6. November 1991

Regierungserklärung zum Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs der NATO in Rom sowie zur EG-Konferenz in Maastricht

 

Wir stehen in diesem Herbst vor zwei Gipfelbegegnungen, deren Beschlüsse für Deutschland und Europa von weit in die Zukunft weisender Bedeutung sein werden: dem Treffen der Staats- und Regierungschefs der NATO am 7. und 8. November in Rom und dem Europäischen Rat am 9. und 10. Dezember in Maastricht.

Wir wollen in diesen Tagen in Rom einlösen, was wir uns beim letzten NATO-Gipfel in London vorgenommen haben: die Anpassung des Bündnisses an die grundlegenden Veränderungen der letzten Jahre und die umfassende Neugestaltung seiner Politik und seiner Strategie.

Das Bündnis hat sich als Garant von Frieden und Freiheit in ganz Europa erwiesen. Kein Geringerer als Präsident Vaclav Havel hat dies in seiner Rede vor dem NATO-Rat am 21. März 1991 zum Ausdruck gebracht, in der er das Bündnis als „eine durch und durch demokratische Verteidigungsgemeinschaft" charakterisierte, „die wesentlich dazu beigetragen hat, dass dieser Kontinent seit fast einem halben Jahrhundert von Krieg verschont geblieben ist und ein großer Teil Europas vor dem Totalitarismus bewahrt wurde". Jetzt geht es darum, die politische Rolle des Bündnisses noch stärker zu entwickeln. Der bevorstehende NATO-Gipfel in Rom wird dem in einem zukunftsweisenden Konzept gemeinsamer transatlantischer Politik Rechnung tragen.

Gewiss, die alte Bedrohung ist gewichen. Aber neue Risiken und Unwägbarkeiten sind an ihre Stelle getreten. Vorausschauende Sicherheitspolitik ist daher nicht überflüssig geworden. Es wäre leichtfertig, wenn wir die zentrale Aufgabe des Bündnisses aus dem Auge verlieren würden, die da heißt: Krisenbewältigung und Kriegsverhütung. Allein das Bündnis kann letztlich Gefährdungen für unsere Sicherheit, die auch für die Zukunft nicht völlig ausgeschlossen werden können, wirksam begegnen und das wichtige strategische Gleichgewicht in Europa wahren. Das Bündnis ist und bleibt zugleich das wesentliche Forum für Konsultationen und für die Vereinbarung von politischen Maßnahmen, die sich auf die Sicherheits- und Verteidigungsverpflichtungen seiner Mitgliedstaaten im Rahmen des Nordatlantikvertrags auswirken. Diese grundlegenden Funktionen wollen wir in der Gipfelerklärung ausdrücklich bekräftigen.

Zugleich wollen wir deutlich herausstellen: Erstens: Das Bündnis bleibt das unverzichtbare Fundament für ein stabiles sicherheitspolitisches Umfeld in Europa. Zweitens: Die amerikanische Präsenz in Europa ist nicht nur aus militärischen Gründen, sondern auch als Garant politischer Stabilität unerlässlich.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Wir wollen in Rom auch das neue strategische Konzept der Allianz verabschieden, das die grundlegenden politischen Veränderungen in Europa berücksichtigt. Dabei geht es nicht nur um die militärische Komponente der Sicherheit, sondern auch um ihre politische, wirtschaftliche, soziale und nicht zuletzt ihre ökologische Dimension. Die Umsetzung dieser neuen Strategie wird zu einer deutlichen Reduzierung sowohl unserer als auch der verbündeten Streitkräfte in Europa fuhren. Unser Land, Deutschland, hat mit der Festlegung des Umfangs der Bundeswehr auf 370000 Mann seinen Beitrag hierzu schon geleistet. Die Fähigkeit zur gemeinsamen integrierten Verteidigung wird ein ganz wesentliches Element auch der neuen Strategie bleiben. Auf die Entwicklung multinationaler Einheiten wird verstärkt Nachdruck gelegt werden.

Die Rolle der Nuklearwaffen erfährt eine einschneidende Veränderung. Zwar wird die Allianz auch in Zukunft nicht auf nukleare Waffen verzichten können, jedoch wird - dies ist eine positive Entwicklung -ihre Struktur geändert und vor allem die Zahl ganz erheblich reduziert. Insgesamt wird der Bestand an Nuklearwaffen in Europa um etwa 80 % verringert.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Auf deutschem Boden wird es keine landgestützten Nuklearwaffen mehr geben. Diese drastische Abrüstung ist ein eindeutiger Erfolg unserer Politik, deren Ziel bleibt: Frieden schaffen mit weniger Waffen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

In diesen Tagen werden wir in Rom auch darüber zu sprechen haben, wie das Bündnis dem Sicherheitsbedürfnis der neuen Demokratien in Mittel-, Ost- und Südosteuropa Rechnung tragen kann. Die Antwort hierauf ist die Weiterentwicklung des sogenannten Liaison-Konzepts - bis hin zu institutionellen Schritten, wie sie jüngst Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher und sein amerikanischer Kollege Jim Baker vorgeschlagen haben.

In Rom wollen wir ferner unterstreichen, wie wichtig es ist, die KSZE-Strukturen weiterzuentwickeln, damit sie wirksamer als bisher für Krisensteuerung, Streitbeilegung und Konfliktverhütung genutzt werden können. Gemeinsam mit unseren Bündnispartnern werden wir uns für eine frühzeitige Ratifizierung und Anwendung des KSE-Vertrags einsetzen. Wir werden zugleich auf Fortschritte in den laufenden Verhandlungen über Personalreduzierungen und weitere vertrauens- und sicherheitsbildende Maßnahmen drängen. Beide Verhandlungsforen müssen bis zum Helsinki-Folgetreffen im Frühjahr 1992 erfolgreich abgeschlossen werden. Im übrigen wollen wir die Verhandlungen über die Kontrolle der konventionellen Rüstungen in einem neuen Rahmen unter Einschluss aller europäischen Staaten fortführen.

Die jüngste Abrüstungsinitiative von Präsident Bush und die positive Antwort von Präsident Gorbatschow haben die Chancen für weitere Abrüstung, vor allem im Kernwaffenbereich, nachhaltig verbessert. In diesem Zusammenhang ist es von entscheidender Bedeutung, wer in Zukunft die Kontrolle über die sowjetischen Kernwaffen ausüben wird. Es darf hier auf gar keinen Fall neue Unsicherheit entstehen. Wir vertrauen auf die Zusicherung von Präsident Gorbatschow, dass die sowjetischen Kernwaffen auch künftig unter zentraler Kontrolle bleiben. Aber es ist wichtig, dass wir - Bundesregierung und Bundestag - heute auch zum Ausdruck bringen, dass dies ein gemeinsamer Wunsch Deutschlands ist, dass die Garantien wirklich dauerhaft gegeben werden.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP, der SPD und dem Bündnis 90/GRÜNE)

Auf dem NATO-Gipfel wird auch die sicherheitspolitische Rolle Europas ein wichtiges Thema sein. Niemand stellt in diesem Zusammenhang in Frage, dass das Atlantische Bündnis auch in Zukunft von existentieller Bedeutung für Europa bleibt. Das entbindet uns Europäer allerdings überhaupt nicht von der Aufgabe, darüber nachzudenken, welchen spezifischen - vor allem auch politischen - Beitrag wir leisten können, um den neuen Herausforderungen und Risiken zu begegnen. Ich brauche nur das Stichwort Jugoslawien zu nennen und an die Heimsuchungen zu erinnern, die die Menschen dort täglich erleben. Wir kommen um die Frage nicht herum, welches Instrumentarium Europa benötigt, um mit derartigen Konflikten fertig zu werden oder besser noch: ihnen vorbeugend begegnen zu können. Eine Antwort zumindest steht für mich fest: Ohne den Durchbruch zu einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik werden wir auch künftig vergleichbaren Entwicklungen nur unzureichend begegnen können.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Zu Recht hat Präsident Mitterrand vor kurzer Zeit in seiner Rede in Berlin vor den schwarzen Schatten der vergangenen Jahrhunderte gewarnt, die sich wieder auf Europa legen würden, wenn jedes Land in das traditionelle Denken in Einflusssphären zurückfiele. Die jüngste deutsch-französische Initiative hat daher vor allem zum Ziel, in dem für das europäische Schicksal entscheidenden Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik zu einem möglichst engen Schulterschluss zu kommen. Für mich ist klar - das will ich unterstreichen -: Ein vereinigtes Europa ist auf Dauer ohne gemeinsame europäische Verteidigung nicht denkbar.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Dies ist weder Ausdruck des Zweifels an der Beständigkeit des Atlantischen Bündnisses noch ein Versuch, konkurrierende Zuständigkeiten zu schaffen. Es geht darum, dass die Europäer - übrigens auch im Sinne einer Lastenteilung - stärker zu ihrer eigenen Verantwortung stehen und den europäischen Pfeiler ausbauen, so wie es auch unsere transatlantischen Partner seit langem fordern.

Es ist erstaunlich, welche Kritik dieser Vorschlag jenseits des Atlantiks gefunden hat, auch von manchen, die zum Teil seit Jahrzehnten die Europäer und die Deutschen mahnen, endlich selbst die Dinge in die Hand zu nehmen. Was wir jetzt versuchen, entspricht der Linie einer Politik, die uns seit langem auch unsere amerikanischen Freunde empfehlen.

Bereits in der gemeinsamen Botschaft vom 6. Dezember 1990 hatten Präsident Mitterrand und ich betont, dass wir zur Umsetzung der europäischen Sicherheitspolitik ein operatives Instrument brauchen und hierfür die WEU vorschlagen.

(Dr. Alfred Dregger [CSU/CSU]: Sehr gut!)

Die jüngste Initiative konkretisiert diesen Ansatz. Das Hauptgewicht liegt dabei auf der politischen Ausgestaltung der WEU. Es geht vor allem um eine regelmäßige Abstimmung der WEU-Mitgliedstaaten innerhalb der Allianz mit dem Ziel einer gemeinsamen Haltung in allen wesentlichen Fragen sowie um eine engere, auch personelle Zusammenarbeit zwischen Allianz und WEU einerseits und zwischen EG und WEU andererseits. Durch die Verlegung des WEU-Generalsekretariats nach Brüssel wird verdeutlicht, dass wir zusammenführen und nicht abkoppeln wollen.

Parallel zur Verstärkung der politischen Rolle der WEU wollen wir ihre militärischen Strukturen in enger Zusammenarbeit mit der Allianz und in deren Ergänzung insbesondere durch folgende Maßnahmen entwickeln: Schaffung eines militärischen Planungs- und Koordinierungsstabs; Verstärkung der militärischen Zusammenarbeit insbesondere in den Bereichen Logistik, Transport, Ausbildung und Aufklärung; verstärkte Rüstungskooperation mit dem Ziel, eine europäische Rüstungsagentur zu schaffen. Dazu gehört schließlich auch die Möglichkeit, dass militärische Einheiten unter bestimmten Umständen - und in enger Abstimmung mit der NATO - der WEU zugeordnet werden.

Gleichzeitig wollen wir die deutsch-französische militärische Zusammenarbeit über die bestehende Brigade hinaus verstärken. Ich möchte in diesem Zusammenhang betonen, dass sowohl Präsident Mitterrand wie auch ich uns sehr wohl vorstellen können, dass auch andere Länder in Europa einer solchen speziellen Initiative beitreten können und wahrscheinlich sogar wollen. Ich will dabei klarstellen, dass deutsche Einheiten, die hierfür vorgesehen werden, nicht ihrer NATO-Verpflichtung entzogen werden.

(Dr. Alfred Dregger [CDU/CSU]: Sehr gut!)

Vielmehr handelt es sich darum, ihnen eine zusätzliche Aufgabe zuzuweisen. Ich bin ganz sicher, dass wir mit diesen Vorschlägen die europäische Sicherheitspolitik einen ganz wesentlichen und entscheidenden Schritt voranbringen werden.

Ein weiteres wichtiges Thema des NATO-Gipfels - das ursprünglich nicht auf der Tagesordnung stand, aber durch die Entwicklung auf die Tagesordnung gekommen ist - wird Jugoslawien sein. Dem Blutvergießen in Jugoslawien, das immer mehr Menschenleben fordert, muss ein Ende gesetzt werden, und zwar so schnell wie möglich.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP, der SPD und dem Bündnis 90/GRÜNE)

Die brutalen militärischen Aktionen zerstören jeden Tag mehr die Hoffnung auf ein friedliches Zusammenleben. Gerade wir, die Deutschen, wissen, was Krieg im eigenen Land mit all seinen schrecklichen Folgen für die Menschen bedeutet.

Ich begrüße, dass die EG-Außenminister am 4. November 1991 wirtschaftliche Sanktionsmaßnahmen beschlossen haben. Dabei geht es vor allem darum, das serbische Lager von der Aussichtslosigkeit seiner Gewaltpolitik zu überzeugen. Dieser Beschluss ist nicht zuletzt auf Grund unserer beharrlichen Überzeugungsarbeit, auch gegenüber unseren EG-Partnern, zustande gekommen. Ich erwarte, dass dieser Beschluss am Freitag in Kraft gesetzt wird.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Die Bundesregierung wird sich auch weiter dafür einsetzen, dass die völkerrechtliche Anerkennung derjenigen Republiken, die dies wünschen, nicht auf die lange Bank geschoben wird.

(Dr. Alfred Dregger [CDU/CSU]: Sehr gut!)

Im Hinblick auf Sanktionsmaßnahmen erwarte ich, dass weitere Sanktionen, wie von uns vorgeschlagen, folgen werden. In der Frage der Anerkennung bleibt es unser Ziel, dass wir gemeinsam mit den Partnern in der EG vorgehen, und zwar nicht zuletzt im Interesse der dort nach Selbständigkeit strebenden Republiken. Ich halte es für wichtig, dies hier auszusprechen.

Zu den wichtigsten Aufgaben, die vor uns liegen, gehört es, die beiden Regierungskonferenzen über die Politische Union sowie die Wirtschafts- und Wahrungsunion beim Europäischen Rat in Maastricht zum Erfolg zu führen. Ich bin mir über die Schwierigkeit dieser Aufgabe sehr wohl im klaren. Ich weiß auch, dass unser Handeln auf dem Weg nach Europa mit viel Skepsis begleitet wird. Aber die Erfolge der letzten Jahre und Jahrzehnte sollten uns dazu bewegen, die Schwierigkeiten zu meistern und mit Mut und Entschiedenheit für unsere Meinung einzutreten.

Zwischen diesen beiden Konferenzen besteht für uns Deutsche ein unauflöslicher Zusammenhang. Man kann dies nicht oft genug sagen. Die Politische Union ist das unerlässliche Gegenstück zur Wirtschaftsund Wahrungsunion.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD)

Die jüngere Geschichte, und zwar nicht nur die Deutschlands, lehrt uns, dass die Vorstellung, man könne eine Wirtschafts- und Währungsunion ohne Politische Union auf Dauer erhalten, abwegig ist.

(Beifall bei der CDU/CSU)

Wir haben in den letzten zwei Jahren, vor allem im letzten Jahr, oft genug darauf hingewiesen, dass die Vollendung der deutschen Einheit nur ein Teil jenes historischen Auftrags ist, den schon die Männer und Frauen im Parlamentarischen Rat bei der Formulierung unseres Grundgesetzes verspürt haben. Die deutsche Einheit und die europäische Einigung sind für uns die zwei Seiten derselben Medaille. Das muss jetzt deutlich werden.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Dieser Vertrag ist der Testfall für die Bereitschaft der Mitgliedstaaten der Europäischen Gemeinschaft, ihr Schicksal unwiderruflich miteinander zu verknüpfen. Die Politische Union muss zunächst klare Grundlagen für eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik schaffen. Hierzu gehört auch der Einstieg in außenpolitische Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit, insbesondere da, wo es um die Frage der Durchführung solcher Entscheidungen geht.

Wir streben zugleich an, dass die Außenpolitik stärker in den gemeinschaftlichen Institutionen verankert wird. Dabei muss nach unserer Überzeugung auch die Kommission einbezogen werden. Nur wenn es uns nach den schwierigen Anfangszeiten gelingt, in der Außenpolitik in Europa mit einer Stimme zu sprechen und gemeinsam zu handeln, werden wir auch weltweit unserer politischen Verantwortung gerecht.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Das künftige Zusammenleben in einem Europa ohne Binnengrenzen erfordert auch, dass wir uns mit unseren Partnern auf gemeinschaftliches Handeln in Kernbereichen der Innen- und Justizpolitik verständigen. Wir brauchen unbedingt - auch wenn es bei uns in der Bundesrepublik noch nicht alle glauben - eine mittelfristig mit grenzübergreifenden Befugnissen ausgestattete europäische Polizei, um vor allem im Kampf gegen die Drogenmafia und das organisierte Verbrechen bestehen zu können.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD)

Wir brauchen ebenso dringend eine in ihren wesentlichen Elementen einheitliche europäische Politik in Bezug auf Einwanderungs- und Asylfragen. Wir haben zu beiden Themen Vorschläge gemacht und der Regierungskonferenz Impulse gegeben. Es wird jetzt, wie immer in solchen Sachen, streitig diskutiert. Wir werden unsere Position nachdrücklich vertreten. Dabei ist mir sehr wohl bewusst, dass wir damit schwieriges europäisches Neuland betreten.

Angesichts der dramatischen Entwicklung müssen wir aber jetzt das Notwendige tun und über den bisherigen Rahmen der rein zwischenstaatlichen Zusammenarbeit hinausgehen. Im Zusammenhang mit der Politischen Union wird sich die Bundesregierung mit allem Nachdruck für die Verstärkung der Rechte des Europäischen Parlaments einsetzen.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP, der SPD und dem Bündnis 90/GRÜNE)

Als wir vor einem Jahr bei der ersten EG-Konferenz zu diesem Thema in Rom zusammenkamen - die zweite war dann im Dezember -, hätte ich nicht damit gerechnet, dass wir in der Frage der Verstärkung der Rechte des Europäischen Parlaments auf solche Schwierigkeiten stoßen würden. Mir ist es letztlich auch unverständlich, wie man in dieser Frage so zögerlich sein kann. Denn ich kann mir nicht vorstellen, dass wir im Juni 1994 die Wähler in EG-Europa wieder zur Wahlurne rufen, um in freier, geheimer und direkter Wahl ein Parlament zu wählen, das die wirklichen Parlamentsrechte nicht besitzt. Ich halte das für unmöglich.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP, der SPD und dem Bündnis 90/GRÜNE)

Ich verstehe letztlich auch nicht, warum einige unserer Partner Probleme damit haben, dem Parlament die Möglichkeiten zu geben, die Kommission zu wählen - damit nehmen wir anderen ja keine Rechte weg -, ihm das Recht zur Mitentscheidung bei den legislativen Akten der Gemeinschaft zu geben. Man könnte die Liste noch erweitern. Wir alle wissen, dass unser Ziel nicht ein bürokratisches, sondern ein demokratisch verfasstes Europa ist. Wir wollen kein zentralistisches, sondern ein föderales und bürgernahes Europa, das sich dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet weiß. Das heißt, wir wollen, dass in der zukünftigen Zentrale - ich nenne einmal Brüssel - eben nur solche Entscheidungen getroffen werden, die auf der Ebene der Mitgliedstaaten nicht wirksam getroffen werden können.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Wir wollen auch, dass in diesem künftigen Europa die Regionen ihre legitimen Interessen in die Gemeinschaft einbringen können. Die Erfahrungen in Deutschland, nicht zuletzt an den Westgrenzen unseres Landes, in den letzten 30 bis 40 Jahren in der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit benachbarter Regionen sind so positiv, dass ich nur hoffen kann, dass sich jetzt ähnliches in Ostdeutschland, an der Grenze zu unseren Östlichen Nachbarn, vollziehen wird.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Wenn Sie die Diskussion in den alten, klassischen Zentralstaaten -ich nenne beispielsweise Frankreich - verfolgen, sehen Sie, dass überall eine starke Tendenz zu verspüren ist - für uns eine besonders sympathische Tendenz -, auch durch eine Dezentralisation der Machtbefugnisse Entscheidungen möglichst nahe bei den Bürgern zu treffen. Diese Erfahrung darf in Europa nicht verlorengehen.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

In diesem Sinne haben wir in Übereinstimmung mit den Bundesländern der Regierungskonferenz die Bildung eines Regionalgremiums mit beratender Stimme vorgeschlagen. Ich mache kein Hehl daraus, dass es noch viel, viel Arbeit kosten wird, um diese Idee und diese Überzeugung unseren Partnern nahezubringen.

Bei den Verhandlungen über die Wirtschafts- und Währungsunion entwickelt sich - auch das ist eine Erfahrung positiver Art aus dem letzten Jahr - sehr viel schneller ein breiter Konsens über die Grundpositionen, die wir vertreten. Erstens: In der Zwischenstufe ab 1994 verbleibt die Zuständigkeit für die Geldpolitik und die Verantwortung für die Geldwertstabilität in den Mitgliedstaaten uneingeschränkt bei den nationalen Zentralbanken. Es wird keine „Grauzone" in dieser Vorbereitungsphase geben. Zweitens: Der Weg zur Wirtschafts- und Währungsunion setzt eine marktwirtschaftliche und stabilitätsgerechte Wirtschafts- und Finanzpolitik voraus, die die unabdingbare Konvergenz der wirtschaftlichen Entwicklung der Mitgliedstaaten schafft. Drittens: In der Endstufe wird ein unabhängiges europäisches Zentralbanksystem geschaffen, das allein für die einheitliche Geldpolitik zuständig und vorrangig der Geldwertstabilität verpflichtet ist.

Die Wirtschafts- und Finanzminister der Europäischen Gemeinschaft sind sich in ihren Beratungen einig, dass alle Mitgliedstaaten die Entscheidung über den Übergang zur Endstufe der Wirtschafts- und Währungsunion gemeinsam treffen sollen. Dabei gelten drei Grundsätze, über die sich der Europäische Rat bereits im Juni in Luxemburg verständigt hatte. Erstens: Kein Mitgliedstaat darf den Übergang einer Mehrheit von Mitgliedsländern in die dritte Stufe verhindern. Ich denke, jeder versteht, dass in diesem einfachen Satz sehr viel politischer Sprengstoff enthalten ist. Zweitens: Kein Mitgliedstaat wird gegen seinen Willen zur Mitgliedschaft in der Endstufe der Wirtschafts- und Währungsunion gezwungen. Drittens: Kein Mitgliedstaat kann von der Endstufe ausgeschlossen werden, wenn er die wirtschaftlichen und institutionellen Voraussetzungen erfüllt.

Die vergangenen Wochen und Monate haben gezeigt, dass sich diese Verhandlungen keineswegs - das war auch nicht anders zu erwarten - einfach gestalten. Das sollte angesichts der Zahl und der Vielschichtigkeit der Themen auch niemanden überraschen. Aber ich bin sicher, dass sich alle Partner der einmaligen Herausforderung und auch der einmaligen Chance dieser Regierungskonferenzen bewusst sind und den Erfolg wollen. Ich will in diesem Zusammenhang ausdrücklich der niederländischen Präsidentschaft und insbesondere dem Ministerpräsidenten Lubbers für die Mühe danken und versichern, dass wir alles daransetzen wollen, sie bei ihrer sehr schwierigen Aufgabe zu unterstützen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Eine weitere wichtige Etappe auf dem Weg zur Europäischen Union wird die Vollendung des Europäischen Binnenmarkts zum 31. Dezember 1992 sein. Zu diesem Zeitpunkt sollen in Europa aber nicht nur für die Bürger der Europäischen Gemeinschaft die Binnengrenzen fallen. Seit dem Durchbruch vom 22. Oktober 1991 können wir davon ausgehen, dass dann zugleich der noch größere Europäische Wirtschaftsraum - für insgesamt 380 Millionen Bürger - Wirklichkeit wird. Dies ist eine Entwicklung von einer ungeheuren politischen Bedeutung.

Ich bin sicher, dass die Zustimmung zum EWR-Vertrag für die meisten unserer EFTA-Nachbarn nur ein erster Schritt auf dem Weg zum EG-Beitritt sein wird. Wir hoffen, dass diejenigen, die diese Diskussion jetzt fuhren, sie bald zu Ende bringen. Wir begrüßen, dass beispielsweise in Schweden die Diskussion an einem Punkt angelangt ist, der es zulässt zu sagen: Wir rechnen damit, dass Schweden 1995 der Gemeinschaft beitritt und Österreich ähnliches tun wird. Ich bin ganz sicher, dass das schwedische Beispiel nicht ohne Eindruck und Wirkung auf die Nachbarn in Nordeuropa, auf Norwegen und Finnland, sein wird.

In Erinnerung an eine Debatte, die wir im Zusammenhang mit dem Beitritt von Spanien und Portugal hatten, will ich jetzt noch sagen, dass es richtig war, den Beitritt Spaniens und Portugals zu forcieren, obwohl damals mancher - auch in Deutschland - der Meinung war, der Beitritt werde dazu führen, dass die EG, wie man sagte, südlastig werde. Damals ist die Befürchtung geäußert worden, dass Nordeuropa, ein entscheidender Bestandteil Europas, den Weg in die EG nicht finden werde. Wir begrüßen die Diskussionen und die Entscheidungen, die dort getroffen werden. Wir wünschen, dass die Zeitpläne, über die man jetzt diskutiert, auch eingehalten werden. Die Bundesrepublik Deutschland wird jedenfalls jede Unterstützung dabei geben.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Eine weitere ganz wichtige, zentrale Aufgabe europäischer Politik bleibt es, den jungen Demokratien in Mittel-, Ost- und Südosteuropa beim Umbau ihrer Wirtschaft und Gesellschaft tatkräftig zu helfen. Wir sollten daher alles daransetzen, die Assoziierungsverträge der Europäischen Gemeinschaft mit Ungarn, mit Polen und der CSFR noch in diesem Jahr unter Dach und Fach zu bringen.

(Dr. Alfred Dregger [CDU/CSU]: Sehr gut!)

Ferner sollten wir die baltischen Staaten bei der Festigung ihrer politischen und wirtschaftlichen Unabhängigkeit unterstützen. Ich denke, auch im Blick auf spätere Entwicklungen der Europäischen Gemeinschaft ist es wichtig, dass die eben genannten Länder wissen, dass wir ihnen auf ihrem Weg nach Europa helfen wollen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Das Zeitmaß, das hier in Frage kommt, wird sicherlich ein anderes sein als das bei den vorher genannten Ländern wie Schweden und Österreich. Es ist aber ein großer Unterschied, ob man in Warschau, in Prag oder in Budapest weiß, dass man erwünscht ist, oder ob wir diesen Ländern mit einer quasi neutralen Distanz begegnen.

(Zustimmung bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich kann mir sehr wohl vorstellen, dass man über die jetzt abzuschließenden Assoziierungsverträge zu einer Art von Beratungsmechanismus kommt, der schon in dieser Zwischenzeit deutlich macht, dass diese Länder ihren Weg in die Gemeinschaft finden werden. Ich glaube, das liegt im allgemeinen Interesse und ist nützlich.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des Bündnisses 90/GRÜNE)

Eine ganz besondere Herausforderung, und zwar nicht nur für die Europäische Gemeinschaft, sondern auch für die anderen Partner in der G7, stellt die dramatische Wirtschaftsentwicklung in der Sowjetunion dar. Wir wollen in diesem Winter dazu beitragen, dass die Versorgung der Menschen dort mit einem Mindestmaß an Gütern des täglichen Bedarfs durch Nahrungsmittelhilfe sichergestellt wird. Es kann nicht angehen, dass im Rahmen der G7, der sieben großen Industrienationen der Welt, diese Frage bei nicht wenigen weitgehend unter dem Gesichtspunkt gesehen wird, dies sei vor allem eine deutsche Verantwortung. Es ist zwar eine besondere deutsche Verantwortung; denn wenn die Sowjetunion und die Republiken zu einer neuen Struktur finden, sind wir als Nachbarn ganz unmittelbar betroffen. Wir sind auch deshalb in einer besonderen Weise betroffen, weil noch viele sowjetische Soldaten auf deutschem Territorium stehen und weil die Abmachungen über den vollständigen Truppenrückzug eingehalten werden müssen. Aber es dient dem Frieden der Welt, nicht nur dem Frieden Europas, wenn in der Sowjetunion und in den jetzt entstehenden Republiken Frieden, Freiheit, Soziale Marktwirtschaft und rechtsstaatliche Ordnung einkehren und dauerhaft verankert werden.

Wenn man bedenkt, was wir in der Vergangenheit - während und auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges - an finanziellen Ressourcen mobilisieren mussten, um der damaligen Lage gerecht zu werden, müsste es auch möglich sein, jetzt in einer gemeinsamen großen Kraftanstrengung hier die notwendige Hilfe zu geben. Es ist wichtig, jetzt für den kommenden Winter Nahrungsmittelhilfe zu mobilisieren. Aber das ist nur eine Übergangshilfe; das kann kein dauerhafter Zustand sein. Jetzt sind alle westlichen Demokratien gefordert, die Chance der Demokratie in diesem Teil der Welt wahrzunehmen.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP, der SPD und dem Bündnis 90/GRÜNE)

Die Friedenskonferenz von Madrid hat neue Hoffnungen auf eine friedliche Beilegung des Nahostkonflikts geweckt. Das bloße Zustandekommen dieser Konferenz war bereits ein Ereignis von größter Bedeutung. Es war nur möglich dank den unermüdlichen Bemühungen von Außenminister Baker, dank den sehr persönlichen Engagements der Präsidenten Bush und Gorbatschow und auch dank der Bereitschaft der Konfliktparteien, sich erstmals seit 40 Jahren an einen Tisch zu setzen und die gegenseitigen Standpunkte überhaupt anzuhören. Diese Konferenz ist ein erster Schritt auf dem Weg zu einem tragfähigen und stabilen Verhandlungsprozess. Das Ziel ist klar: Israel muss friedlich und sicher mit seinen Nachbarn leben, und die Palästinenser müssen über ihr Schicksal selbst bestimmen können.

Ich möchte heute die Gelegenheit nutzen, an dieser Stelle an alle Beteiligten zu appellieren: Zeigen Sie in den weiteren Verhandlungen Realismus und Kompromissbereitschaft. Leiten Sie alle Ihnen möglichen Schritte zur Schaffung eines Klimas des Vertrauens ein. Enthalten Sie sich aller Maßnahmen, die den Friedensprozess behindern oder gefährden könnten. Gehen Sie auch in kommenden Verhandlungen nicht auseinander, ohne eine wirkliche Fortsetzung der Gespräche zu vereinbaren.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD sowie bei Abgeordneten des Bündnisses 90/GRÜNE)

Erlauben Sie mir zum Abschluss noch ein paar kurze Bemerkungen zu meiner jüngsten Reise nach Chile und Brasilien. Dieser Besuch hat mir die großen Hoffnungen deutlich gemacht, die die Staaten Lateinamerikas mit dem Wandel in Deutschland und in Europa, mit der deutschen Einheit und mit der europäischen Einigung verbinden. Auch sie haben mit dem Wegfall des Ost-West-Gegensatzes und mit der Überwindung des Blockdenkens ihren Standort in der Weltpolitik neu bestimmt oder noch neu zu bestimmen. Die meisten von ihnen bekennen sich inzwischen zur pluralistischen Demokratie, zum Rechtsstaat und zu einer marktwirtschaftlichen Ordnung. Die Völker Lateinamerikas erbringen damit alle Voraussetzungen für ein noch engeres Zusammengehen mit uns Europäern. Das gilt sowohl für die bilaterale als auch für die regionale Politik.

In meinen Gesprächen in Chile und Brasilien spielte der Wunsch nach einer radikalen Öffnung der europäischen Märkte für die Waren dieser Länder eine entscheidende Rolle. Ich habe zugesagt, mich persönlich wie auch mit der ganzen Kraft der Bundesregierung dafür einzusetzen, dass die laufende Uruguay-Runde des GATT bald und erfolgreich abgeschlossen wird. Ich bin durchaus der Meinung, dass wir auf diesem schwierigen Feld in der jüngsten Zeit beachtliche Fortschritte erreicht haben. Die Bundesrepublik Deutschland hat ein elementares Interesse an einem positiven Abschluss der Uruguay-Runde des GATT.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD)

Ich habe in meinen Gesprächen meine Gesprächspartner zugleich ermutigt, ihre Bemühungen um die Schaffung von Freihandelszonen und um die wirtschaftliche Integration, aber auch um Zusammenschlüsse in Teilen Lateinamerikas voranzutreiben.

Ich habe in Chile und Brasilien volle Zustimmung dafür gefunden, dass Industrie- und Entwicklungsländer in der Frage des weltweiten Umweltschutzes eine gemeinsame Verantwortung tragen, der sie nur durch partnerschaftliche Zusammenarbeit gerecht werden können. Dabei musste ich [...] feststellen, wie groß die psychologischen Schwierigkeiten vor allem in wichtigen Teilen Brasiliens sind. Das Schlagwort von der Einmischung der Ausländer in innerbrasilianische Angelegenheiten sollten wir ernst nehmen. Ob wir es als richtig anerkennen oder nicht, es ist noch eine erhebliche psychologische Vorbereitungsarbeit auf diesem Feld notwendig, und zwar nicht nur durch die Deutschen, sondern durch alle, die am Erhalt der Schöpfung interessiert sind, und das müssten ja wir alle sein.

Ich habe die brasilianische Regierung nachdrücklich in ihren Bemühungen bestärkt, der Zerstörung der tropischen Regenwälder Einhalt zu gebieten. Zugleich habe ich unser eigenes Engagement noch einmal unterstrichen. Als Beitrag zum „Pilotprogramm Brasilien" haben wir 250 Millionen DM bereitgestellt. Ich will die Gelegenheit hier nutzen, um zu sagen, dass ich erwarte, dass sich auch die anderen Industrieländer an diesen Programmen beteiligen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

In diesen Tagen gehen ja Meldungen um die Welt, wie viel Hartholz einzelne Industrieländer pro Jahr verbrauchen. Dabei kann man feststellen, dass es darunter G7-Länder gibt, die allein soviel Holz verbrauchen wie die gesamte EG.

(Zuruf von der SPD: Japan!)

Deswegen müsste es eigentlich auch möglich sein, dass diejenigen, die in einem besonderen Maße tropische Hölzer verbrauchen, Mittel bereitstellen, zumal sie dazu wirtschaftlich in der Lage sind.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD sowie bei Abgeordneten des Bündnisses 90/GRÜNE)

Ich habe die Absicht, im Juni kommenden Jahres an der in Rio de Janeiro stattfindenden UNO-Konferenz über Umwelt und Entwicklung teilzunehmen. Auf dieser Konferenz wird es entscheidend darauf ankommen, dass wir nicht nur reden, sondern die Industrie- und die Entwicklungsländer zu gemeinsamem Handeln zusammenfuhren. In diese Partnerschaft muss jeder seinen ihm möglichen und auch zumutbaren Teil zur Erhaltung unserer natürlichen Lebensgrundlagen einbringen. Wir wollen als Bundesregierung das Notwendige und für uns Mögliche tun. Aber wir müssen auch die Zeit nutzen, um unsere Partner davon zu überzeugen, dass dies eine weltweite Verantwortung ist und dass dies vor allem auch eine Verantwortung der Industrienationen ist.

Die Wiedererlangung der staatlichen Einheit bringt für uns Deutsche neue Verantwortung, neue Herausforderungen und neue Pflichten mit sich. Zu allen wichtigen Fragen der internationalen Politik und der Weltwirtschaft werden heute mehr denn je unsere Mitwirkung, unsere Beiträge und unser Engagement erwartet. Dies gilt ungeachtet unserer nationalen Aufgabe, gleiche Lebensverhältnisse in ganz Deutschland herzustellen und die Menschen in Ost und West unseres Vaterlandes zusammenzuführen.

Wir dürfen den Blick - bei aller Wichtigkeit dieser Aufgaben -jedoch nicht nur nach innen lenken. Zahlreiche und große Herausforderungen außerhalb der deutschen Grenzen erfordern ebenfalls unseren Einsatz: der Aufbau des vereinten Europa, die Weiterentwicklung und Festigung des Bündnisses in der Beziehung zu Nordamerika, die Stabilisierung der Staaten Mittel-, Ost- und Südosteuropas, die friedliche Beilegung von Konflikten insbesondere in unserer Nachbarschaft, die partnerschaftliche Zusammenarbeit mit den Ländern der Dritten Welt.

Zusammen mit unseren Partnern und Freunden wollen wir so an einer neuen Weltordnung des Friedens, der Freiheit und der Gerechtigkeit mitwirken. Wir wollen dabei die Aufgaben zu Hause nicht vernachlässigen, aber wir würden als wiedervereinigtes Deutschland vor der Geschichte versagen, wenn wir uns nur unseren eigenen Problemen zuwenden würden und die Verantwortung, die in der Welt auf uns zukommt, vernachlässigen würden. Meine Bitte ist, dass wir diese Verantwortung gemeinsam tragen.

(Lebhafter Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Beifall bei der SPD und dem Bündnis90/GRÜNE)

 

Quelle: Deutscher Bundestag. Plenarprotokoll 12/53, 6. November 1991.