5. Oktober 1993

Rede beim Symposium „Migration und Kulturwandel" des Österreichischen Rundfunks in Wien

 

Herr Bundespräsident,
Herr Bundeskanzler,
Herr Vizekanzler,
Exzellenzen,
sehr verehrte Damen und Herren,

I.

das Thema „Europa - Einheit in Vielfalt" gilt einer der entscheidenden Fragen im Blick auf die Zukunft unseres Kontinents. Für mich gehören Deutsche Einheit und Einigung Europas untrennbar zusammen. Sie sind wie zwei Seiten derselben Medaille. Es geht um die Frage, ob wir Europäer die Lehren des zu Ende gehenden 20. Jahrhunderts gelernt haben. Wir können Frieden und Freiheit, Sicherheit und Wohlstand auf Dauer nur gewährleisten, wenn wir uns immer enger zusammenschließen - nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch.

Durch die säkularen Veränderungen der letzten Jahre wurden Wünsche erfüllt und Ziele erreicht, die viele nicht mehr für möglich gehalten hatten. Ich empfinde es an manchen Tagen immer noch wie einen Traum. Wer hat schon daran geglaubt, den Zusammenbruch des Kommunismus, Freiheit und Demokratie für Mittel-, Ost- und Südosteuropa und die deutsche Wiedervereinigung selbst erleben zu können?

Vor uns liegen große neue Chancen, aber auch neue Risiken und Gefahren. Zu den Herausforderungen gehört für uns Europäer die gewaltige Migration, die eingesetzt hat - die Wanderung von Ost nach West und von Süd nach Nord.

Sie kennen gewiss die dramatischen Zahlen. Nach Schätzungen des UNO-Flüchtlingskommissars sind weltweit 100 Millionen Menschen auf der Flucht, nach Angaben des Internationalen Roten Kreuzes sogar 500 Millionen Menschen. Mindestens zehn Prozent von ihnen wollen nach Europa. Ein Teil dieser Menschen sind legale und illegale Einwanderer, ein Teil sind Armutsflüchtlinge, ein Teil sind politisch, ethnisch oder religiös Verfolgte. Im westlichen Europa werden vielen Menschen die großen politischen Veränderungen der letzten Jahre erst durch die Ankunft von Immigranten, Flüchtlingen und Asylsuchenden bewusst. Dies gilt für Österreich, für Deutschland und für praktisch alle unsere Partnerstaaten in Europa.

II.

Die Ankunft Fremder ruft häufig zunächst einmal Unverständnis und dann Ängste hervor. Ich warne davor, das sofort einfach als Fremdenfeindlichkeit abzutun. Ob begründet oder nicht - diese Ängste sind eine Realität. Eine Realität ist auch die Sorge um den Erhalt knapper Ressourcen wie Arbeit und Wohnraum.

Wir wissen, dass extremistische Gewalt auch aus diesen Ängsten gespeist wird. Diese Ängste und ihre schlimmen Folgeerscheinungen werden wir mit idealistischen Beschwörungsformeln nicht in den Griff bekommen. Wir sollten uns statt dessen bei der Beschäftigung mit Ursachen und Auswirkungen der Wanderungsbewegungen von Herz und Verstand gleichermaßen leiten lassen. Ich möchte hierzu sechs Thesen vortragen:

Erstens: Es hat in der Geschichte aus verschiedenen Gründen periodische Migrationsbewegungen gegeben. Es hat - leider - immer Flüchtlinge gegeben. Für mich steht außer Frage: Wer aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen verfolgt wird, muss Asyl finden können. Dies ist ein entscheidender Grundsatz unserer Zivilisation, dies ist ein elementares Menschenrecht.

Es ist aber niemandem gedient, wenn ganze Völker, wenn Millionen von Menschen ihre Heimat verlassen und sich an anderem Ort niederlassen. Am anderen Ort wohnen auch Menschen, die mit eigenen Rechten ausgestattet sind. Deshalb lautet meine zweite These: Zuwanderung muss verkraftbar sein.

Ich will gerne einmal ein paar Zahlen nennen, nicht um uns selbst zu loben, sondern um unsere Probleme verständlicher zu machen; denn wie ich ja gerade heute hier in Wien einer Verlautbarung aus dem Parlament entnommen habe, sind offensichtlich die Kenntnisse über die Zahlen unzureichend. Das führt dann leicht zu falschen Urteilen.

Im Jahre 1991 kamen 760 000 Menschen als Zuwanderer nach Deutschland, im Jahre 1992 waren es dann rund eine Million Menschen. Davon waren:

230.000 deutschstämmige Aussiedler aus Ost- und Südosteuropa sowie Zentralasien;

440.000 Asylbewerber, von denen weniger als fünf Prozent in ihrer Heimat aus politischen, rassischen oder religiösen Gründen verfolgt waren;

260.000 Flüchtlinge, vor allem aus dem ehemaligen Jugoslawien;

sowie eine nur ungefähr abschätzbare Zahl von illegalen Einwanderern, etwa 100.000 Menschen.

Selbst wenn man Doppelzählungen berücksichtigt, kommt man damit auf eine Zahl, die rund 1,2 Prozent der deutschen Bevölkerung entspricht.

Der Anteil Deutschlands am Asylbewerberzugang innerhalb der EG betrug 1990 und 1991 noch rund 58 Prozent. 1992 lag er bei 79 Prozent. Wer also über deutsche Verhältnisse berichtet und diskutiert, sollte gelegentlich einmal diese Zahlen überlegen und auf seine eigenen Verhältnisse beziehen.

Regulierte Einwanderung bereichert noch immer das Leben und die Wirtschaft in Einwanderungsländern wie Australien oder den USA. Aber auch dort stößt man mittlerweile an Grenzen. Auswanderung ist mittel- und langfristig keine Lösung für Bevölkerungsdruck und wirtschaftliche Probleme in armen Ländern. Auch sind die Einwanderungsmöglichkeiten in den entwickelten Ländern kein angemessener Weg, um dem weltweiten Bedarf an Arbeitsplätzen gerecht zu werden.

Wer glaubt, dass Migration solche Probleme löst, der nimmt gewaltige wirtschaftliche, soziale und politische Konflikte in Kauf und lädt schwere Verantwortung auf sich. Mittel- und langfristig stellen derartige Konflikte auch die Fähigkeit wohlhabenderer Länder in Frage, den Bedrängten in ihren Ländern zu helfen - was nicht bedeutet, dass es nicht nur die moralische, sondern auch die politisch vernünftige Pflicht bleibt, solche Hilfen zu leisten. Dies bedeutet, dass Zuzug begrenzt und überschaubar sein muss. Dieser Grundsatz wird aus guten Gründen von vielen Staaten praktiziert. In vielen unserer westeuropäischen Partnerländer gelten noch strengere Bestimmungen als in Deutschland.

Meine dritte These ist: Wir müssen die entsprechenden Regelungen in Europa harmonisieren, nicht zuletzt im Interesse einer gerechteren Lastenverteilung. Bessere europäische Zusammenarbeit, auch über den Bereich der EG hinaus, wäre nicht nur wünschenswert, sie wird über kurz oder lang unerlässlich sein. Migrationsbewegungen halten nun einmal nicht an nationalen Grenzen an.

Viertens müssen wir bessere Konzepte für die Integration jener Menschen entwickeln, die bereits zugewandert sind. Dies sind in der Bundesrepublik Deutschland immerhin rund 6,5 Millionen. Sie gehören zu uns, und sie verdienen Anerkennung für ihre Leistung und Arbeit. Ich will hier nur einmal darauf hinweisen, in welch einem Umfang das deutsche Bruttosozialprodukt durch die in Deutschland lebenden Ausländer positiv beeinflusst wurde. Es sind rund 200 Milliarden D-Mark. Die Steuern und Sozial Versicherungsbeiträge der Ausländer in Deutschland werden für das Jahr 1992 auf etwa 90 Milliarden D-Mark geschätzt. Sie sind entschieden höher als die Aufwendungen unseres Staates, die der ausländischen Bevölkerung zugute kommen. Es ist also wahr, dass die bei uns lebenden Ausländer ganz erheblich zum Wohlstand der Deutschen beitragen.

In Deutschland stellen die Türken mit gut 1,8 Millionen Menschen die größte ausländische Bevölkerungsgruppe dar. Manche kamen vor 30 Jahren. Viele von ihnen werden - auch entgegen eigenen früheren Absichten - in Deutschland bleiben, wenn sie aus dem aktiven Erwerbsleben ausgeschieden sind. Hier stellt sich insbesondere die Frage nach einer erleichterten Einbürgerung. In diesem Zusammenhang wäre eine generelle Zulassung von Mehrstaatigkeit nicht das richtige Rezept.

Ich bin aber der Auffassung, dass mehr Flexibilität im Einzelfall helfen kann. Auch deswegen habe ich vor wenigen Tagen mit der türkischen Ministerpräsidentin filier in Bonn vereinbart, dass wir hochrangige Arbeitsgruppen einsetzen. Sie sollen sich im Interesse der Betroffenen mit den komplizierten Statusfragen der türkischen Bevölkerungsgruppe in Deutschland befassen -einer Gruppe, die in vielfacher Weise zwischen zwei Hochkulturen steht.

Alle diese Maßnahmen sind wichtig, sie reichen aber nicht aus. Wichtig ist es vor allem, präventive Schritte zu unternehmen, um - so weit möglich - die Ursachen für die Wanderungsbewegungen zu beseitigen. Dies allerdings ist leichter gesagt als getan. Wir werden den Teufelskreis von Armut, Überbevölkerung, Arbeitslosigkeit und Umweltproblemen in den Herkunftsländern nur mittelfristig und Schritt für Schritt durchbrechen können; Illusionen sind hier fehl am Platz.

Was wir aber sehr wohl auch schon kurzfristig bekämpfen können und müssen, das sind Verfolgung und Unterdrückung als Fluchtursachen. Wenn Menschen ihre Heimat verlassen, dann ist das heute in den meisten Fällen kein Entschluss aus freien Stücken, sondern ein Akt der Verzweiflung. Die große Mehrheit gibt der Heimat den Vorzug und würde auch dort bleiben, wenn die Bedingungen nur einigermaßen erträglich wären.

Meine fünfte These lautet daher: Wir dürfen nicht zulassen, dass Regierungen ihre Völker verfolgen, zu Flüchtlingen im eigenen Land machen oder im schlimmsten Sinne des Wortes in die Flucht schlagen. Schon wegen der Folgen für uns selbst, und das sage ich nicht ohne Grund in die aktuelle Diskussion und das frühere Jugoslawien hinein, handelt es sich nicht um eine sogenannte innere Angelegenheit dieser Staaten.

In früheren Jahren haben wir auf dem individuellen Recht bestanden, das eigene Land verlassen und wieder dorthin zurückkehren zu dürfen. Heute müssen wir aber das eigentlich selbstverständliche Recht zum Verbleib im eigenen Land zu einem Kernelement des internationalen Zusammenlebens machen.

Die internationale Gemeinschaft muss Instrumente weiterentwickeln, um politischen Praktiken von Ländern entgegenzuwirken, die Emigration erzeugen. Die Völkergemeinschaft muss das „Recht zu bleiben"' als eine wichtige logische Entsprechung zum „Recht wegzugehen" durchsetzen. Nur so haben wir eine Chance, Hunderttausenden das Leben zu retten, die erzwungene Migration von Millionen aufzuhalten und die irreparable Aushöhlung ganzer Wirtschaftssysteme zu verhindern.

Meine sechste These lautet: Auch der wirksame Schutz ethnischer, kultureller und religiöser Minderheiten dient der Verhinderung von Migration. Europarat und KSZE haben hier politische Maßstäbe gesetzt. Im Europarat wird derzeit eine Konvention zum Schutz der Minderheiten diskutiert. Herr Bundeskanzler Vranitzky, wir werden ja - hoffentlich mit gutem Erfolg - Ende dieser Woche hier in Wien auch über diese Fragen zu sprechen haben. Ich würde es sehr begrüßen, wenn eine solche Konvention nicht nur diskutiert, sondern endlich auch verabschiedet würde! Hätten wir ein solches Vertragswerk schon zu Beginn dieses Jahrhunderts gehabt, wären viel Elend, Blut und Tränen zu vermeiden gewesen.

III.

Ziel des europäischen Standards zum Schutz von Minderheiten ist es ja, die Frage der Existenz von Minderheiten nicht länger zu einem trennenden Element zwischen verschiedenen Staaten, sondern vielmehr zu einem Element der Verständigung und des Brückenschlags werden zu lassen. Die berechtigten Interessen von Minderheiten werden auf diese Weise mit den legitimen Interessen der Mehrheitsnationen zum Ausgleich gebracht. Nur eine Minderheit, die sich in ihrer Identität geachtet fühlt, wird eine loyale Minderheit sein und damit zum kulturellen Reichtum einer Nation beitragen. Dies liegt zugleich im Interesse des friedlichen Zusammenlebens der Völker und damit der gesamteuropäischen Stabilität.

Ziel des Minderheitenschutzes ist es ferner, das Leben der Minderheiten in ihrer angestammten Heimat zu garantieren und damit jeglichen Zwang zur Emigration in andere Staaten auszuschließen. In Mittel- und Osteuropa haben die Nationen nach jahrzehntelanger Unterdrückung durch den Sowjetkommunismus jetzt die Möglichkeit, ihre Identität neu und umfassend zum Ausdruck zu bringen. Zugleich hat diese Entwicklung an vielen Stellen zu Konflikten mit nationalen Minderheiten in diesen Staaten geführt. Es rächt sich jetzt, dass in Jahrzehnten kommunistischer Herrschaft diese Konflikte nicht gelöst, sondern überdeckt wurden; schlimmer noch: dass das jeweils dominierende Volk unter dem Deckmantel einer „internationalistischen" Ideologie rücksichtslos seine eigene Macht- und Vorrangstellung ausgebaut hat.

Deutschland hat sich seit langem mit dem Problem des Schutzes und der Förderung deutscher Minderheiten in Mittel-, Ost und Südosteuropa beschäftigt. Im Zeichen des Ost-West-Konflikts stießen Bemühungen der Bundesregierung - auch aller meiner Vorgänger - auf diesem Gebiet auf enorme Widerstände. Nur mit Ungarn konnten wir 1987 eine zukunftsweisende Vereinbarung treffen.

Seit dem Ende der kommunistischen Diktaturen hat Deutschland jedoch in einer Serie von Nachbarschafts- und Partnerschaftsverträgen mit praktisch allen in Frage kommenden Staaten ausführliche Vereinbarungen zum Schutz und zur Förderung der beiderseitigen Minderheiten getroffen. Dies gilt insbesondere für die Verträge mit Polen, der Tschechischen und der Slowakischen Republik, mit Rumänien und mit Russland.

Der bereits weitreichende europäische minderheitenrechtliche Standard wird in allen diesen Verträgen zu geltendem Recht erhoben. Darüber hinaus sind in allen Vereinbarungen Elemente zur Weiterentwicklung dieses Standards enthalten. So ist etwa in Polen das Recht der deutschen Minderheit auf gleichberechtigten Zugang zu regionalen Medien garantiert. Außerdem haben wir uns verpflichtet, Fördermaßn ahmen der jeweils anderen Seite zu ermöglichen und sogar zu erleichtern. Damit ist sichergestellt, dass Minderheitenrechte - als geltendes innerstaatliches Recht - auch durchgesetzt werden können. Die Umsetzung dieser minderheitenrechtlichen Bestimmungen geschieht natürlich nicht ohne Reibungen und Schwierigkeiten. Dennoch sind die Erfahrungen mit den Abmachungen insgesamt gut und ermutigend.

Wohin übersteigerter Nationalismus und Missachtung von Minderheitenrechten führen kann, erlebt Europa gegenwärtig in schlimmster Form im ehemaligen Jugoslawien. Der großserbische Nationalismus hat das ehemalige Jugoslawien zerstört, indem er Rechte und Interessen einer Nationalität vor diejenigen anderer Nationalitäten setzte. Serbischer Nationalismus führte zur Aufhebung der Autonomiestatute im Kosovo und in der Vojvodina. Damit wurde den dort lebenden Minderheiten innerhalb Serbiens selbst das Minimum an kultureller Autonomie genommen. Bedrückend an der Situation im ehemaligen Jugoslawien ist insbesondere, dass ein Teufelskreis von Rache und Vergeltung in Gang gesetzt worden ist, der immer größeres Leid über die Menschen bringt.

Nach den Erfahrungen der Geschichte kommt es entscheidend darauf an, dass die Menschen- und Minderheitenrechte - insbesondere die unveräußerliche Würde eines jeden einzelnen - geachtet werden.

IV.

Der Schutz der Menschen- und Bürgerrechte und der Schutz der Minderheiten sind wie zwei Seiten derselben Medaille. Wer eines vernachlässigt, wird auf Dauer den inneren Frieden nicht bewahren. Die Menschen und Völker erkennen sich in der Vielfalt nationaler und regionaler Kulturen wieder. In dieser Vielfalt liegt Europas Reichtum. Deshalb kann es nicht unser Ziel sein, Unterschiede einzuebnen oder gar einen europäischen Schmelztiegel zu schaffen. Wir wollen ein Europa, in dem unsere Identität als Deutsche, als Österreicher, als Franzosen oder als Italiener erhalten bleibt.

Deswegen spreche ich auch nicht mehr von den „Vereinigten Staaten von Europa" als Zukunftsziel. Ich selbst habe dies in der Vergangenheit getan, aber ich räume gern ein, dass dieser Begriff - der auf die große Rede Winston Churchills 1946 in Zürich zurückgeht - zu Missverständnissen Anlass gibt. Wir wollen kein staatliches Abbild der Vereinigten Staaten von Amerika. Wir wollen aber auch kein Zurück in den Nationalstaat des 19. Jahrhunderts. Dieser hat keine Zukunft. Wir wollen ein Europa, das die Vielfalt und kulturelle Identität der einzelnen Mitgliedsstaaten wahrt. Ich sage es bewusst in die Diskussion hier in Österreich hinein: Wenn wir bei der Europa-Debatte der letzten Jahre und Jahrzehnte etwas gelernt haben, so ist es, dass dieses Europa ein Europa nicht nur des Verstandes, sondern des Herzens sein muss.

Wir wollen kein bürgerfernes, technokratisches Europa, keinen europäischen Leviathan. Deshalb haben wir im Vertrag von Maastricht das Subsidiaritätsprinzip durchgesetzt. Es bedeutet, dass die höhere Ebene nur dann tätig werden darf, wenn dies nachweisbar notwendig ist. Sie darf sich nicht anmaßen, alles bis ins letzte Detail regeln zu wollen. Dies muss auch für „Brüssel" gelten. Das heißt aber auch, dass nationale Verwaltungen eine Verantwortung, dort wo sie gefordert ist, wahrnehmen und unbequeme Dinge nicht einfach auf die Gemeinschaft schieben. Eine besondere Ausprägung des Subsidiaritätsprinzips ist die föderale Ordnung. Dies wird in Österreich gewiss besser als in manchen anderen europäischen Ländern verstanden.

Wir wollen ein dezentrales Europa, in dem entsprechend den Verfassungen und Gegebenheiten der Mitgliedsstaaten auch die Regionen oder Bundesländer Verantwortung innehaben. Die Bedeutung der Regionen beim Aufbau des vereinten Europa kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden.

Ich habe bedauert, dass nach den schwierigen Abstimmungen über den Maastricht-Vertrag sowohl in Dänemark wie vor allem in Frankreich drei wichtige Elemente für den positiven Ausgang dieser Abstimmung wenig zur Kenntnis genommen wurden. Ich nenne das Abstimmungsverhalten der Kriegsgeneration in Frankreich -jener, die selbst den Krieg erlebt und durchlitten haben und die mit Mehrheit für den Vertrag gestimmt haben. Ich nenne die ganz jungen Wähler, die Erstwähler, die mit Mehrheit für den Maastricht-Vertrag gestimmt haben. Und ich nenne die Ergebnisse im Elsass und in Lothringen, die überhaupt erst die Mehrheit in Frankreich für den Maastrichter Vertrag ermöglicht haben. Übrigens war das gleiche in der dänischen Grenzregion zu Schleswig-Holstein zu beobachten. Diese wichtige Erfahrung sollten wir uns beim Einigungsprozess immer in Erinnerung rufen.

In der zunehmenden Anonymität unserer modernen Gesellschaften wächst die Sehnsucht der Menschen nach Überschaubarkeit. Der Wunsch findet seinen Ausdruck in einer bemerkenswerten Renaissance lokaler und regionaler Traditionen. Ich halte dies für eine erfreuliche Entwicklung. Heimat, Vaterland, Europa - dies ist der Dreiklang der Zukunft.

V.

Ich sage hier in Wien ganz bewusst: Für mich ist eine Europäische Union ohne Österreich nicht vorstellbar. In dem Text der österreichischen Bundeshymne heißt es: „Heiß umfehdet, wild umstritten, liegst dem Erdteil Du inmitten, einem starken Herzen gleich." Besser kann man nicht ausdrücken, weshalb Europa Österreich braucht. Deswegen wünsche ich mir, dass die Beitrittsverhandlungen zügig voranschreiten, damit Österreich entsprechend den Vorstellungen des Europäischen Rats von Kopenhagen zum 1. Januar 1995 Mitglied der Europäischen Gemeinschaft werden kann. Gleiches gilt für Schweden, Finnland und Norwegen.

Hier in Wien weisen die Straßenschilder nach Budapest, Brunn und Prag. Hier in Österreich weiß man besser als in anderen Teilen Europas, dass wir die Hoffnungen unserer östlichen Nachbarn nicht enttäuschen dürfen. Sie haben ihren Weg in den vergangenen Jahren als „Heimkehr nach Europa" verstanden. Zu den für mich unvergesslichen Stunden meiner Erfahrung als deutscher Bundeskanzler gehört die Erinnerung daran, dass, als vor zwei Jahren die Außenminister der baltischen Staaten in Bonn waren, der Senior unter ihnen sagte: „Wir, die baltischen Staaten, kehren heim nach Europa." Das war eben mehr als irgendeine höfliche Floskel, das war die in Worte gekleidete Sehnsucht von Völkern.

Täuschen wir uns nicht: Ein Rückschlag des Umgestaltungsprozesses in den Staaten des ehemaligen Warschauer Pakts würde uns allen einen hohen Preis abverlangen. Die Unterstützung des Aufbaus in diesen Ländern ist nicht nur eine Investition in die Zukunft Europas, sondern dient gleichzeitig dem Weltfrieden.

Doch auch im Westen Europas sind wir gegen Rückfälle in den Nationalismus früherer Zeiten nicht gefeit. Deshalb brauchen wir die Politische Union.

Aus all diesen Gründen ist für mich klar, dass der politische Zusammenschluss Europas, die Politische Union, der einzige dauerhafte Garant für Frieden und Freiheit für uns alle ist. Als deutscher Regierungschef füge ich hinzu: Wir alle brauchen Europa, aber wir Deutschen brauchen dieses Europa mehr als alle anderen. Wir müssen lernen, was manchen meiner Landsleute schwerfällt, dass dieses Deutschland mit seinen 80 Millionen Menschen von nicht wenigen als eine Gefahr betrachtet wird, dass es verständliche Ängste aus der Geschichte und auch künstlich erzeugte Ängste gibt. Aber diese Ängste sind da. und wir müssen sie zur Kenntnis nehmen.

Wir müssen alle gemeinsam zur Kenntnis nehmen, dass die eigentliche Frage, vor der wir stehen - so wichtig Ökonomie, monetäre Fragen und die Wirtschafts- und Währungsunion sind -, ist; Wie werden wir nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts Frieden und Freiheit im 21. Jahrhundert sichern können? Es soll niemand glauben, dass die bösen Geister, die wir gerade hier in der Nachbarschaft auf dem Balkan beobachten können - Nationalismus. Rassismus, alle diese schrecklichen, schlimmen Geister auch der europäischen Geschichte -, nur dort existieren.

Zu Beginn meiner Amtszeit als Bundeskanzler vor jetzt gerade elf Jahren habe ich mich auf den damaligen EG-Gipfel in Kopenhagen vorbereitet. In allen Dokumenten, in allen Schriftstücken kam das Wort „Eurosklerose" vor. Jeder sagte, wir seien am Ende. Nun gut, wir haben einiges versucht, und einiges ist auch gut gelungen. Wenn ich heute vor einem Jahr hier gesprochen und Ihnen gesagt hätte, in einem Jahr wird der Maastricht-Vertrag verabschiedet sein, dann hätten die meisten gefragt, ob ich nicht ein hoffnungsloser Optimist sei. Der Maastricht-Vertrag ist verabschiedet. So gehen wir - ich gebe zu, mühsam und nicht sehr glänzend - voran; modernen PR-Erfordernissen entspricht das alles überhaupt nicht. Aber wir sind vorangekommen, und wir werden weiter vorangehen.

Aber eines muss klar sein: [...] Dieses Europa ist natürlich nicht eine gehobene Freihandelszone. Das Europa, das wir wollen, ist viel mehr als eine Wirtschafts- und Währungsunion, so wichtig diese Wirtschafts- und Währungsunion ist. Es ist ein Europa, in dem jene Werte die Grundlage bilden, die aus unserer abendländischen Geschichte und Tradition stammen. Sie wiederum bilden die Grundlage unserer freiheitlichen Demokratie.

Die Kraft unseres Kontinents [...] liegt in dem fruchtbaren Spannungsfeld zwischen Einheit auf der einen und der lebendigen Vielfalt unseres kulturellen Erbes auf der anderen Seite. Wenn wir über Europa sprechen, sollten wir nicht nur über die Notwendigkeiten einer gemeinsamen Agrarpolitik, die existentiell ist für Millionen unserer Landsleute, sprechen, über einen gemeinsamen europäischen Arbeitsmarkt, eine der drängendsten Sorgen unserer Tage, eine gemeinsame Währung. Das allein wäre nicht unser Europa. Nach meiner festen Überzeugung - wo kann man es besser aussprechen als hier in dieser Stadt? - müssen immer auch die kulturelle Dimension Europas, die geistige Entwicklung dieses alten Kontinents und seine Chancen für die Zukunft hervorgehoben werden.

Deshalb ist es ganz wichtig, diese kulturelle Dimension immer wieder zu unterstreichen. Auf ihr gründet sich nicht zuletzt das gültige Wertesystem der Achtung vor dem Leben, der Einzigartigkeit des Menschen, der Achtung der Menschenwürde und der Freiheitsrechte. Wir wollen, dass die friedensstiftende Kraft dieses Erbes nicht verlorengeht, sondern dass sie als Grundlage der Freundschaft zwischen unseren Völkern Voraussetzung für den Bau des „Hauses Europa" ist.

Ich glaube, wir sollten dabei vor allem an die nächste, an die junge Generation denken und in ihrem Sinne handeln. Dieser Generation, die ja nicht genug von der Geschichte weiß, muss man vor Augen führen, dass es beim Bau Europas um Frieden und Freiheit für uns alle geht. Wenn man sich die Jahre des Wiederaufbaus nach 1945 vor Augen führt, und an die Männer und Frauen denkt, die den Weg unserer Länder in den letzten Jahrzehnten bereitet haben - ich möchte hier einmal an Karl Renner, Julius Raab und Leopold Figl erinnern - dann haben wir allen Grund zur Dankbarkeit. Dankbarkeit -sagt Romano Guardini - ist die „Erinnerung des Herzens".

Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass wir, trotz aller Skepsis und allem Kulturpessimismus, den heute manche falsche Propheten unter die Leute in Europa zu bringen versuchen, eine ganz reelle Chance haben, jetzt in diesen wenigen Jahren vor der Jahrhundertwende, der Jahrtausendwende, mit dem Bau eines vereinten Europas ein bedeutendes Stück auf dem Weg in eine gute Zukunft voranzukommen.

Mein Wunsch dabei ist, dass die Österreicher ihren Platz in der Mitte des zusammenwachsenden Kontinents einnehmen.

Quelle: Bulletin des Presse- und Informationsamts der Bundesregierung Nr. 85 (13. Oktober 1993).