Deutsch und eine Fremdsprache, Mathematik, ein naturwissenschaftliches Fach, und - besonders nach den Irrwegen der letzten Jahrzehnte - auch Geschichte. Denn wie kann eigentlich ein Land Zukunft gewinnen, das seine Geschichte kaum noch oder überhaupt nicht mehr kennt!?

Wir brauchen dringend eine Reform des Studiums, und wir müssen endlich mit der Verkürzung der Studienzeiten beginnen, denn geredet haben wir darüber längst genug! Ich weiß, es wird viele Gegenargumente geben, aber mir leuchtet nicht ein, warum man in Deutschland nicht in vier oder höchstens fünf Jahren sein Studium abschließen kann, um dann - wenn ich den Wehrdienst oder den Ersatzdienst noch hinzurechne - mit 25 oder 26Jahren ins Erwerbsleben einzutreten. Ich glaube - das wird auch ein zentrales Thema auf dem sogenannten Bildungsgipfel im Herbst sein -, dass wir jetzt sehr rasch zu einer entsprechenden Abmachung kommen müssen. Was mich dabei stutzig macht - und das widerlegt viele Einwände, die ich höre -, ist die Tatsache, dass in ein und demselben Bundesland an benachbarten Universitäten im gleichen Fach eine bis zu zwei Jahren unterschiedliche Studiendauer festzustellen ist.

Die Effizienz des Studiums lässt sich sicherlich auch dadurch erhöhen, dass besonders in Zulassungsfragen die Autonomie der Universitäten gestärkt wird. Dies gilt aber auch für finanzielle und organisatorische Angelegenheiten. Ich glaube beispielsweise nicht, dass die staatliche Verwaltungsbürokratie in jedem Fall billiger baut, als wenn das in Eigenverantwortung der Universität geschieht.

Was die Fachhochschulen angeht, so haben diese sich als eigenständiger, leistungsfähiger und attraktiver Hochschultyp in Deutschland durchgesetzt. Sie entsprechen mit ihrem engen Praxisbezug den Erfordernissen einer modernen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft besonders gut. Zwei Drittel der deutschen Ingenieure und fast die Hälfte der Informatiker und Betriebswirte erwerben ihr Diplom an einer Fachhochschule. Deswegen müssen auch die Fachhochschulen in ihrer Leistungsfähigkeit gestärkt werden. So müssen beispielsweise ihre Aufnahmekapazitäten erhöht werden. Denn es ist doch wenig sinnvoll, wenn abgelehnte Bewerber für Fachhochschulen an die Universitäten drängen, an denen sie eigentlich gar nicht studieren wollen.

An dieser Stelle noch ein kurzes Wort zum Thema kostendeckende Studiengebühren: Ich halte davon überhaupt nichts, um es klar und deutlich zu sagen. Denn wenn man wirklich kostenorientierte Gebühren erhebt, kommt man auf sozial nicht mehr vertretbare Beträge. Eine ganz andere Frage ist es, ob wir nicht von denjenigen Studenten Gebühren erheben sollten, die aus eigenem Verschulden die Regelstudienzeit überschreiten oder sich nach ihrem ersten, berufsqualifizierenden Examen für ein Zweitstudium einschreiben, nur um mit ihrem Studentenausweis billiger an alle möglichen öffentlichen Leistungen zu kommen. Dieser Missbrauch zu Lasten des Steuerzahlers muss ein Ende haben!

Die Vollendung der inneren Einheit Deutschlands stellt uns auch im Bildungs- und Ausbildungsbereich vor besondere Herausforderungen. Wir sollten uns dabei bewusst sein, dass wir auch im Blick auf die Hochschulen und das Ausbildungssystem eine ganze Menge aus den Erfahrungen unserer Landsleute in der früheren DDR lernen können. Ich finde es in diesem Zusammenhang außerordentlich bedauerlich, dass sich im vergangenen Jahr lediglich 3000 Studienanfänger aus Westdeutschland an einer Hochschule in den neuen Bundesländern eingeschrieben haben. Das ist - gemessen an dem Ruf „Deutschland einig Vaterland" - eine lächerlich geringe Zahl!

Ich will noch ein Wort zu dem sogenannten Bildungsgipfel sagen; ich hoffe, dass er im September stattfinden kann. Aber eine solche Konferenz macht nur Sinn, wenn sie sorgfältig vorbereitet ist, wenn dort nicht nur Erklärungen abgegeben werden, sondern wenn auf konkrete Beschlüsse hingearbeitet wird, zumindest verbindliche Kriterien für solche Beschlüsse festgelegt werden. Eine ausschließliche Behandlung von Finanzfragen wäre wenig hilfreich; was wir jetzt vielmehr brauchen, ist ein neuer, übergreifender Konsens in allen wesentlichen Fragen von Bildung und Ausbildung.

Ich möchte den Kollegen in den Ländern vor allen Dingen sagen, dal? in diesen Fragen der Föderalismus vor einer entscheidenden Bewährungsprobe steht. Ich bin ein leidenschaftlicher Anhänger des föderalen Systems. Die Bundesrepublik Deutschland hätte in den vergangenen vierzig Jahren einen anderen Weg genommen - nach meiner Überzeugung keinen besseren -, wenn wir dieses föderale System nicht gehabt hatten. Aber wir wollen keine Kantonalisierung und keine gegenseitige Abschottung, wir brauchen vielmehr Offenheit und fruchtbare Konkurrenz in diesem Bereich.

Wir müssen schließlich auch darüber sprechen, wie wir junge Menschen zu mehr Flexibilität bei der Ausbildung anspornen können. Wir müssen die Bereitschaft junger Leute wecken, einen Teil ihres Studiums im Ausland zu verbringen. Für diese Bereitschaft sollten sie durchaus einen gewissen Bonus erhalten. Wir sollten diese Überlegungen übrigens nicht nur auf die Studenten erstrecken, sondern beispielsweise auch die Facharbeiter mit einbeziehen. Wenn Sie die Lebensläufe bedeutender Vertreter der deutschen Arbeiterbewegung anschauen, dann werden Sie feststellen, dass sie durchweg als junge Leute auf Wanderschaft gewesen sind. Es war damals viel selbstverständlicher, dass ein junger Zimmermann oder ein junger Drucker eine gewisse Zeitspanne seines beruflichen Werdegangs im Ausland verbrachte, als es heute der Fall ist. Was wir also brauchen, sind mehr Weltoffenheit und Zuwendung zu den Problemen jenseits unserer Grenzen. Das ist auch wichtig für das gesellschaftliche Klima in unserem Land. Nationalistische Vorurteile werden keine Chance haben, wenn die große Mehrzahl unserer Bürger weiß, wie es wirklich „draußen in der Welt" aussieht.

Vor mehr als hundert Jahren haben die Briten den Begriff „Made in Germany" geprägt - nicht aus reiner Freundschaft, sondern um Großbritannien vor deutschen Waren abzuschotten. Heute würde man das eine glasklare Diskriminierung nennen. Die Deutschen haben seit damals diese beabsichtigte Herabsetzung zu einem weltweit geachteten Qualitätsbegriff umgemünzt. Wir leben heute noch in einem beachtlichen Maß von dem, was unsere Vorfahren seit damals an Arbeitseifer und Erfindungsreichtum eingesetzt haben, um das Gütesiegel „Made in Germany" glänzen zu lassen. Es liegt jetzt an uns, umzudenken und die notwendigen Konsequenzen aus den Veränderungen in der Welt zu ziehen. Wir werden in der Tagespolitik für solches Umdenken nicht sofort auf ungeteilte Zustimmung stoßen, weil damit natürlich auch der Abschied von manch liebgewonnener Gewohnheit und die eine oder andere Unbequemlichkeit verbunden sind.

Die Geschichte schenkt einem Volk nicht fortdauernd solche Chancen wie uns Deutschen 1989/90. Wir wissen heute, wie kurz die Zeitspanne für die Erlangung der deutschen Einheit damals war. Wir haben jetzt die Chance, in den nächsten sechs bis acht Jahren auch die europäische Einigung zu vollenden; aber sie wird uns nicht als Geschenk in den Schoß fallen. Deshalb noch einmal: Es ist Zeit für uns zu einer nüchternen Bestandsaufnahme, zu einer umfassenden Standortbestimmung. Wir sind dazu bereit.

Quelle: Redemanuskript. Bundesgeschäftsstelle der CDU.