5. Mai 1985

Ansprache des amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan auf dem Luftwaffenstützpunkt in Bitburg

 

Ich komme soeben von dem Friedhof, auf dem deutsche Kriegstote ihre letzte Ruhe gefunden haben. Niemand kann diesen Friedhof ohne tiefe und widerstrebende Empfindungen besuchen. Ich war von großer Trauer darüber erfüllt, dass die Geschichte solche Verschwendung, Zerstörung und solchen Schrecken hervorbringt. Aber mein Herz wurde auch durch die Erkenntnis getröstet, dass aus der Asche Hoffnung gewachsen ist und dass wir aus diesem Schrecken der Vergangenheit 40 Jahre des Friedens und der Freiheit und der Aussöhnung zwischen unseren Nationen geschaffen haben.

Dieser Besuch hat viele Emotionen in amerikanischen und auch im deutschen Volk hervorgerufen. Seit ich mich zum ersten Mal entschloss, den Bitburger Friedhof zu besuchen, habe ich zahlreiche Briefe erhalten, einige zustimmend, andere tief besorgt und voll Fragen, wieder andere ablehnend. Einige alte Wunden wurden aufgerissen, und dies bedaure ich überaus, weil dies eine Zeit des Heilens sein sollte.

Den amerikanischen Kriegsveteranen und ihren Familien, die immer noch die Narben und die schmerzlichen Verluste jenes Krieges tragen und fühlen, möchte ich sagen, dass diese Geste der Aussöhnung mit dem deutschen Volk heute in keiner Weise unsere Liebe und Achtung für jene, die für unser Land gekämpft haben und gefallen sind, mindert. Sie gaben ihr Leben, um die Freiheit in ihrer dunkelsten Stunde zu retten. Das Bündnis demokratischer Nationen, das heute die Freiheit von Millionen in Europa und Amerika schützt, ist der lebendige Beweis dafür, dass ihr nobles Opfer nicht umsonst war.

Ihr Opfer war nicht umsonst, ich muss Ihnen sagen, dass ich nie aus irgend etwas mehr Hoffnung beziehen werde als aus dem Anblick von zwei früheren Kriegshelden, die sich heute auf dem Friedhof gesehen haben. Jeder gehörte zu den tapfersten der Tapferen. Jeder war damals Feind des anderen, vor 40 Jahren. Und jeder hat die Schrecken des Krieges erlebt. Aber heute kamen sie aufeinander zu: ein Amerikaner, ein Deutscher, General Matthew B. Ridgeway und General Johannes Steinhoff. Sie sind ausgesöhnt und vereint für die Freiheit und reichten sich über den Gräbern wie Brüder die Hände in Frieden. Den Überlebenden des Holocaust möchte ich sagen: Ihr schreckliches Leiden hat sie besonders wachsam gegenüber dem Bösen gemacht. Viele von Ihnen sind besorgt, dass Aussöhnung Vergessen bedeute. Ich verspreche Ihnen, dass wir niemals vergessen werden. Ich bin gerade aus Bergen-Belsen gekommen, wo der Schrecken dieses grausamen Verbrechens, des Holocaust, sich unauslöschlich in mein Gedächtnis eingebrannt hat. Nein, wir werden niemals vergessen, und wir sagen gemeinsam mit den Opfern des Holocaust: „Nie wieder."

Der Krieg gegen die totalitäre Diktatur eines Mannes war anders als andere Kriege. Die unheilvolle Welt des Nazismus hat alle Werte auf den Kopf gestellt. Dennoch können wir heute die deutschen Kriegstoten als Menschen betrauern, die von einer bösartigen Ideologie zermalmt wurden.

Auf dem Friedhof in Bitburg liegen mehr als 2000 Menschen begraben. Darunter befinden sich 48 Angehörige der SS. Die Verbrechen der SS müssen als die abscheulichsten in der Geschichte der Menschheit angesehen werden. Aber die anderen, die dort begraben sind, waren einfach Soldaten der deutschen Armee. Wie viele waren fanatische Anhänger eines Diktators und führten seine grausamen Befehle vorsätzlich aus? Und wie viele waren Wehrpflichtige, die während des letzten Todeskampfes der Nazi-Kriegsmaschine in den Wehrdienst gezwungen wurden? Wir wissen es nicht. Viele, und das wissen wir von den Inschriften auf ihren Grabsteinen, waren noch blutjung. Ein Junge ist dort begraben, der eine Woche vor seinem 16. Geburtstag starb. Es gab tausende solcher Soldaten, für die der Nazismus nichts anderes bedeutete als das brutale Ende eines kurzen Lebens' Wir glauben nicht an die Kollektivschuld Nur Gott kann in die Merzen der Menscheln schauen. All diese Männer standen schon vor ihrem obersten Richter, und er hat über sie Gericht gehalten, wie er über uns alle Gericht halten wird.

Heute obliegt es uns, die vom Totalitarismus unter den Menschen angerichtete Verwüstung zu betrauern. Heute, auf dem Friedhof in Bitburg, gedachten wir des nie zur Entfaltung gekommenen Guten und der Menschlichkeit, die vor 40 Jahren ausgelöscht wurden. Wenn jener 15jährige Soldat überlebt hätte, hätte er vielleicht gemeinsam mit seinen Landsleuten die neue demokratische Bundesrepublik Deutschland mit aufgebaut, sich der menschlichen Würde und der Verteidigung der Freiheit verschrieben, die wir heute feiern. Oder vielleicht wären seine Kinder oder Enkelkinder heute hier auf dem Luftwaffenstützpunkt Bitburg unter Ihnen, wo neue Generationen deutscher und amerikanischer Bürger sich in Freundschaft und für die gemeinsame Sache zusammenfinden und ihr Leben der Wahrung des Friedens und dem Schutz der Sicherheit der freien Welt weihen.

Zu oft hat in der Vergangenheit jeder Krieg nur die Saat für den nächsten gelegt. Wir leiern heute die Aussöhnung zwischen unseren beiden Nationen, die uns aus dem Teufelskreis der Zerstörung herausgeführt hat.

Schauen Sie auf das, was wir gemeinsam erreicht haben: Wir, die wir Feinde waren, sind jetzt Freunde; wir, die wir bittere Gegner waren, sind jetzt die stärksten Verbündeten. An die Stelle von Furcht haben wir Vertrauen gesetzt, und aus den Ruinen des Krieges ist ein dauerhafter Friede entsprossen. Zehntausende von Amerikanern haben im Laufe der Jahre in dieser Stadt Dienst getan. Der Bürgermeister von Bitburg hat darauf hingewiesen, dass wahrend dieser Zeit rund 6000 Hochzeiten zwischen Deutschen und Amerikanern statt gefunden haben, und viele Tausende von Kindern sind aus diesen Ehen hervorgegangen Dies ist das wahre Symbol unserer gemeinsamen Zukunft - einer Zukunft, die wir mit Hoffnung, Freundschaft und Freiheit füllen wollen.

Die Hoffnung, die wir heute sehen, machte sich manchmal selbst in den dunkelsten Tagen des Krieges schon bemerkbar. Ich denke dabei an eine besondere Geschichte - die einer Mutter, welche mit ihrem jungen Sohn in einem bescheidenen Haus mitten im Wald lebte. In einer Nacht, als die Ardennen-Schlacht nicht weit weg von diesem Haus losbrach, standen drei junge amerikanische Soldaten vor ihrer Tür - im Schnee, hinter den feindlichen Linien. Alle hatten Erfrierungen, und einer war schwer verwundet. Obwohl die Gewährung von Obdach für den Feind mit dem Tode bestraft wurde, nahm diese Frau die Soldaten auf und bereitete ihnen ein Essen mit dem letzten, was sie hatte.

Bald darauf klopfte es wiederum an der Tür. Diesmal waren es vier deutsche Soldaten. Die Frau war erschrocken, aber mit fester Stimme sagte sie rasch: „... Hier wird nicht geschossen." Sie sorgte dafür, dass alle Soldaten ihre Waffen ablegten, und sie alle setzten sich zu einer improvisierten Mahlzeit zusammen. Es stellte sich heraus, dass Heinz und Willi nur 16 Jahre alt waren, der Unteroffizier war mit 23 Jahren der Älteste. In der Wärme und Behaglichkeit des kleinen Hauses löste sich ihr natürlicher Argwohn auf. Einer der Deutschen, ein ehemaliger Medizinstudent, versorgte den verwundeten Amerikaner.

Und nun hören Sie, wie die Geschichte weitergeht, erzählt von einem, der dabei war: „Dann sprach die Mutter das Tischgebet", so erinnerte sich der Junge. „Ich bemerkte, dass sie Tränen in den Augen hatte, als sie die alten vertrauten Worte sprach 'Komm Herr Jesus, sei unser Gast', und als ich mich am Tische umsah, sah ich auch in den Augen der kriegsmüden Soldaten Tränen - Jungens wohlgemerkt, einige aus Amerika, einige aus Deutschland und alle weit weg von zu Hause."

In jener Nacht, als der Sturm des Krieges über die Welt hinwegbrauste, schlössen sie ihren eigenen privaten Waffenstillstand. Am nächsten Morgen zeigte der deutsche Unteroffizier den Amerikanern, wie sie wieder hinter ihre eigenen Linien zurückkehren konnten. Sie alle schüttelten sich die Hand und gingen ihrer getrennten Wege. Das war am Weihnachtstag vor 40 Jahren.

Diese jungen Menschen erlebten einen Moment der Versöhnung inmitten des Krieges. Sicherlich sollten wir als Verbündete in Friedenszeiten der Aussöhnung der letzten 40 Jahre Ehre erweisen.

Der Bevölkerung von Bitburg, unseren Gastgebern und den Gastgebern unserer Soldaten, möchte ich sagen: Sie bereiten uns ein herzliches Willkommen wie jene großherzige Frau vor 40 Jahren.

Und den Männern und Frauen von Bitburg Air Base möchte ich sagen: Wir wissen, dass selbst angesichts solch wunderbarer Gastgeber Ihre Arbeit hier nicht leicht ist. Sie tun rund um die Uhr Dienst, weit von der Heimat entfernt und immer zur Verteidigung der Freiheit bereit. Wir sind Ihnen dankbar und sehr stolz auf Sie. Vor 40 Jahren führten wir einen großen Krieg, um die Welt aus der Dunkelheit des Bösen zu befreien, um dafür zu sorgen, dass Männer und Frauen in diesem Lande und in allen Ländern im Lichte der Freiheit leben können. Es war ein großer Sieg, und die Bundesrepublik Deutschland, Italien und Japan gehören nun der Gemeinschaft der freien Nationen an. Aber der Kampf für die Freiheit ist noch nicht zu Ende, denn heute befindet sich immer noch ein großer Teil der Welt in der Finsternis des Totalitarismus.

Vor 22 Jahren sah Präsident John F. Kennedy die Berliner Mauer und rief aus, dass auch er ein Berliner sei. Heute müssen freiheitsliebende Menschen überall auf der Welt sagen: Ich bin ein Berliner, ich bin ein Jude in einer immer noch von Antisemitismus bedrohten Welt, ich bin ein Afghane, ich bin ein Gefangener im Gulag, ich bin ein Flüchtling in einem überfüllten Boot, das vor der Küste von Vietnam treibt, ich bin ein Laote, ein Kambodschaner, ein Kubaner und ein Miskito-Indianer in Nicaragua. Auch ich bin ein potentielles Opfer des Totalitarismus.

Das eine, was uns der Zweite Weltkrieg und der Nazismus gelehrt haben, ist, dass die Freiheit immer stärker sein muss als der Totalitarismus, dass das Gute immer stärker sein muss als das Böse. Der moralische Maßstab unserer beiden Nationen wird in der Entschlossenheit liegen, die wir zeigen, um die Freiheit zu bewahren, das Leben zu schützen und alle Kinder Gottes zu achten und zu ehren.

Deshalb ist die freie demokratische Bundesrepublik Deutschland ein so tiefes und hoffnungsvolles Zeugnis für den Geist des Menschen. Wir können die Verbrechen und die Kriege von gestern nicht ungeschehen machen, und wir können auch nicht die Millionen Menschen ins Leben zurückrufen. Aber wir können der Vergangenheit dadurch Sinn geben, dass wir unsere Lehren ziehen und eine bessere Zukunft schaffen. Wir können dafür sorgen, dass unsere Schmerzen uns zu größeren Anstrengungen anspornen, um das Leid der Menschheit zu heilen.

Heute bin ich 220 Meilen oder 400 km gereist, von Bergen-Belsen hierher, und ich habe das Gefühl, das war eine 40-Jahres-Reise.

Fest eingedenk der Lehren der Vergangenheit haben wir eine neue und hellere Seite der Geschichte aufgeschlagen. Unter den vielen Briefen, die ich im Zusammenhang mit diesem Besuch erhielt, war der einer jungen Frau, die erst kürzlich ein volles Mitglied der jüdischen Glaubensgemeinschaft (Bat Mitzvah) geworden ist. Sie bat mich, den Kranz auf dem Friedhof in Bitburg zu Ehren der Zukunft Deutschlands niederzulegen; und das haben wir getan. An diesem vierzigsten Jahrestag der Beendigung des Zweiten Weltkrieges begehen wir den Tag, an dem der Hass, das Böse und die schrecklichen Ereignisse endeten, und wir gedenken feierlich der Wiedergeburt des demokratischen Geistes in Deutschland.

Vieles an diesem historischen Jahrestag stimmt uns hoffnungsvoll. Eines der Symbole könnte diese Hoffnung sein: Vor kurzer Zeit, als wir eine deutsche Kapelle hörten, die die amerikanische Nationalhymne spielte, und eine amerikanische Kapelle spielte die deutsche Hymne.

Während ein großer Teil der Welt immer noch in der Dunkelheit der Unterdrückung lebt, können wir ein Neuerwachen der Freiheit überall auf unserer Erde erkennen. Und wir können erleben, wie das Licht, das von diesem neuen Erwachen ausgeht, immer heller leuchtet - in den neuen Demokratien Lateinamerikas, in den neuen wirtschaftlichen Freiheiten und dem Wohlstand in Asien, in der allmählichen Entwicklung zum Frieden im Nahen Osten und in dem stärker werdenden Bündnis der demokratischen Nationen in Europa und in Amerika.

Wir wollen uns in diesem Licht zusammenfinden und aus dem Schatten heraustreten, und wir wollen in Frieden leben. Ich danke Ihnen sehr. Gott segne Sie alle!

Quelle: Der Besuch. Dokumentation über den Besuch des amerikanischen Präsidenten Ronald W. Reagan und des deutschen Bundeskanzlers Dr. Helmut Kohl am 5. Mai 1985 in Bitburg, Bitburg 1986.