6. Juni 1998

Rede auf dem 26. Bundestreffen der Landsmannschaft der Deutschen aus Russland in Stuttgart

 

Sehr geehrter Herr Bundesvorsitzender,
lieber Herr Schäuble,
Herr Oberbürgermeister,
liebe Frau Steinbach,
meine sehr verehrten Damen und Herren Abgeordnete,
vor allem: liebe Landsleute,

 

bevor ich zu meinem eigentlichen Thema komme, erlauben Sie mir ein sehr persönliches und herzliches Wort an Sie, liebe Frau Czaja, zu richten: Ich freue mich sehr, daß Sie hier sind. Ihr Mann hat das Leben eines großen Patrioten geführt. Herbert Czaja hat sein persönliches Schicksal und das seiner Familie nie vergessen, aber er war ein Mann des Friedens, ein Mann des Ausgleichs; er war ein Brückenbauer. Er hat in schwierigen Zeiten mitgeholfen, daß - bei aller verständlichen Bitterkeit über erlittenes Unrecht - nicht das Gefühl der Rache aufkam, sondern der Wille zum Miteinander. Er hat diese christliche Pflicht selbst gelebt. Zugleich war er ein leidenschaftlicher Kämpfer für die wohlverstandenen Interessen der Vertriebenen.

 

Er war in gewissem Sinne ein unbequemer Mann. Er hat sich nicht dem Zeitgeist gebeugt, der ständig danach schaut, wie die nächste Umfrage aussieht. Er hat Vertrauen erworben, weil er seine Überzeugung geradlinig vertreten hat. Das ist das Beste, was man von einem Mann sagen kann.

 

Liebe Landsleute, ich bin heute sehr gern zu Ihnen gekommen und möchte damit ein klares Zeichen setzen: Die Bundesregierung steht ohne Wenn und Aber an der Seite der Rußlanddeutschen. Unser Freund Horst Waffenschmidt ist der lebende Beweis dafür, daß diese Politik für uns eine Herzenssache ist. Wir haben allen Grund, ihm für seine unermüdliche Arbeit herzlich zu danken!

 

Ich freue mich, daß Sie in so großer Zahl hier in Stuttgart zusammengekommen sind. Wir alle wissen, daß ein solches Treffen noch vor zehn Jahren undenkbar gewesen wäre. Damals bestand noch das sowjetisch-kommunistische Imperium. Damals verhandelten wir noch mit der sowjetischen Führung über die Möglichkeit einer erleichterten Ausreise für Rußlanddeutsche in die Bundesrepublik. Ich kann mich noch sehr gut daran erinnern, wie zäh sich diese Verhandlungen gestalteten. Die Ergebnisse konnten damals kaum befriedigen. Aber mit großem persönlichem Einsatz ist es doch gelungen, so manche menschliche Erleichterung für die Betroffenen durchzusetzen, und zwar ohne - und das war entscheidend - daß wir die Grundsätze und Ziele unserer Politik aufgegeben hätten.

 

Es ist meine Lebenserfahrung in vielen Jahren politischer Verantwortung, daß in der Politik - wie übrigens im Privatleben auch - das Einhalten von Prinzipien der einzig richtige Weg zum Erfolg ist. Die Standfestigkeit unserer Politik hat sich am Ende ausgezahlt: Der Kommunismus ist zusammengebrochen, der Ost-West-Konflikt gehört der Vergangenheit an. Für die Rußlanddeutschen sind die Grenzen offen. Auch daran zeigt sich, liebe Landsleute, daß die Visionäre mit Überzeugungskraft die wahren Realisten der Geschichte sind. Ein langgehegter Traum ist in Erfüllung gegangen. Wir Deutschen haben die Wiedervereinigung unseres Vaterlandes in Frieden und Freiheit erreicht, und zwar mit Zustimmung all unserer Nachbarn. Seither konnten auch Hunderttausende unserer Landsleute aus Rußland nach Deutschland kommen. Wir danken all jenen, die den Weg dazu eröffnet haben, namentlich Boris Jelzin sowie anderen Staats- und Regierungschefs der Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion.

 

Liebe Landsleute, im Namen der Bundesregierung rufe ich Ihnen zu: Wir sind froh und dankbar dafür, daß Sie zu uns kommen konnten! Sie alle sind ein Gewinn für unser deutsches Vaterland. Sie helfen mit, Deutschland auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts gut vorzubereiten. Dafür gilt Ihnen unser aller Anerkennung.

 

Ich möchte gerade auch der Landsmannschaft der Rußlanddeutschen ein herzliches Wort des Dankes sagen. Das Motto Ihres Treffens "Einigkeit macht stark" ist gut gewählt. Leider ist es bei manchen unserer Zeitgenossen heute etwas in Vergessenheit geraten. Ich danke Ihnen, Herr Bundesvorsitzender Reiss, Ihren Mitstreitern im Bundesvorstand, den Hauptamtlichen und den vielen, vielen Ehrenamtlichen, die überall in Deutschland unterwegs sind, um zu helfen. Sie helfen anderen, sich auf veränderte Lebensbedingungen einzustellen.

 

Sie bringen die Bereitschaft mit, sich auf veränderte Bedingungen und Verhältnisse einzustellen. Sie alle wollen etwas schaffen, etwas aufbauen. Nur mit dieser Einstellung läßt sich die Zukunft gewinnen!

 

Gleichzeitig haben Sie sich die Liebe und Verbundenheit zur Heimat in einem Maße bewahrt, wie es auch für andere vorbildlich ist. Aus den musikalischen Darbietungen, die wir hier eben gehört haben, konnte man das auch heraushören. Ebenso haben im Denken und Handeln der Rußlanddeutschen nach wie vor Werte und Tugenden Bestand, die für den Zusammenhalt unserer Gesellschaft unverzichtbar sind. Schon die Eröffnung dieses Bundestreffens mit einem gemeinsamen Gottesdienst heute morgen und der Beginn dieser Feierstunde soeben - mit einem Gebet - entsprechen einer großen Tradition. Die sollten wir beibehalten und an die junge Generation weitergeben.

 

Darüber hinaus bilden Sie, liebe Landsleute, eine Brücke in Gebiete der ehemaligen Sowjetunion - eine Brücke, die wir heute für einen gedeihlichen wirtschaftlichen, kulturellen und menschlichen Austausch nutzen können. Solche zwischenmenschlichen Beziehungen sind eine solide Grundlage für die Zusammenarbeit der Völker im Europa der Zukunft. Im Haus Europa, das wir heute bauen, brauchen wir enge Verbindungen auch zu den Staaten Mittel-, Ost- und Südosteuropas.

 

Wie noch nie in unserer Geschichte haben wir Deutsche heute exzellente, ja herzliche Beziehungen gleichzeitig zu Washington, Paris, London und Moskau. Was dies bedeutet, habe ich erst vor einigen Tagen wieder ganz konkret erfahren, als mich nach dem schrecklichen Unglück von Eschede die herzlichen und persönlichen Botschaften von Bill Clinton, Jacques Chirac, Tony Blair und Boris Jelzin erreichten.

 

Gerade die deutsch-russischen Beziehungen sind heute besser als jemals zuvor in der Geschichte. Übermorgen wird Präsident Jelzin nach Bonn kommen. Unser Treffen ist das erste im Rahmen der regelmäßigen deutsch-russischen Regierungskonsultationen, die wir miteinander vereinbart hatten. An den bevorstehenden deutsch-russischen Konsultationen werden Horst Waffenschmidt und der stellvertretende russische Nationalitätenminister, Herr Bauer, teilnehmen, den ich hier auch herzlich begrüßen darf. Wir werden selbstverständlich mit aller Offenheit auch die Frage der deutschen Minderheit in Rußland ansprechen. Ich habe mich stets für die berechtigten Anliegen der Rußlanddeutschen eingesetzt. Wir haben manches erreicht, aber es ist noch eine Menge zu tun.

 

Liebe Landsleute, das Europa, das wir jetzt gemeinsam bauen, ist die beste Voraussetzung für Frieden und Freiheit im 21. Jahrhundert. Dazu gehört natürlich auch, daß sich nationale Minderheiten und Volksgruppen frei und ohne Diskriminierungen entfalten können. Am Ende des 20. Jahrhunderts, das so viel Not und Elend gesehen hat, sind wir dabei, die Fundamente für Frieden und Freiheit auf unserem gesamten Kontinent dauerhaft zu sichern. Dabei tun wir gut daran, uns immer wieder an die Lehren der Geschichte zu erinnern. Auch hierzu können Sie als Rußlanddeutsche einen wichtigen Beitrag leisten.

 

Noch heute leiden viele Rußlanddeutsche und ihre Kinder an den Folgen von Verbannung, Zwangsarbeit und Not, die ihnen die kommunistische Diktatur auferlegt hatte. Das gilt vor allem für die Zeit der Schreckensherrschaft Stalins: 1941 wurden die Rußlanddeutschen von der kommunistischen Führung in Moskau gleichsam über Nacht von der Wolga und aus der Südukraine verschleppt und in die asiatischen Teile der ehemaligen Sowjetunion verbannt. Jahrzehntelang durften sie die geschlossenen Städte, in denen sie unterdrückt wurden, nicht verlassen. Sie mußten ein schweres Schicksal erleiden, nur weil sie Deutsche waren - und es auch bleiben wollten. Die Rußlanddeutschen haben in Rußland unschuldig für einen Krieg büßen müssen, den ein verbrecherisches Regime in Deutschland entfesselt hatte.

 

Heute haben Sie deshalb einen besonderen Anspruch auf unsere Treue und Solidarität. In Leipzig war 1989 auf den Transparenten zu lesen: "Wir sind ein Volk." Das gilt in guten wie in schlechten Tagen. Wenn man wie ich das Glück hatte, nach 1945 im freien Teil Deutschlands zu leben, dann hat man auch die Pflicht, an jene zu denken, die dieses Glück nicht hatten. Und das bedeutet für mich im Hinblick auf die Rußlanddeutschen: Das Tor nach Deutschland muß für sie offenbleiben. Ebenso deutlich will ich hier aber auch aussprechen: Wer hierher kommen will, muß natürlich die Voraussetzungen nach unseren Gesetzen erfüllen. Wer diese Voraussetzung erfüllt, soll selbst entscheiden können, ob er in seiner heutigen Heimat bleiben will, oder ob er nach Deutschland aussiedeln möchte.

 

Als deutsche Bundesregierung wollen wir im Rahmen unserer Möglichkeiten jenen Rußlanddeutschen helfen, die im Gebiet der ehemaligen Sowjetunion leben und dort auch in Zukunft bleiben wollen. Die betroffenen Menschen setzen darauf, daß wir in Deutschland zuverlässige Partner bleiben. Aus diesen Gründen hat die Bundesregierung alle Initiativen abgelehnt, die das bestehende Aussiedlerrecht in Frage stellen.

 

Insbesondere wäre es ein folgenschwerer Fehler, das Kriegsfolgenbereinigungsgesetz von 1993 zu ändern, wie es kürzlich von der SPD-geführten Mehrheit im Bundesrat beantragt worden ist. Ich empfinde es als bedrückend, daß ausgerechnet die Landesregierung von Rheinland-Pfalz - mein Heimatland, dem ich viele Jahre als Ministerpräsident dienen konnte - diesen Antrag im Bundesrat gestellt hat. Denn dies entspricht überhaupt nicht den Traditionen und dem Denken der Menschen am Rhein.

 

All diejenigen, die einmal das unvergeßliche Stück "Des Teufels General" von Carl Zuckmayer gelesen haben, wissen, daß die Menschen dort - in dieser "Völkerschmiede" - seit langer Zeit gut miteinander gelebt haben. Wer den Rußlanddeutschen das gemeinschaftliche Kriegsfolgenschicksal absprechen will, der fällt ihnen in den Rücken: Denn ein solcher Schritt - das ist die eigentliche Intention des Antrages - würde die Tür nach Deutschland für sie praktisch verschließen.

 

Und noch aus einem weiteren Grund ist dieser Antrag falsch: Die russische Regierung bemüht sich immer noch darum, eine abschließende Rehabilitierung der Rußlanddeutschen herbeizuführen. Daß dies kein einfaches Unterfangen ist und es auch ganz andere Kräfte in Moskau gibt, muß doch jeder wissen. Da sollten wir jetzt nicht in Deutschland beschließen, daß die Rußlanddeutschen gar kein gemeinschaftliches Kriegsfolgenschicksal mehr haben. Das hätte katastrophale Folgen für die Betroffenen. Die von mir geführte Bundesregierung wird für solche oder ähnliche Initiativen niemals ihre Hand reichen.

 

Meine Damen und Herren, die Bundesregierung wird die deutschen Siedlungsschwerpunkte in den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion weiterhin besonders fördern. Wir haben uns nachdrücklich dafür eingesetzt, daß die Staatlichkeit für die deutsche Volksgruppe in Rußland wiederhergestellt wird. Dieses Ziel wurde bisher nicht erreicht, aber andere Initiativen waren schon erfolgreich.

 

In Westsibirien, wo heute die meisten Rußlanddeutschen in einer Region zusammenleben, wurden zwei deutsche Rayons errichtet. Seit Ende 1997 gibt es in Rußland die "Deutsche Kulturautonomie". Dadurch wird den Rußlanddeutschen rechtlich zugesichert, daß sie ihre kulturelle Identität wahren können. Diese Chance gilt es jetzt zu nutzen. Auch das "Präsidentenprogramm" von Boris Jelzin für die Rußlanddeutschen aus dem Jahre 1997 ist ein wesentlicher Schritt nach vorn. Wir wollen dabei nach Kräften mithelfen.

 

In Rußland und Kasachstan, in der Ukraine, in Usbekistan und Kyrgystan existieren inzwischen mehrere Hundert rußlanddeutsche Begegnungsstätten. Sie sind ein Angebot an die Rußlanddeutschen für die Pflege ihres Gemeinschaftslebens. In zahlreichen Gebieten der Rußlanddeutschen wird diese kulturelle Breitenarbeit durch humanitäre Hilfe ergänzt, so zum Beispiel bei der Ausstattung von Krankenhäusern und Sozialstationen.

 

Häufig werden in den Begegnungsstätten - das ist mir besonders wichtig - außerschulische Deutschkurse angeboten. Für alle Rußlanddeutschen ist die deutsche Sprache von größter Bedeutung. Ohne ihre Kenntnis könnten sie ihre kulturelle Identität als deutsche Volksgruppe auf Dauer nicht bewahren. Deswegen fördern wir auch im großen Umfang außerschulische Deutschkurse.

 

Horst Waffenschmidt hat mich soeben noch einmal daran erinnert: Durch unsere Sprachoffensive konnten bis Ende 1997 in fast 650 Orten Rußlands und Kasachstans über 6000 außerschulische Deutschkurse mit gut 100000 Teilnehmern durchgeführt werden. Unser Ziel ist es, die Zahl der Orte, in denen solche Kurse angeboten werden, im laufenden Jahr auf 1000 zu erhöhen. Allen, die zur Vermittlung der deutschen Sprache und damit unserer Kultur einen Beitrag leisten, möchte ich ein herzliches Wort des Dankes sagen. Wir alle sollten sie unterstützen und ermutigen, in ihren Bemühungen nicht nachzulassen - so schwierig die Verhältnisse vor Ort auch sein mögen.

 

Meine Damen und Herren, für die Integration der Rußlanddeutschen, die zu uns nach Deutschland kommen, ist die Beherrschung der deutschen Sprache unerläßlich. Es reicht aber nicht aus, Deutschkenntnisse zu besitzen oder zu erlernen. Es kommt entscheidend darauf an, Deutsch auch tatsächlich untereinander zu sprechen. Viele Rußlanddeutsche werden bei uns oft nicht als Landsleute anerkannt, weil sie hier in der Bundesrepublik weiter überwiegend russisch sprechen. Verständlicherweise empfinden Rußlanddeutsche eine solche Erfahrung als kränkend. Sie wollen als Deutsche angesprochen und angenommen werden. Dafür müssen wir alle - wie Sie, Herr Reiss, zu Recht gesagt haben - das Notwendige tun.

 

Das gilt auch für den Staat. Die Bundesregierung stellt weiterhin erhebliche Integrationshilfen für jene Rußlanddeutschen bereit, die zu uns in die Bundesrepublik kommen. 1998 sind es rund 1,5 Milliarden D-Mark allein für Deutschkurse und für Eingliederungshilfen. Für diese Hilfen stehe ich auch ganz persönlich ein. Dies gehört für mich zur Berechenbarkeit und Verläßlichkeit der deutschen Aussiedlerpolitik.

 

Gerade in einer Zeit, in der viele mit dem Neid in primitivster Weise politische Geschäfte machen, wehre ich mich mit aller Entschiedenheit gegen das Vorurteil, die Aussiedler bekämen zu viele Sonderhilfen unseres Staates. Aussiedler haben grundsätzlich die gleichen Rechte und Pflichten wie alle anderen Deutschen. Aber sie brauchen besondere Unterstützung - etwa die Hilfen bei den Deutschkursen, Eingliederungshilfen des Bundes anstelle von Sozialhilfezahlungen der Gemeinden für sechs Monate, im wesentlichen während der Sprachkurse, und die Entschädigung für erlittene Nachteile in Arbeitslagern oder in der Haft. Diese Hilfen sind notwendig und richtig. Sie können sich darauf verlassen, daß wir diese Politik fortsetzen werden!

 

Meine Damen und Herren, unsere besondere Aufmerksamkeit müssen wir den jungen Rußlanddeutschen zuwenden. Der Oberbürgermeister hat das Thema soeben in einer sehr klugen Weise angesprochen. Er ist - wie auch Thomas Schäuble - ein Mann, der jeden Tag mit den Problemen vor Ort zu tun hat. Das ist etwas ganz anderes, als ob man in einer Feierstunde darüber redet. Deswegen will ich nachdrücklich unterstützen, was hier gesagt wurde.

 

Die jungen Leute, die aus Rußland kommen, haben eine ganz andere Lebenserfahrung als die jungen Menschen, die in Deutschland aufgewachsen sind. Sie finden hier eine völlig neue Lebenssituation vor. Für sie ist die Aussiedlung aus ihrer bisherigen Heimat oft ein tiefgreifender wirtschaftlicher und sozialer Einschnitt. Aber mindestens ebenso wichtig ist das Immaterielle, das Emotionale - das, was sie in ihrem Herzen bewegt. Sie können vieles hier gar nicht verstehen, weil sie die Vorgeschichte nicht kennen. Auch ihre Eltern kennen sie häufig nicht. Deswegen müssen diese jungen Menschen viele Erfahrungen bei uns erst selbst machen.

 

Es ist deswegen selbstverständlich, daß wir nicht nur über Solidarität reden, sondern sie ganz praktisch leben. Wir alle müssen dafür Sorge tragen, daß die jungen Rußlanddeutschen sich bei uns bald heimisch fühlen, daß sie in ihren Schulklassen, in Sportvereinen oder wo immer sonst Begegnung stattfindet, angenommen werden, kurz: daß sie in unserer Gesellschaft Wurzeln schlagen können.

 

Die Bundesregierung hat deshalb zahlreiche gezielte Finanzhilfen und konkrete Initiativen eingerichtet. Eine davon möchte ich besonders hervorheben: die Aktion "Sport mit Aussiedlern". Unter diesem Motto wurden zwischen der Bundesregierung und dem Deutschen Sportbund gute Vereinbarungen getroffen. Die Landessportbünde und zahlreiche Sportvereine erfüllen diese Absprachen vor Ort mit Leben. Inzwischen gibt es im Rahmen dieses Projekts über 4000 Einzelmaßnahmen. Das ist eine hervorragende Sache!

 

Ich möchte die Eltern und Lehrer jugendlicher Aussiedler ermutigen, solche Möglichkeiten rege zu nutzen. Gerade junge Menschen brauchen Halt und Orientierung, sie brauchen eine Gemeinschaft, in der sie ihre Dynamik und ihre Spontaneität einbringen können. Gerade der Sport kann hier Vorbildliches leisten. Die Jungen brauchen Hilfe und Unterstützung. Sie sind unsere Zukunftschance.

 

Ich möchte hier allen Mitbürgerinnen und Mitbürgern herzlich danken, die sich in Sport, Kirchen und Sozialverbänden, in Wirtschaft und Gewerkschaften tatkräftig für die Integration gerade auch der jüngeren Aussiedler einsetzen. Und meine Bitte ist: Tun Sie nicht nur Gutes, sondern reden Sie auch darüber - damit das gute Beispiel auch andere ermutigt.

 

Meine Damen und Herren, als Rußlanddeutsche fühlen Sie sich zu Recht als Deutsche, die nach Deutschland gekommen sind, um unter Deutschen zu leben. Ich bin froh, daß dies so ist. Ich bitte Ihre Landsmannschaft herzlich: Lassen Sie in Ihrem Engagement nicht nach! Helfen Sie den Rußlanddeutschen, die zu uns kommen, auch weiterhin, in Deutschland ein wirkliches Zuhause zu finden! Und helfen sie weiter mit, Partnerschaften zwischen der Bundesrepublik und den deutschen Siedlungsschwerpunkten in Rußland zu bauen. Hier können viele neue Brücken der Freundschaft und der Zusammenarbeit entstehen. So können Sie mithelfen, viele Menschen einander näherzubringen.

 

Gerade Sie als Rußlanddeutsche wissen um die einmalige Chance, die sich uns Deutschen in der veränderten Welt, an der Schwelle zum 21. Jahrhundert, bietet. Sie sagen - auch aus Ihrem Glauben heraus - ja zur Zukunft. Sie wollen die Zukunft gewinnen - für sich, für Ihre Angehörigen, für Ihre Familien und vor allem für Ihre Kinder.

 

Wir wollen das Schreckliche der Vergangenheit nicht vergessen - das wäre ganz falsch. Wir wollen die dadurch entstandenen Probleme nicht "unter den Teppich kehren". Aber wir wollen aus der Geschichte lernen. Wir wollen nach all dem Schlimmen, was geschehen ist, jetzt gemeinsam eine friedliche Zukunft bauen.

 

Das zu Ende gehende Jahrhundert zerfällt für uns Deutsche in zwei Hälften: In der ersten Hälfte hat unser Volk zwei Weltkriege und zwei Diktaturen, eine braune und eine rote, erlebt. Die zweite Hälfte jedoch hat uns viel Glück gebracht - am Ende auch die gemeinsame Freiheit. Die Deutschen sind heute überall gern gesehene Partner. Wir tragen Mitverantwortung für den Frieden in der Welt. Wir gehören - trotz aller Sorgen - zu den reichsten Völkern dieser Erde. Es geht heute darum, daß wir Menschlichkeit und Offenheit leben, daß in unserem Land Ausländerfeindlichkeit keine Chance hat, und es geht darum, daß wir wissen: Dies ist eine Welt, und wir tragen dafür unsere Verantwortung - auch indem wir einander helfen.

 

Was ich in diesen Tagen angesichts des schrecklichen Zugunglücks in Eschede erlebt habe, zeigt ein Maß an Hilfsbereitschaft, Spontaneität und Miteinander, das zu den besten Traditionen unseres Volkes gehört. Was wir im letzten Sommer beim Hochwasser im Oderbruch erlebt haben, gehört ebenfalls dazu. Das ist doch auch Wirklichkeit unseres Landes! Darüber müssen wir mehr sprechen. Im Rahmen seiner Möglichkeiten kann jeder einen Beitrag dazu leisten, daß unser Land menschlicher und sympathischer wird.

 

Ich möchte Sie einladen, dabei mitzumachen. Wir haben allen Grund zu Dankbarkeit und Zuversicht. Gemeinsam haben wir mehr erreicht, als wir noch vor zehn Jahren zu hoffen wagten. Mit Dankbarkeit, Zuversicht und im Vertrauen auf Gottes Hilfe wird es uns auch gelingen, gemeinsam eine gute Zukunft in Frieden und Freiheit zu gestalten. Uns allen wünsche ich auf diesem Weg Glück und Gottes Segen!

 

 

 

Quelle: Bulletin der Bundesregierung. Nr. 46. 25. Juni 1998.