6. Juni 1993

Ansprache anlässlich der Wiedereinweihung des Berliner Doms

 

Verehrte Festversammlung, meine Damen und Herren,

es ist eine große Freude für mich, an diesem Trinitatis-Sonntag gemeinsam mit Ihnen die Wiedereinweihung des Berliner Doms feiern zu können. Dies ist - trotz aller Bedenken und Anmerkungen, die zu Recht und auch zu Unrecht gemacht werden - ein großes, ein herausragendes Ereignis für die Evangelische Kirche, für unsere Hauptstadt Berlin und für unser Land. Mit dem Dom gewinnt Berlin ein wichtiges Bauwerk zurück. Nicht nur die Berliner, alle Deutschen erhalten auch ein Stück Geschichte wieder.

Vor 49 Jahren, am 24. Mai 1944, wurde der Dom bei einem Luftangriff schwer getroffen. 30 Jahre lang stand er als rußgeschwärzte Ruine im Herzen der Stadt. Das benachbarte Stadtschloss wurde in einem Akt beispielloser kultureller Verwüstung von der kommunistischen Diktatur gesprengt. Die Machthaber, die sich damit an der deutschen Geschichte vergingen, verschonten auch Kirchen nicht. Vor erst 25 Jahren sprengten sie auch die völlig unversehrte Leipziger Universitätskirche.

Es ist der Evangelischen Kirche Deutschlands zu danken, dass sie schon in den siebziger Jahren gemeinsam mit der Bundesregierung erhebliche materielle Mittel bereitstellte. So konnte der Wiederaufbau des Doms beginnen.

Als der bei weitem größte Kirchenbau Berlins, als eine der größten protestantischen Kirchen in Deutschland, Ist der Berliner Dom ein bedeutendes Symbol für die Fortwirkung der christlichen Tradition in unserem Land. Er symbolisiert zugleich den Zusammenhalt der Christen in Ost und West. Dieser war zur Zeit der staatlichen Teilung ein wichtiges einigendes Band.

Es gibt keinen Ausstieg aus der eigenen Geschichte. Wir können uns nicht die uns genehmen Epochen aussuchen und die anderen verdrängen. Wir stellen uns der Geschichte. Sie beginnt nicht im Jahre 1945, und sie darf auch nicht auf die zwölf Jahre zwischen 1933 und 1945 verkürzt werden. Mit der heutigen Wiedereinweihung des Berliner Doms wird nicht unreflektiert an Vergangenes angeknüpft. Der Dom, dessen Geschichte bis in das 15. Jahrhundert zurückreicht, lädt zu einer Rückschau ein.

Der 1894 an dieser Stelle begonnene Bau Raschdorffs war der dritte Bau an diesem Ort. Vorhergehende Bauten von Boumann und Schinkel waren im vorigen Jahrhundert als unzureichend empfunden worden. Denn Preußen und das häufig als „verspätete Nation" bezeichnete Deutsche Reich wollten in ihrer Metropole mit Paris, London, Wien und St. Petersburg Schritt halten.

In der Planungsgeschichte des Doms spiegelt sich so unsere deutsche Geschichte wider mit ihren Höhen und Tiefen, in Anspruch und Wirklichkeit, in Kontinuitäten und Brüchen. Sie zeigt auch, wie monarchische und bürgerliche Auffassungen von Staat und Nation verschiedenartige Dombauwerke anstrebten. Sie dokumentiert auch die Rolle des Hauses Hohenzollern in der deutschen Geschichte.

Der Dom ist ein Monument des Historismus, der als Stilepoche in Ost und West unseres Landes lange Zeit nahezu verfemt war - obwohl in anderen europäischen Ländern um die Jahrhundertwende doch ähnlich gebaut wurde. Wie andere Bauwerke von damals muss er aus seiner Zeit heraus verstanden werden.

Welche Kontroversen der Dom auch ausgelöst hat - und welche Architektur wäre nicht kontrovers? -, er gehört zum Stadtbild der alten und neuen Hauptstadt, er macht einen Teil ihrer Mitte aus. Vor 88 Jahren, am 27. Februar 1905, wurde der Dom eingeweiht. Das Kaiserreich stand im Zenit. Die Bauten jener Zeit sind Sinnbild von Zuversicht und oft naivem Fortschrittsglauben. Doch nur neun Jahre später begann der Erste Weltkrieg, die Lichter in Europa gingen aus, die Throne in Deutschland stürzten. In der Weimarer Republik blühte Berlin als kulturelle Metropole Europas in neuem Glanz, bis die Lichter von neuem erloschen. Die nationalsozialistische Diktatur und der Zweite Weltkrieg ließen Deutschland in Schutt und Asche versinken. Unser Volk und unser Land wurden geteilt.

Die Wiedereinweihung des Berliner Doms am heutigen Tage lässt uns bewusst werden, welche große Chance uns die Geschichte noch einmal gegeben hat. Die Einheit unseres Vaterlands und dieser Stadt Berlin sind ein Geschenk, für das wir Gott dankbar sind. Wir dürfen dieses Geschenk nie wieder mit Vermessenheit verspielen.

Diesem Dom, der Stadt und unserem Land wünsche ich Gottes Segen.

Quelle: Bulletin des Presse- und Informationsamts der Bundesregierung Nr. 50 (11. Juni 1993).