5. November 1991

Rede auf einem Studentenforum an der Friedrich-Schiller-Universität Jena

 

I.

Ich bin gern hierhergekommen, weil ich hier die Chance und die Gelegenheit habe, an einer der ältesten und traditionsreichsten deutschen Universitäten zu Ihnen zu sprechen und mit Ihnen zu diskutieren. Die junge Generation, die jungen Frauen und jungen Männer in den neuen Bundesländern erkennen jetzt, dass sie jetzt die Chance haben, im vereinten Deutschland ihr Schicksal in die eigene Hand zu nehmen; in einem Deutschland, das ein wesentlicher Teil des zusammenwachsenden Europa ist.

Die Aufgaben im ökonomischen und sozialen Bereich werden wir innerhalb weniger Jahre lösen können. Das entscheidende Problem für die Deutschen sehe ich darin, ob wir fähig sind, so aufeinander zuzugehen, dass wir einander besser verstehen: diejenigen, die bisher nicht die Chance hatten, in Freiheit leben zu können, die sich jetzt unter völlig veränderten Lebensumständen zurechtfinden müssen, die Zeit brauchen, um sich zurechtzufinden, die mehr Geduld, mehr Zuspruch und auch mehr Zuneigung erfahren müssen; und diejenigen, die das Glück hatten, die größte Zeit ihres Lebens in Frieden und Freiheit verbringen zu können. [...]

Gerade für die Studentinnen und Studenten in den neuen Bundesländern bringt der gegenwärtige Umbruch besondere Umstellungsschwierigkeiten mit sich. Was wir jetzt im Blick auf die Universitäten und die Hochschuleinrichtungen in den neuen Bundesländern brauchen, ist eine große gemeinsame Anstrengung, damit auch diese hohen Schulen - ich nenne sie bewusst so - möglichst rasch den Anschluss an das internationale Niveau finden.

Lassen Sie sich durch die akuten Schwierigkeiten nicht entmutigen, denn Sie gehören zu jener glücklichen Generation, die ein Leben voller Chancen vor sich hat. Wer heute achtzehn, zwanzig oder zweiundzwanzig Jahre alt ist, wird nach menschlichem Ermessen in unvergleichlich besseren Zeiten leben als die Generation etwa seiner Großeltern.

Wenige Wochen vor der Französischen Revolution, im Mai des Jahres 1789, hielt Friedrich Schiller hier an dieser Universität seine akademische Antrittsrede als Historiker über das Thema „Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?" Zu Beginn sagte Schiller in der Sprache seiner Zeit: „Der Anblick so vieler vortrefflicher junger Männer" - ich darf hinzufügen: und so vieler vortrefflicher junger Frauen -, „die eine edle Wissbegierde um mich her versammelt und in deren Mitte schon manches wirksame Genie für das kommende Zeitalter aufblüht, macht mir meine Pflicht zum Vergnügen, lässt mich aber auch die Strenge und Wichtigkeit derselben in ihrem ganzen Umfang empfinden." Es war eine Rede über die historischen Wissenschaften angesichts einer Zeitenwende, die in der Erstürmung der Bastille am 14. Juli 1789 ihren nachhaltigsten Ausdruck fand.

Auch am Ende des 20. Jahrhunderts erleben wir eine dramatische Veränderung der Welt. Für die Deutschen und für die Europäer vollzieht sich zwischen dem 9. November 1989 - dem Tag, an dem die Mauer brach, und dem Juni 1994, der nächsten Wahl zum Europäischen Parlament - eine dramatische Veränderung unserer Welt. [...] Ich bedaure, dass so viele Zeitgenossen diese dramatische Veränderung gar nicht mehr bemerken, weil die Ereignisse sich überschlagen.

Morgen Abend werden sich die Staats- und Regierungschefs der NATO-Staaten in Rom treffen. Wir werden dort eine neue Beschreibung der Aufgabe der NATO diskutieren und formulieren, wie sie vor drei Jahren für völlig undenkbar gehalten worden wäre. Das, was George Bush und Michail Gorbatschow in den letzten vier Wochen an Abrüstungsvorschlägen vorgelegt haben, hat eine solche Dimension, dass jeder, der solches vor drei Jahren vorhergesagt hätte, für verrückt erklärt worden wäre.

Das ist Realität unserer Tage, und dies ist vor allem Ihre Zeit, die sich jetzt in einer dramatischen Veränderung befindet. Bei all den Sorgen des Alltags, die Sie auch haben, sollten Sie bedenken, wo vor allem Ihre Chancen liegen. Sie erwerben sich heute an den Universitäten und Hochschulen jene Kenntnisse, mit denen Ihre Generation die Welt von morgen mit gestalten wird. Sie haben eine Zukunftsperspektive, um die ich Sie beneide.

II.

„Die Zukunftsperspektiven der jungen Generation auf dem Weg ins vereinte Europa", dieses Thema hat für Sie heute eine ganz andere Dimension als für den Studenten Helmut Kohl, der sich 1950 an der Universität Frankfurt immatrikulierte. „Zukunftsperspektiven der jungen Generation auf dem Weg ins vereinte Europa" - dies bedeutete während unserer Studienzeit in den westlichen Bundesländern vor allem: Öffnung der Grenzen, die uns im Süden, Westen und Norden von unseren Nachbarn trennten, deutsch-französische Aussöhnung, feste Verankerung der Bundesrepublik Deutschland in die Gemeinschaft freier Völker. [...] Heute ist die Europäische Gemeinschaft Kristallisationspunkt des in Freiheit zusammenwachsenden Europa. In diesen Monaten und Jahren vollzieht sich, was der Traum der Besten in Europa in diesem Jahrhundert war. [...]

Jetzt endlich stehen wir - wie ich denke - vor dem Ziel. Die meisten haben noch gar nicht begriffen, was es heißt, dass in weniger als vierzehn Monaten, am 31. Dezember 1992, mit Einführung des großen Binnenmarkts, 340 Millionen Menschen in einem Raum ohne Grenzen für Menschen, Waren, Dienstleistungen und Kapital zusammenleben und dass dies unsere Situation, nicht zuletzt die der Deutschen, von Grund auf verändert. [...]

Dieses Zusammenwachsen umfasst mehr als nur die wirtschaftlichen Aspekte. Wir stehen auf dem Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs der Gemeinschaft in Maastricht im nächsten Monat vor der Entscheidung über die Wirtschafts- und Währungsunion und über die Politische Union. Für uns Deutsche ist von entscheidender Bedeutung, dass in beiden Bereichen gleichwertige Ergebnisse erzielt werden.

Wir sind bereit, die Wirtschafts- und Währungsunion zu bauen, wir sind bereit, Ja zu sagen zu einer unabhängigen europäischen Zentralbank, die nur der Geldwertstabilität verpflichtet ist. Gleichzeitig wollen wir auch endlich zu einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik kommen.

Die Hoffnung weiter Teile der Dritten Welt ruhen darauf, dass das vereinte Europa endlich Wirklichkeit wird, dass dieses Europa dann fähig ist zur Hilfe für die Dritte Welt, dass dieses Europa auch fähig ist zu einer globalen Politik im Blick auf die Bewahrung der Schöpfung. Dies alles sind überzeugende Argumente für die Schaffung der Vereinigten Staaten von Europa. Sie werden nicht vergleichbar sein mit den Vereinigten Staaten von Amerika. Wir werden Deutsche bleiben und Italiener, Briten und Franzosen, aber wir besinnen uns endlich wieder auf die ganze Kraft und Dynamik dieses Alten Kontinents, der vielen bis vor kurzem noch so kraftlos erschien.

Wir sollten nicht vergessen, dass die europäischen Völker vor allem eine Werte- und Kulturgemeinschaft bilden. Unsere gemeinsame Kultur ist das stärkste Band, das uns zusammenhält. Auch die jahrzehntelange Teilung unseres Kontinents hat es nicht zu zerstören vermocht. Deshalb dürfen wir das zusammenwachsende Europa nicht einfach nur als einen Wirtschaftsraum mit 340 Millionen, dann mit 380 Millionen und schließlich mit weit über 400 Millionen Menschen betrachten. Es muss sich auch zu einem gemeinsamen Bildungsraum entwickeln.

Es geht beispielsweise darum, dass in Forschung und Lehre die Kontakte über Grenzen hinweg verstärkt werden. Und es geht nicht zuletzt darum, dass Studienaufenthalte und -abschlüsse in einem europäischen Land überall auf unserem Kontinent selbstverständlich anerkannt werden. [...]

Wir müssen heute wieder - ich bleibe bei den Universitäten -anknüpfen an die früher sehr viel engeren Kontakte zwischen den europäischen Universitäten - ob das Prag oder Bologna, ob das Paris oder Oxford waren. Sie beruhen auf einer alten Tradition, die endlich wiederbelebt werden muss. [...]

All das, was jetzt zwischen Universitäten wie Moskau, Krakau oder Budapest und deutschen Universitäten möglich ist, ist genauso ein Baustein für Europa, wie der Kontakt mit der Sorbonne oder den Universitäten in Rom oder Oxford. „Einheit in Vielfalt" - dies muss unser Grundsatz bei der Gestaltung der künftigen europäischen Bildungslandschaft sein. Europäische Pluralität drückt sich nicht zuletzt in den nationalen Strukturen schulischer und akademischer Bildung aus. Der europäische Binnenmarkt, den wir bis zum 31. Dezember 1992 vollenden wollen, garantiert Freizügigkeit und Mobilität innerhalb der Gemeinschaft. Das heißt auch für Ihren ganz persönlichen Lebensweg: Neben regionalen und nationalen Arbeitsmärkten wird es zunehmend auch einen internationalen Arbeitsmarkt geben. Bildung, Ausbildung und Weiterbildung werden entscheidend dazu beitragen, dass wir - der einzelne, unser Land und unser Kontinent - im weltweit härter werdenden Wettbewerb bestehen können.

III.

Auch der innereuropäische Wettbewerb wird in vielfacher Hinsicht härter. Zugleich eröffnen sich uns allen neue Chancen durch das Zusammenwachsen Europas - Chancen für den einzelnen und für unsere Gesellschaft insgesamt. Wir werden diese Chancen nutzen können, wenn wir uns immer wieder bewusst machen, dass Deutschland als rohstoffarmes Land in besonderem Maße auf Können, Kreativität und Leistungsbereitschaft seiner Menschen angewiesen ist.

Zur Attraktivität des Standorts Deutschland im zusammenwachsenden Europa - und damit auch zu den Zukunftsperspektiven der jungen Generation hierzulande - gehören nicht zuletzt ein hohes wissenschaftliches Leistungsniveau und ein hochqualifizierter akademischer Nachwuchs. Auch deshalb ist die Erneuerung der akademischen Landschaft in den neuen Bundesländern ein Thema von herausragender Bedeutung für unser aller Zukunft. Ich bin sicher, dass davon auch wichtige Signale ausgehen werden für die Schulen und Hochschulen in den westlichen Bundesländern.

So wie unsere Wirtschaft offen sein muss für freien Welthandel, brauchen wir auch den nationalen und den internationalen Wettbewerb auf dem Felde der Wissenschaft. An dieser Stelle appelliere ich an Sie alle, insbesondere jedoch an die Studentinnen und Studenten aus den neuen Bundesländern: Nutzen Sie die vielfältigen Angebote, einen Teil Ihres Studiums an einer ausländischen Universität zu verbringen. Das gilt für Europa, und das gilt insbesondere auch für unsere Beziehung zu den Vereinigten Staaten von Amerika.

Ich hoffe sehr, dass wir im nächsten Jahr zur Gründung einer deutsch-amerikanischen Akademie der Wissenschaften kommen werden. Wir - Deutsche und Amerikaner - wollen mit unserer den Atlantik überspannenden wissenschaftlichen Kooperation deutlich machen, wie eng unsere Beziehungen sind. In dem Maße, wie Verteidigungsfragen - glücklicherweise - an Bedeutung verlieren, wird es wichtiger, die transatlantische Brücke im Bereich von Wissenschaft, Wirtschaft und vor allem auch Kultur weiter auszubauen.

Gerade hier in den neuen Bundesländern ist dieser internationale Austausch notwendig, weil Abschottung zur Politik des SED-Regimes gehört hatte. Um so größer ist mein Respekt für all jene, die in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten trotz widriger Umstände herausragende wissenschaftliche Leistungen erbracht haben. Wissenschaftliche Höchstleistungen sind nur dort möglich, wo die Forschung nicht einer Partei oder einem Dogma zu dienen hat. Wo die Partei immer recht hat, kann sich keine Wissenschaft entfalten, die sich auf Erkenntnissuche und Wahrheitsliebe gründet.

Natürlich findet Wissenschaft nicht in einem wertneutralen Raum statt. Sie ist der Freiheit in besonderem Maße verpflichtet, denn ohne Freiheit gibt es keine wirkliche Suche nach Erkenntnis. Ich spreche aber auch - dies gilt namentlich für die Naturwissenschaften, beispielsweise die Gentechnologie - von der Notwendigkeit eines Ethos, das eine Grenze zieht zwischen dem, was wir tun können und dem, was wir tun dürfen. Bei alledem darf indes ein fundamentales Prinzip nicht außer Kraft gesetzt werden: Der Staat kann und darf der Wissenschaft nicht vorschreiben, was erforscht werden soll.

Ich möchte hier nur drei Grundsätze herausstellen, die uns dabei leiten sollten: Erstens: Wer trotz widriger Umstände hervorragende wissenschaftliche Leistungen erbracht hat, verdient auch künftig Förderung und Unterstützung. Hier geht es nicht zuletzt um ein Stück Wiedergutmachung für all jene, die sich den ideologischen Zwängen des SED-Regimes entzogen und dafür berufliche Nachteile in Kauf zu nehmen hatten. Zweitens: Jene Bereiche, die vor allem durch die internationale Abschottung der ehemaligen DDR in Mitleidenschaft gezogen wurden, müssen nach Möglichkeit unterstützt werden. Dies gilt namentlich für die Natur- und Ingenieurwissenschaften. Drittens: Ein Neuaufbau ist unumgänglich in den Fächern, die der Legitimierung des SED-Regimes zu dienen hatten. Dies gilt insbesondere für weite Bereiche der Geistes-, Rechts- und Staatswissenschaften sowie für die Lehrerausbildung.

Verbot von Auslandsreisen und Erschwernis jeglicher Kontakte nach draußen waren für die Menschen in der ehemaligen DDR Teil der Unterdrückung, unter der sie litten. Für die Wissenschaft ist ein solches Ghetto einfach tödlich. In der Zielsetzung sollte heute Einvernehmen unter allen Beteiligten bestehen: Alle Bildungs- und Ausbildungseinrichtungen und alle Forschungsstätten in den neuen Bundesländern müssen so schnell wie möglich ein Leistungsniveau erreichen, das dem internationalen Standard entspricht. Das ist schon allein deswegen wichtig, weil verhindert werden muss, dass die qualifizierten Hochschullehrer und die besten Studenten dauerhaft nach Westdeutschland oder ins Ausland abwandern.

Die Grundlagen sind gelegt, erste Voraussetzungen sind geschaffen. Im Einigungsvertrag hat der Wissenschaftsrat den schwierigen Auftrag erhalten, die wissenschaftlichen Einrichtungen in den neuen Bundesländern zu begutachten. Ziel ist die notwendige Erneuerung von Wissenschaft und Forschung unter Erhaltung leistungsfähiger Einrichtungen. Eine gemeinsame Forschungsstruktur in der gesamten Bundesrepublik Deutschland soll erreicht werden.

Wir haben als weitere wichtige Grundlage das „Gemeinsame Erneuerungsprogramm für Hochschule und Forschung in den neuen Bundesländern" vom II. Juli 1991 beschlossen. Bund und neue Bundesländer haben für dieses Fünf-Jahres-Programm über 1,7 Mrd. DM zur Verfügung gestellt; 75 Prozent der Mittel kommen vom Bund. Kern des Programms ist die fachliche und personelle Erneuerung der ideologisch besonders belasteten Fächer. Insgesamt werden 300 Gründungsprofessuren und etwa 150 Gastwissenschaftler gefordert. Hinzu kommen Gründungs- und Gastprofessuren zum Aufbau moderner Fachhochschulen, die es bisher in Ostdeutschland nicht gab. Weitere Schwerpunkte sind die Nachwuchsförderung und die Sicherung des Forschungspotentials.

Wir legen dabei Wert auf befristete Forschungsaufenthalte im Westen, auf Ergänzungsstudien und vor allem auf die Möglichkeit, dass Forscher aus dem Akademiebereich in die Hochschulen eingegliedert werden können. Das wird wesentlich dazu beitragen, die Grundlagenforschung wieder an die Hochschulen zu holen - ein dringendes Erfordernis, vor allem auch für die Studenten, damit Forschung und Lehre an den Universitäten in den neuen Bundesländern wieder in ein vernünftiges Verhältnis zueinander kommen.

Bund und Länder sind sich klar darüber, dass die Erneuerung der Wissenschaft in den neuen Bundesländern sehr viel Geld kostet -Geld für Personal, vor allem aber auch für Gebäude und Geräte. Deshalb sind die Hochschulbaumittel des Bundes um 300 Mill. DM pro Jahr erhöht worden. Zusammen mit dem Länderanteil stehen also 600 Mill. DM jährlich zur Verfügung.

Wenn wir noch hinzunehmen, dass die Forschungsförderungsorganisationen - die Deutsche Forschungsgemeinschaft, die Max-Planck-Gesellschaft, die Fraunhofer-Gesellschaft und auch die privaten Stiftungen - ihre Mittel für die neuen Bundesländer aufgestockt haben, lässt sich als Fazit feststellen: Mittel und Fördermaßnahmen für den Neuaufbau von Wissenschaft und Forschung in den neuen Bundesländern haben einen enormen Umfang.

In diesem Zusammenhang noch ein Wort zur sozialen Absicherung des Studiums - auch hier werden wir über Einzelheiten anschließend noch diskutieren können: Wir haben es auch in finanziell schwierigen Zeiten immer geschafft, die staatliche Ausbildungsförderung nach dem BAföG den steigenden Lebenshaltungskosten anzupassen.

Ich will in diesem Zusammenhang auch auf eine Möglichkeit hinweisen, die in den neuen Bundesländern vielleicht noch viel zu wenig wahrgenommen wird: Wir haben eine Vielzahl von Studienwerken und Stiftungen - von der Studienstiftung des Deutschen Volkes über die kirchlichen, parteinahen und gewerkschaftlichen bis hin zu privaten Stiftungen. Auch für Studenten in den neuen Bundesländern stehen hier - über das BAföG hinaus - öffentliche Mittel in großem Umfang bereit.

IV.

Zu einer besseren Konkurrenzfähigkeit deutscher Hochschulabsolventen im zusammenwachsenden Europa, namentlich im europäischen Binnenmarkt, gehört auch, dass wir uns über die Dauer der Ausbildungszeiten in Westdeutschland Gedanken machen. Sie müssen auf ein vernünftiges Maß zurückgeführt werden.

Ich konnte in meinen achtzehn Jahren als CDU-Vorsitzender manches erreichen. In einer Sache aber bin ich - das muss ich bekennen -bislang gescheitert, nämlich in der Frage der Ausbildungszeiten. Ich erhoffe mir hier einen neuen Schub infolge der deutschen Einheit. Es ist nicht haltbar, dass der junge Franzose mit 25, 26 Jahren ins Berufsleben geht und der junge Deutsche erst mit 30. Für einen solchen Zustand gibt es kein Argument.

Ich weiß, dass die Verkürzung der Schulzeit im Westen ein Streitthema ist. Ich mache aber keinen Hehl aus meiner Auffassung, dass auch in zwölf Jahren ein Abitur erreichbar sein muss, ohne dass die Qualität der allgemeinen Hochschulreife darunter leidet. Mir kann niemand klar machen, warum man in Salzburg das Abitur in zwölf Jahren erreichen kann, im benachbarten Rosenheim aber erst nach dreizehn Jahren.

Ein erster Schritt im Westen könnte beispielsweise darin bestehen, die Abitur-Termine so zu legen, dass jeder, der dies wünscht, bereits im Sommer-Semester sein Studium aufnehmen kann. Dies wäre ein erster Schritt in die richtige Richtung.

Ein anderes Thema, bei dem ich mir Ärger von mehreren Seiten einhandele, ist das der Verweildauer unserer Studenten an den Hochschulen. Nach Untersuchungen des Wissenschaftsrats wird ein Mathematik-Studium in Augsburg und Würzburg in durchschnittlich elf Semestern abgeschlossen, in Berlin erst nach sechzehn Semestern. In Gießen Hegt der Durchschnitt für ein Magister-Examen in Politikwissenschaften bei elf Semestern, in Freiburg fünf Semester darüber. Da stimmt etwas nicht.

Ich weiß sehr wohl, dass die Hochschulen im Westen unter einer großen Überlast leiden und es dort an Platz und Personal mangelt. Aber ein so gravierendes Auseinanderklaffen der Fachstudienzeiten ist für mich nicht akzeptabel. Die langen Studienzeiten sind ein Mangel unseres Systems - auch wenn nicht jeder Student sich darauf berufen kann. Im Blick auf den europäischen Arbeitsmarkt sollten wir jetzt die Chance des Neuanfangs nutzen und zu einer vernünftigen Lösung kommen.

Ein weiterer Punkt, auf den es mir ankommt, ist die Stärkung der Weiterbildung. Wir sollten uns überlegen, ob das Thema Weiterbildung auch im Sinne einer Straffung von Studiengängen nutzbar gemacht werden kann - ob es nicht klüger ist, in einer zweiten Phase den bereits in akademischen Berufen Stehenden noch einmal die Chance zu geben, weiterzulernen und „aufzutanken". Auch das trägt bei zur Verkürzung der Erstausbildungszeiten.

V.

In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg ist in der alten Bundesrepublik mit hohen öffentlichen Aufwendungen ein Netz von Universitäten und Fachhochschulen entstanden, um deren qualitative Ausstattung und um deren Vielfalt uns viele beneiden. In den vergangenen Jahrzehnten sind von Bund und Ländern über 45 Mrd. DM in den Hochschulbau investiert worden. Wir hatten seither zahlreiche Neugründungen.

Deutschland ist für seine Leistungsstärke in der Grundlagenforschung bekannt. Durch eine konsequente Förderungspolitik - die DFG allein hat in den vierzig Jahren ihres Bestehens 18 Mrd. DM erhalten - konnte die Forschung in den Hochschulen ihre Leistungsfähigkeit erhalten. Darüber hinaus hat das Hochschulsystem durch das Nebeneinander von Universitäten und Fachhochschulen eine Stärkung erfahren. Die Fachhochschulen mit ihrer praxisorientierten und kürzeren Ausbildung werden weiter ausgebaut, sie haben sich bewährt und finden immer mehr Zuspruch.

Nach alldem, was wir für unser Bildungssystem tun konnten, haben wir Grund, mit Zuversicht in die Zukunft zu blicken. Aber es wird nur dann eine gute Zukunft sein, wenn wir uns jetzt nicht bequem zurücklegen, sondern wenn wir die dramatische Veränderung der Welt zur Kenntnis nehmen.

Nie zuvor hatte eine junge Generation in Deutschland solche Chancen. Nie zuvor konnte man jungen Leuten sagen, ihr habt alle Chancen, auf ein Leben ohne Krieg, in Frieden und Freiheit. Nach allem, was in diesem Jahrhundert geschehen ist in zwei Weltkriegen mit schrecklichen Folgen, haben wir Grund zur Zuversicht.

Es ist das Glück der Deutschen - und, wie ich denke, auch das Glück der Europäer -, dass sie jetzt am Ende dieses Jahrhunderts diese geschichtliche Chance bekommen. Und das ist nicht nur geschichtliche Chance für die Völker, das ist für Sie hier, für einen jeden von Ihnen, eine ganz persönliche Chance für persönliches Glück. Ich denke, die wollen wir annehmen. Wenn wir nur wollen, werden wir es schaffen.

Quelle: Bulletin des Presse- und Informationsamts der Bundesregierung Nr. 130 (19. November 1991).