Herr Präsident,
Herr Sejm-Marschall,
Herr Senatsmarschall,
Herr Ministerpräsident,
Exzellenzen,
meine Damen und Herren Abgeordneten, Senatoren.
es ist für mich eine große Ehre und für jemanden wie mich, der über 36 Jahre Parlamentarier ist, eine große Freude, heute vor Ihnen, vor beiden Häusern des Parlaments der Republik Polen, sprechen zu können. Es ist das erste Mal, dass ein deutscher Regierungschef vor den frei gewählten Vertretern des polnischen Volkes das Wort ergreifen darf und kann. Ich möchte Ihnen sagen: Für mich persönlich ist dies ein ganz wichtiger und auch bewegender Augenblick in meinem Leben. Uns führt der gemeinsame Wille zusammen, einander zuzuhören, einander besser zu verstehen und - wie ich hoffe - gemeinsam zu handeln.
Ich überbringe dem polnischen Volk herzliche Grüße seiner deutschen Nachbarn. Vor sechs Jahren habe ich Ihr Land besuchen können. Europa hat seit jenen Tagen im November 1989 Veränderungen säkularen Ausmaßes erlebt. Ich habe damals nach dem Fall der Berliner Mauer meinen Besuch hier unterbrochen, um, wie das selbstverständlich war, nach Berlin zu gehen. Aber ebenso selbstverständlich war es für mich, wieder zurückzukommen, obwohl das manche in Warschau damals nicht geglaubt hatten.
Heute bin ich als Bundeskanzler eines wiedervereinigten Deutschlands wieder zu Besuch in Ihrem Lande. Das Besondere, so denke ich, an diesem jetzigen Besuch ist, dass er hier und da schon als ein Stück Normalität aufgefasst wird. Es ist noch nicht die ganze Normalität, aber dieser Besuch zeigt doch besser als vieles andere, welche Wegstrecke wir gemeinsam erfolgreich zurückgelegt haben!
Das Jahr 1995 ist für uns alle ein Jahr des Gedenkens und der Erinnerung. In meiner Regierungserklärung am 1. Juni im Deutschen Bundestag habe ich die deutsche Schuld und die deutsche Verantwortung für die Verbrechen der Nazi-Barbarei klar benannt. Wir Deutschen vergessen nicht, dass Polen das erste Opfer des von Hitler begonnenen Angriffskriegs war, und wir vergessen nicht die Leiden des polnischen Volks. Um so dankbarer sind wir für das, was in diesen Jahren und Jahrzehnten an neuen Beziehungen, an einem neuen Verhältnis aufgebaut werden konnte, das Deutschland und Polen heute verbindet.
An dieser Entwicklung haben viele in beiden Ländern Anteil. 1970 hat mein Vorgänger, Bundeskanzler Willy Brandt, in Warschau ein wichtiges Zeichen gesetzt. Die Kirchen in beiden Ländern haben schon früh den Weg zur Aussöhnung gewiesen. Eine wichtige Botschaft des Friedens und der Achtung von Menschenwürde und Menschenrechten wurde eine gemeinsame Erklärung der polnischen und deutschen Katholiken zum 1. September 1989, zum 50. Jahrestag des deutschen Angriffs auf Polen.
Der Grenzvertrag vom 14. November 1990, in dem das wiedervereinigte Deutschland die bestehende Grenze mit Polen anerkannte, erinnert in seiner Präambel „an das schwere Leid, das dieser Krieg mit sich gebracht hat". Er nennt insbesondere auch den von zahlreichen Deutschen und Polen erlittenen Verlust ihrer Heimat durch Vertreibung und Aussiedlung. Dies sei Mahnung und Herausforderung, so sagten wir, zur Gestaltung friedlicher Beziehungen zwischen den beiden Völkern und Staaten.
Wir Deutsche erinnern uns mit Dankbarkeit an die noblen Worte Ihres Außenministers, Wladyslaw Bartoszewski, vor ein paar Wochen, am 28. April, im Deutschen Bundestag. Ich freue mich besonders, dass heute unter den Abgeordneten dieses Hauses auch Vertreter der deutschen Minderheit sind. Die freie Entfaltung der Persönlichkeit und das Recht auf die Vertretung der eigenen Interessen sind gerade für Minderheiten ein besonderer Maßstab für Toleranz.
Herr Präsident, ich nehme gerne Ihre Anfrage an die Deutschen auf. dass wir in den Gesprächen, die wir heute verabredet haben, auch die Wünsche, die von Ihrer Seite kommen, in sorgfältiger Weise berücksichtigen werden.
Der Fall der Berliner Mauer symbolisierte das Ende des Kalten Kriegs. Die Teilung Europas war geschichtswidrig. Gerade das polnische Volk hat sich dagegen immer wieder aufgelehnt. Eine der wirkungsvollsten und dramatischsten Ursachen für die Veränderungen auf unserem Kontinent liegt nicht zuletzt in dem unbeirrten Willen des großen polnischen Volkes, seinen Platz in einem freien Europa wieder einzunehmen.
Mit dem deutsch-polnischen Vertragswerk haben wir an die guten Traditionen des friedlichen Zusammenlebens unserer Völker, des kulturellen und wirtschaftlichen Austauschs und der Begegnung der Menschen anknüpfen können. Diese Tradition haben weder chauvinistische Überheblichkeit noch ideologische Verblendung, weder Krieg noch Vertreibung auslöschen können. Denn hinter dieser großen, zutiefst europäischen Tradition stand und steht die verbindende Idee der Freiheit.
Der gemeinsame Wunsch nach Freiheit und Selbstbestimmung prägte eine wichtige Phase in den Beziehungen unserer beiden Völker: Während des polnischen Freiheitskampfs 1830/31 und vor allem auch in den Jahren danach war Deutschland von einer Welle der Sympathie und Begeisterung für das polnische Nachbarvolk erfasst. Den Höhepunkt bildete damals in meiner Heimat - in der Pfalz - das Hambacher Fest am 27. Mai 1832. An diesem Tag wehte die weiß-rote neben der schwarz-rot-goldenen Fahne. Aus dieser Fahne Schwarz-Rot-Gold wurde die Staatsflagge der Bundesrepublik Deutschland.
Damals forderten deutsche, französische und polnische Studenten Verfassungen und Bürgerrechte für alle Europäer, und sie besangen die Freiheit in ihren Liedern. In den Reden von damals hieß es: „Ohne Polens Freiheit keine deutsche Freiheit, ohne Polens Freiheit kein dauernder Friede, kein Heil für die europäischen Völker. Darum auf zum Kampfe für Polens Wiederherstellung!" Das war das Lied deutscher Studenten in jener Zeit.
Zum Lebenswerk und Vermächtnis Konrad Adenauers, des ersten Kanzlers der Bundesrepublik Deutschland, gehörte die Aussöhnung Deutschlands mit Frankreich. Er hat damals in seiner ersten Regierungserklärung nach seiner Wahl zum Bundeskanzler im Oktober 1949 gesagt - ich referiere mit meinen eigenen Worten: Wir wollen nach diesen Jahren der nationalsozialistischen Barbarei Friede, Freundschaft und Aussöhnung mit allen unseren Kriegsgegnern von gestern, und wir wollen dies vor allem mit Frankreich und mit Polen. Wir wollen Aussöhnung mit Israel. Er hat in seiner Zeit einen Beitrag zur Aussöhnung mit Frankreich und mit Israel leisten können. Es war ihm durch die historischen Gegebenheiten nicht vergönnt, auch die Aussöhnung mit Polen voranzubringen.
Heute haben wir diese Chance, und ich bin glücklich, dass ich in meiner Zeit einen Beitrag dazu leisten kann, dass sie auch genutzt wird. Ich will mit dieser Reise, mit diesem Besuch dazu beitragen, dass sich die Vision dieses großen Europäers von einem friedlichen Miteinander von Polen und Deutschen erfüllt.
Seit 50 Jahren leben wir im Frieden. Welchen Weg wir in diesen Jahrzehnten zurückgelegt haben, wurde auch in der vergangenen Woche deutlich, als wir beim Europäischen Rat in Cannes - zum zweiten Male nach der Konferenz unter meinem Vorsitz im Dezember letzten Jahres - mit den Regierungschefs und Außenministern der Assoziationspartner zusammengetroffen sind. Dieser Begriff „Assoziationspartner" ist ein Begriff aus dem politischen, diplomatischen Alltag, aber er umfasst natürlich die Wirklichkeit des unvollendeten Europa. Polen und andere Partner sind ein Teil der Gemeinschaft europäischer Völker. Wenn wir die Europäische Union nicht um jene Länder erweitern, die gerade mit uns in Cannes zusammen waren, nicht zuletzt um unsere polnischen Partner und Freunde, dann wird diese Union ein Torso bleiben.
Wir, die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union, haben dort mit Ihnen, Herr Ministerpräsident, und mit Ihnen, Herr Außenminister, über die Zukunft Europas gesprochen. Wir sind gerade auf dem Weg, einen Traum zu verwirklichen, den Ihr großer Dichter Adam Mickiewicz schon im vergangenen Jahrhundert, 1849, in die Worte fasste: „Welcher ist im Augenblick der erste, wichtigste, lebendigste Wunsch der Völker? Wir zögern nicht zu sagen, dass es der Wunsch nach Verständigung, Vereinigung, Zusammenschluss der Interessen ist." Ich finde, besser, als er es formuliert hat, können Sie auch 146 Jahre danach dies in keinem Vertragstext formulieren.
Das demokratische Polen hat für uns und für mich ganz selbstverständlich seinen natürlichen Platz in der Europäischen Union. Ich verstehe die Ungeduld mancher hierzulande, die raschere Fortschritte im Beitrittsprozess sehen wollen. Aber das große Ziel des Beitritts zur Europäischen Union ist eben nicht über Nacht und auch nicht umsonst zu erreichen. Und wir wissen: Was auch immer die Europäische Union zu leisten vermag, um den Weg Polens in diesen Zusammenschluss der Völker Europas zu ebnen, wird sie tun. Aber die Hauptlast auf diesem Weg müssen die Menschen in Polen selbst tragen.
Wir, die Regierung der Bundesrepublik Deutschland - und ich sage das auch für meine Landsleute in Deutschland und natürlich für mich selbst -, werden alles tun, um Ihnen auf diesem Weg zu helfen. Hilfe von außen kann nur Hilfe zur Selbsthilfe sein. Um so mehr respektiere ich diejenigen, die hier in Polen dafür eintreten, dass dieses Ziel bald erreicht werden kann.
Ich möchte, Herr Ministerpräsident, an dieser Stelle die Absicht Ihrer Regierung ausdrücklich begrüßen, eine nationale Beitrittsstrategie zu formulieren und über Kosten und Konsequenzen des Beitritts Polens zur Europäischen Union eine offene Debatte mit den Bürgerinnen und Bürgern Ihres Landes zu führen. Ich hoffe, dass bei allen Vorbehalten, auch vielleicht Ängsten, möglichst viele Bürgerinnen und Bürger Ihres Landes begreifen, dass dieser Prozess irreversibel ist und dass Sie bei aller Skepsis, die Sie da und dort vernehmen, mir Glauben schenken können, wenn ich Ihnen sage: Dieser Zug fahrt, und niemand, auch nicht die „Euro-Skeptiker" und die Künder von „Eurosklerose1' werden ihn aufhalten.
Das heißt: Wir wollen aus der Geschichte lernen. Denn wir kennen die Grundwahrheit im Leben der Völker, dass ein Volk, das seine Geschichte nicht kennt, die Gegenwart nicht begreifen und die Zukunft nicht gestalten kann. Meine These, die ich Ihnen zurufen möchte, heißt: Polen braucht Europa, aber Europa braucht auch Polen, und ohne Polen ist die Europäische Union ein Torso.
Mehr als alles andere werden die Fortschritte im nationalen Transformations- und Modernisierungsprozess über den Beitritt entscheiden. Ich rufe Ihnen zu: Reformkurs ist Europakurs, und Abkürzungen wird es dabei nicht geben. Für die Modernisierung in den assoziierten Partnerstaaten wie auch für die dringend notwendigen Reformen in der bestehenden Union gilt: Es geht nicht darum, zusätzlichen Zeitdruck zu schaffen, es geht überhaupt nicht darum, den Beitritt zu verzögern, sondern es geht jetzt darum, die Zeit zu nutzen. Die Schwierigkeiten dieser Aufgabe zu unterschätzen, hieße, das Risiko eines Scheiterns auf sich zu nehmen.
Die Zusammengehörigkeit in Vielfalt - der Kulturen, Sprachen und geschichtlichen Erfahrungen - ist unser gemeinsamer Auftrag für die Zukunft. Deutsche und Polen und Polen und Deutsche dürfen nicht aufhören, gemeinsam neue Wege für ein geeintes Europa - geeint in Demokratie, Frieden und Sicherheit - zu suchen. Auch das füge ich hinzu: Für mich und für die von mir vertretene Politik ist die Aufnahme von Staaten Mittel- und Osteuropas, die Aufnahme Polens in die Europäische Union nicht in erster Linie eine Frage der Abwägung wirtschaftlicher Interessen. Die Integration in die euroatlantischen Strukturen ist vielmehr ein Gebot der Solidarität zwischen den Völkern Europas - einer Solidarität, die gewachsen ist auf dem Boden gemeinsamer Werte.
Ein weiteres Kernelement der künftigen europäischen Sicherheitsarchitektur wird die NATO sein. Deutschland versteht und unterstützt den Wunsch Polens und anderer junger Demokratien, Mitglied des Nordatlantischen Bündnisses zu werden. Die Aufnahme Polens in die NATO und die Aufnahme Polens in die Europäische Union stehen zwar in einem inneren Zusammenhang, aber dies bedeutet überhaupt nicht, dass beides zum gleichen Zeitpunkt erfolgen muss. Ich weiß, dass es hierzu Interpretationen in Warschau in diesen Tagen gegeben hat. Wer es so interpretiert hat, wie ich es gelesen habe, hat es falsch interpretiert. Ich sage noch einmal: Es gibt einen inneren Zusammenhang, aber dies bedeutet nicht, dass dies zum gleichen Zeitpunkt erfolgen muss.
Die Aufnahme neuer Mitglieder in das Bündnis soll ein Beitrag zur Stärkung von Frieden und Stabilität in ganz Europa sein. Die Allianz ist ein Bündnis, das sich gegen niemanden richtet. Das sage ich auch bewusst in diesem Saal und von diesem Pult aus in alle Himmelsrichtungen. Das wird auch nach einer Erweiterung so sein.
Die Aufnahme neuer Mitgliedsstaaten hat enorme Auswirkungen für das gesamte Sicherheitsgefüge Europas. Wir wollen deswegen diesen Erweiterungsprozess so anlegen, dass er nicht zu neuen Gegensätzen fuhrt, sondern die Länder Europas näher zusammenbringt. Das erfordert Standfestigkeit, Ehrlichkeit im Umgang miteinander und auch Geduld. Vor allem gilt es. auch Russland, unseren gemeinsamen mächtigsten Nachbarn im Osten, in die Sicherheitsarchitektur in einer Weise einzubeziehen, die der Bedeutung dieses Landes und seinen Möglichkeiten entspricht.
Das Bündnis hat Russland einen Dialog angeboten, der zu einer dauerhaften und für beide Seiten fruchtbaren Sicherheitspartnerschaft führen soll. Ich bin überzeugt, dass dadurch ein günstiges Umfeld geschaffen werden kann, so dass die Aufnahme neuer Mitglieder wie Polen, und zwar die baldige Aufnahme, in das Atlantische Bündnis außer Streit gestellt wird. Ein entscheidender Faktor für eine positive Entwicklung in Europa ist und bleibt, dass Russland auf dem Weg zu Reformen im Innern und der Politik der guten Nachbarschaft und Zusammenarbeit weiter konsequent vorangeht.
In diesem Zusammenhang spreche ich aus, was ich auch in Moskau gesagt habe: Kein Staat kann es einem anderen verwehren, Mitglied eines Bündnisses zu sein oder nicht zu sein. Es hat auch kein Staat das Recht, andere Staaten als eine Art Sicherheitsglacis zu behandeln. Wer dies tut - oder täte, ich will es lieber so formulieren -, denkt in überholten Kategorien eines nationalistischen Mächtesystems. Und fünf Jahre vor dem Ende dieses Jahrhunderts, das so viel Tote, so viel Not und so viel Leid gesehen hat, wissen wir besser als je zuvor eine Generation, dass solches Denken unserem Kontinent und unseren Völkern nur Unglück gebracht hat. Für uns Deutsche heißt das auch: Für uns gibt es keine Politik mit anderen zu Lasten unseres polnischen Nachbarn!
Europäische Einigung kann ohne stabile bilaterale Beziehungen guter Nachbarschaft keine Dynamik entfalten. Wir können stolz auf das zwischen unseren beiden Ländern bereits Erreichte sein. Am deutlichsten wird der nahezu revolutionäre Wandel in der Zusammenarbeit unserer Streitkräfte. Wer hätte sich vor wenigen Jahren vorstellen können, dass deutsche, französische und polnische Soldaten zusammen üben? Im Oktober des vergangenen Jahres wurde dies Wirklichkeit.
Die Anwesenheit polnischer Offiziere in der Führungsakademie in Hamburg und deutscher Offiziere auf der polnischen Generalstabsakademie bezeichnen wir heute als Normalität. Was für einen Weg haben wir zurückgelegt! Patenschaften, Besuche und gemeinsame Übungen in Polen und für Friedensmissionen zeigen den Beginn einer neuen Ära.
Der Stolz über das Erreichte soll uns anspornen, nicht nachzulassen. Die Begegnung mit dem Nachbarn ist die Grundvoraussetzung für wachsendes Vertrauen. Wir haben das Deutsch-Polnische Jugendwerk, das schon viele junge Menschen zusammengebracht hat. Es wäre gut, wenn auch von diesem Besuch die Botschaft ausginge, dass wir bei allen Notwendigkeiten des Sparens in unseren Haushalten die notwendigen Mittel fänden, damit sein Auftrag erfüllt werden kann.
Für mich ist das Deutsch-Polnische Jugendwerk eine Wiederholung der einzigartigen Chance und des einzigartigen Erfolgs des Deutsch-Französischen Jugendwerks. Dort kamen in 30 Jahren Millionen junger Deutscher und Franzosen zusammen. Das muss bei gutem Willen und gemessen an den Mitteln, die wir für anderes ausgeben, auch zwischen Deutschen und Polen möglich sein.
Zusammenkommen heißt auch Grenzüberschreitung. Der Blick auf die deutsch-polnische Zusammenarbeit verengt sich häufig auf die schwierige Lage an den Grenzübergängen. Die Wartezeiten im Warenverkehr, an Feiertagen sind unerträglich. Die explosionsartige Zunahme des Verkehrs bedeutet eine ungeheure materielle und personelle Herausforderung. Deswegen haben wir noch einmal heute darüber gesprochen, Herr Ministerpräsident, dass wir das Menschenmögliche tun und die Mittel und die Ressourcen bereitstellen, um diesen absolut unmöglichen Zustand so schnell wie möglich zu beenden, denn eine dynamische Wirtschaftsentwicklung ist abhängig vom schnellen Zugang zu anderen Märkten.
Bei alledem kommt dem Grenzraum zwischen Polen und Deutschland an Oder und Neiße eine wichtige Funktion zu. Diese Außengrenze der Europäischen Union muss sich zu einem Raum der Zusammenarbeit entwickeln. Dies erleichtert auch die gewünschte Integration Polens in die Europäische Union.
Wir haben auch darüber gesprochen, dass wir zu einer engen Zusammenarbeit im Wirtschaftsbereich, insbesondere im Bereich von Firmen an der Ostgrenze Polens, kommen sollten. Eine enge Zusammenarbeit und entsprechende Ergebnisse haben wir schon in anderen Bereichen. Ich will hier ausdrücklich der deutsch-polnischen Raumordnungskommission für ihre Arbeit danken. Die Europäische Kommission zählt heute diese polnisch-deutsche Zusammenarbeit zu den wichtigsten Erfolgen grenzüberschreitender Raumplanung in Europa.
Ein ganz entscheidendes Element guter Nachbarschaft sind die kulturellen Beziehungen. Ich sehe mit einer gewissen Sorge oder, besser gesagt, mit einem gewissen Missfallen, dass in der aktuellen Diskussion der Weltpolitik aus naheliegenden Gründen die ökonomischen Fragen Vorrang haben. Doch wenn wir auf dem Weg in die Zukunft vergessen, dass der Mensch eben nicht vom Brot allein lebt, sondern dass die kulturellen Beziehungen, die Beziehungen der Menschen auch in jenem Bereich, in dem nicht nur der Verstand, sondern auch das Herz angesprochen wird, von größter Bedeutung sind, dann wissen wir, wie wichtig es ist, die kulturellen Beziehungen zwischen Deutschen und Polen weiter auszubauen. Wir wissen, die Dinge haben sich auch hier positiv entwickelt.
Aus deutscher Sicht ist der Austausch von Studenten und Wissenschaftlern mit keinem Staat Mittel- und Osteuropas so intensiv wie mit dem Nachbarn Polen. Ich freue mich ganz besonders auf die Chance, übermorgen in Krakau mit Studenten der dortigen Universität zu diskutieren.
Deutsche und Polen haben einander in Kultur, in Literatur und Musik viel gegeben. Wenn wir über deutsch-polnische Geschichte sprechen, sollen wir immer auch an diese wichtigen Kapitel anknüpfen. In Deutschland gibt es schon seit vielen Jahren ein großes Interesse am polnischen kulturellen Leben. Die Kompositionen Pendereckis. die Filme von Andrzej Wajda, die Bücher von Andrzej Szczypiorski und vielen anderen haben ein begeistertes Publikum in Deutschland gefunden.
Und wie eng die Beziehungen seit vielen Jahrhunderten sind, erkennen wir auch daran, dass im 14. Jahrhundert die Gründung der Universität Krakau und die Gründung meiner Heimatuniversität Heidelberg nahezu zeitgleich erfolgten, nur wenige Jahre nach Gründung der Universität Prag. Das Bewusstsein für diese Gemeinsamkeit soll auch die Arbeit des Deutschen Historischen Instituts in Warschau prägen, das im vergangenen Jahr seine Tätigkeit aufgenommen hat.
Wir haben nur gemeinsam eine gute Zukunft. Und deswegen lautet meine Botschaft, dass es unser Wunsch, mein Wunsch ist. dass in einer sehr nahen Zukunft - unter „naher Zukunft" verstehe ich dieses Jahrzehnt - Polen seinen Weg in die Europäische Union findet und sein Sicherheitsbedürfnis in der NATO erfüllt wird. Wir wollen auf diesem Weg hilfreich sein, weil es sich lohnt, für eine sichere und glückliche Zukunft in einem vereinten Europa einzutreten. Dies schulden wir den Generationen unserer Kinder und Enkel.
Mit einem Wort an die junge Generation in Polen will ich schließen. Als ich hier ankam, war protokollgerecht eine Ehrenkompanie Ihrer Armee angetreten. Sie kennen die Wehrpflicht, wie bei uns handelt es sich um junge zwanzigjährige Männer. Als ich diese jungen Leute sah, dachte ich einen Moment darüber nach, was es wohl bedeutet, 20 Jahre alt zu sein in einem Augenblick, wo wir das Tor zur europäischen Integration weit aufstoßen, auch für junge Polinnen und Polen.
Wer heute 20 Jahre alt ist, hat nach der statistischen Lebenserwartung eine gute Chance, das Jahr 2050 zu erleben, die Mitte des kommenden Jahrhunderts. Wer dies jetzt hört, der mag vielleicht mit mir einen Augenblick darüber nachdenken, wie junge Polen im Jahre 1950 oder wie der damals zwanzigjährige Helmut Kohl die Zukunft gesehen haben: Wir konnten nur träumen, dass es einmal anders werden würde. Und sehen Sie, es ist anders geworden!
Diese jungen Deutschen oder Polen, die jetzt 20 Jahre alt sind, gehören der ersten Generation der modernen Geschichte unserer Völker an, die eine gute Chance haben, zeit ihres Lebens keinen Krieg mehr zu erleben. Und wann je konnte man das jungen Leuten in Europa sagen? Wenn das so ist, dann lassen Sie sich nicht zu sehr davon beeindrucken, wie schwer es ist auf dem Weg nach Europa, wie schwer es ist, in den Zollverhandlungen das Richtige zu tun, wie schwer es ist, die richtige Regelung für Arbeitnehmer zu finden, die zwischen den Ländern hin- und herpendeln. Denn das Wichtigste ist doch die Botschaft, dass junge Polen und junge Deutsche, dass junge Europäer in dem jetzt bald beginnenden 21. Jahrhundert gemeinsam in einem vereinten Europa, in einem gemeinsam gebauten europäischen Haus leben werden.
Vor 164 Jahren hieß es in meiner Heimat beim Hambacher Fest aus dem Munde junger Franzosen, Deutscher und Polen: „für Eure und für unsere Freiheit". Diesem Ziel wollen wir dienen. Und dies soll meine Botschaft hier an Sie, meine Damen und Herren Abgeordneten, sein und an unsere Zuhörer und an alle Hörer in dieser Stunde in Polen. Das wünsche ich mir - und Gottes Segen für unsere Völker.
Quelle: Bulletin des Presse- und Informationsamts der Bundesregierung Nr. 58 (14. Juli 1995).