6. September 1991

Regierungserklärung zu den deutsch-polnischen Verträgen sowie zur ersten Beratung des Gesetzes zum Vertrag vom 17. Juni 1991 über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit und zum Vertrag vom 14. November 1990 über die Bestätigung der Grenze

 

Wir stehen am Anfang der parlamentarischen Beratung über den Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über die Bestätigung der zwischen ihnen bestehenden Grenze und über den Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Polen über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit. Beide Verträge bilden ein einheitliches Ganzes. Dies wird bei uns und zeitgleich auch im polnischen Sejm durch die gemeinsame parlamentarische Beratung unterstrichen. Beide Verträge werden gemeinsam ratifiziert und damit auch gleichzeitig international in Kraft gesetzt.

Mit diesen Verträgen liegt uns ein deutsch-polnisches Vertragswerk vor, das Marksteine in der Geschichte unserer beiden Länder und Völker setzt und das damit einen notwendigen Beitrag zu einer neuen Ordnung des Friedens, der Stabilität und der Zusammenarbeit in Europa leistet. Ich bitte Sie namens der Bundesregierung, diesem Vertragswerk Ihre Zustimmung zu geben.

Wir erfüllen damit auch einen Teil des politischen Vermächtnisses von Konrad Adenauer. Am Beginn des Bestehens der Bundesrepublik Deutschland wies er in der ersten Regierungserklärung auf die politische Aufgabe und die moralische Verpflichtung hin, die Aussöhnung mit den ehemaligen Kriegsgegnern, namentlich, wie er sagte, mit Frankreich und Polen, zu suchen und die Verständigung mit dem Staat Israel und die Aussöhnung mit den Juden in aller Welt zu erstreben.

Mit dem deutsch-polnischen Vertragswerk wollen wir nach leidvollen Kapiteln in der langen Geschichte unserer Länder und Völker nunmehr an die guten Traditionen des friedlichen Zusammenlebens, des fruchtbaren kulturellen und wirtschaftlichen Austauschs und der Begegnung der Menschen anknüpfen. Weder Kriege noch Volkermord, weder Verfolgung noch Vertreibung, weder rassische Überheblichkeit noch ideologische Verblendung haben diese Tradition auslöschen können; denn hinter dieser Tradition stand die verbindende Idee der gemeinsamen Freiheit.

Vor 200 Jahren gab sich Polen die erste geschriebene freiheitliche Verfassung Europas. Sie wurde den mächtigen Nachbarn Polens zum Vorwand für die zweite polnische Teilung. Aber sie entfachte bei den Völkern Europas, die nach Freiheit und verfassungsmäßigen Ordnungen drängten, ein Fanal. Dies galt vor allem in den Staaten des zersplitterten Deutschland, in denen die Ideen von Freiheit und nationaler Einheil im Bewusstsein der Bürger immer stärker wurden. Damals wurde - wir sollten dies nie vergessen - der Grundstock der Freundschaft zwischen Polen und Deutschen aus dem Geist gemeinsamer Freiheit gelegt. In dieser Tradition stand das Hambacher Fest 1832. In einer besonders schweren Stunde der polnischen Geschichte fanden sich deutsche, polnische und französische Patrioten unter dem Wort zusammen: „Ohne Polens Freiheit keine deutsche Freiheit, ohne Polens Freiheit kein dauerhafter Friede, kein Heil für die europäischen Volker."

Es ist eine bewegende Erfüllung dieser Worte von Hambach, dass sich heute Polen in wiedererrungener Freiheit und Selbständigkeit und Deutschland in wieder gewonnener Einheit und Freiheit die Hand zum Frieden und zu guter Nachbarschaft reichen. Wer bedenkt, wie wenige Jahre ihrer langen Geschichte Deutsche und Polen gemeinsam und gleichzeitig unter freiheitlich-demokratischen Verfassungen zusammengelebt haben, kann den Rang des uns heute vorliegenden Vertragswerks ermessen.

Dieses Vertragswerk krönt eine intensive Phase deutsch-polnischer Beziehungen, die 1989, im Jahre der großen europäischen Freiheitsrevolutionen, einen ersten Höhepunkt erlebte. Polens erneuter Kampf um Freiheit und Selbständigkeit hatte bereits 1980 auf der Danziger Leninwerft begonnen. 1989 geschah der Durchbruch. Er wurde von den Parteien und den gesellschaftlichen Gruppen am Runden Tisch vorbereitet. Nach den Juni-Wahlen wurde Tadeusz Mazowiecki erster nichtkommunistischer Ministerpräsident. Er wies Polen den Weg zur Demokratie, zum Pluralismus und zur Marktwirtschaft. Wir, die Bundesrepublik Deutschland, haben ihn dabei von Anfang an nachhaltig unterstützt; denn wir waren der gemeinsamen Überzeugung, dass der Weg der Freiheit, der Weg der politischen, wirtschaftlichen und sozialen Reformen in anderen Teilen Europas nur dann eine Chance haben würde, wenn er in Polen gelänge.

Der polnische wie auch der ungarische Weg zu Freiheit und Selbständigkeit wurde 1989 zum Hoffnungszeichen auch für die Menschen in der früheren DDR. Am Abend des 9. November 1989, des Tages, an dem die Mauer fiel, sprach ich bei meinem offiziellen Besuch in Polen mit dem heutigen Staatspräsidenten Lech Walesa. Ich werde dieses Gespräch nie vergessen; denn wir waren uns einig, dass die deutsche Einheit jetzt sehr rasch kommen werde. Er hat mir damals zugesagt, den Weg der Deutschen zur Einheit in freier Selbstbestimmung nachhaltig zu unterstützen.

Ich erinnere in dieser Stunde daran, dass Polen zu den ersten Ländern gehörte, die entschieden für die Mitgliedschaft des vereinten Deutschland im Nordatlantischen Bündnis eingetreten sind. Dies lag im Interesse der deutschen, der polnischen und der gesamteuropäischen Sicherheit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Untrennbar mit unserem Weg zur Einheit verbunden war auch die Bestätigung der Grenzen des vereinten Deutschland. Der Deutsche Bundestag und die damals schon frei gewählte Volkskammer der DDR haben in ihren Entschließungen vom 21. und 22. Juni 1990 ihrem Willen Ausdruck gegeben, dass der Verlauf der Grenze zwischen dem vereinten Deutschland und der Republik Polen durch einen völkerrechtlichen Vertrag endgültig bekräftigt werden sollte. Dieses Votum entsprach dem Willen der großen Mehrheit unseres Volkes, ausgedrückt durch seine frei gewählten Parlamente. Es fand in zwei völkerrechtlichen Verträgen seinen Ausdruck: im ersten Artikel des Vertrags über die abschließende Regelung in Bezug auf Deutschland, des sogenannten „Zwei-plus-Vier"-Vertrags vom 14. September 1990, und in dem nach Vollzug der deutschen Einheit mit der polnischen Regierung ausgehandelten und am 14. November 1990 in Warschau unterzeichneten Vertrag über die Bestätigung der zwischen ihnen bestehenden Grenze. Diese Verträge waren unabdingbare Voraussetzungen dafür, dass wir Deutsche unseren Weg zur Einheit in Frieden und Freiheit im Einvernehmen mit allen Partnern, insbesondere mit allen Nachbarn, vollenden konnten. Aber nicht nur dies: Beide Vertragspartner im Gesamtvertrag waren entschlossen, zugleich ihrer europäischen Friedensverantwortung im Geist des eben erwähnten Hambacher Festes von 1832 gerecht zu werden.

Es ist für die Geschicke und die friedliche Entwicklung unseres Kontinents von entscheidender Bedeutung, dass Deutsche und Polen in der Mitte Europas die bestehenden Grenzen achten, Brücken der Begegnung bauen und den friedlichen Austausch verstärken.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Dies ist zugleich eine Botschaft an andere Völker unseres Kontinents, die aufgerufen sind, eine leidvolle Vergangenheit durch friedlichen Ausgleich zu überwinden und gemeinsam eine Zukunft, gegründet auf Vertrauen und gute Nachbarschaft, aufzubauen.

Als Teil unserer europäischen Friedensverantwortung und damit auch als Teil unserer Botschaft an andere Völker unseres Kontinents bekennen wir uns auch dazu, dass Grenzen nicht nur trennen, sondern endlich auch verbinden sollen. Wir wollen, dass die Menschen dies auch praktisch erfahren. Wir wollen dies vor allem auch an jener Grenze, die Deutschland und Polen trennt.

(Dr. Hans-Jochen Vogel [SPD]: Verbindet!)

Ich bin deshalb mit Nachdruck dafür eingetreten, im deutschpolnischen Reiseverkehr die Sichtvermerkspflicht abzuschaffen. Wir haben nach schwierigen Verhandlungen unsere Partner im sogenannten Schengener Abkommen für diese Politik gewonnen und konnten im April dieses Jahres den visumfreien Reiseverkehr verwirklichen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP - Zustimmung des Abg. Markus Meckel [SPD])

Ich freue mich, dass trotz bedauerlicher Anfangsschwierigkeiten -diese sind nicht zu leugnen - jetzt Deutsche und Polen diese neue Möglichkeit zum Austausch und zur Begegnung umfassend nutzen. Der Reiseverkehr zwischen unseren Ländern hat sich seit Öffnung der Grenze vervielfacht.

In europäischer Verantwortung setzen wir auch alles daran, zu verhindern, dass die politisch überwundene Grenze sich nunmehr als eine Art Wohlstandsgrenze verfestigt. Aufblühende Grenzregionen und gutnachbarschaftliche Zusammenarbeit über die Grenze hinweg - dies ist unser Ziel. Nach dem Vorbild und nach den Erfahrungen, die wir in über 40 Jahren vor allem an der Westgrenze unseres Landes gewonnen haben, sollten wir alles tun, um auf diesem Weg möglichst rasch zu vergleichbaren Verhältnissen an Oder und Neiße zu kommen. Wir haben deshalb vorgeschlagen, in einer deutsch-polnischen Kommission für regionale und grenznahe Zusammenarbeit vieles von dem, was wir uns in diesem Zusammenhang wünschen, endlich zu realisieren. Eine entsprechende Vereinbarung wurde im Juni dieses Jahres unterzeichnet. Aufgabe der Kommission, die ihre Arbeit bereits aufgenommen hat, muss es sein, die grenzüberschreitende Zusammenarbeit der Regionen, der Städte und Gemeinden und der Bürger - kurzum: die grenzüberwindende Initiative „von unten" -zur selbstverständlichen Normalität zu machen.

Ich begrüße in diesem Zusammenhang das ganz besondere Engagement unserer neuen grenznahen Bundesländer für diese Zusammenarbeit. Ich würdige an dieser Stelle insbesondere den großen persönlichen Einsatz von Ministerpräsident Gomolka als Polenbeauftragtem der Bundesländer sowie der Ministerpräsidenten Stolpe und Biedenkopf.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem Bündnis 90I GRÜNE - Zustimmung des Abg. Markus Meckel [SPD])

In diesem Zusammenhang will ich auf eine besonders dringende Aufgabe hinweisen, nämlich auf das Thema grenzüberschreitender Umweltschutz. Wer sich die extrem hohen Umweltbelastungen im oberschlesischen Industriegebiet oder in den Grenzgewässern vor Augen fuhrt, kann sich eine Vorstellung davon machen, wie groß diese Aufgabe ist. Mit der Gründung eines Umweltrates mit Polen, wie es ihn sonst nur mit unserem Nachbarn Frankreich gibt, haben wir ein Instrument geschaffen, um gemeinsam mit unseren polnischen Partnern diese Aufgabe zu losen.

Am 17. Juni dieses Jahres habe ich mit Ministerpräsident Bielecki den Vertrag über gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit unterzeichnet. Er gründet auf der gemeinsamen Erklärung, die ich mit Ministerpräsident Mazowiecki am 14. November 1989 in Warschau unterzeichnet hatte. Bereits mit dieser alle Bereiche der Beziehungen umfassenden Erklärung wurde das deutsch-polnische Verhältnis auf eine neue Grundlage gestellt. Mit dem Vertrag, der Ihnen heute vorliegt, werden die politischen Willenserklärungen von 1989 in den Bereich vertraglicher Verpflichtungen erhoben. Der Vertrag ist damit Grundlage und Handlungsrahmen für eine umfassende Zusammenarbeit und zukunftsgewandte Nachbarschaft beider Länder und Völker in einem zusammenwachsenden Europa. Mit diesem Vertrag setzen wir auf eine dynamische Vorwärtsbewegung zwischen unseren Völkern. Sie soll vor allem den Menschen in unseren Ländern zugute kommen. Wir werden und wollen verstärkt zusammenarbeiten in der Politik einschließlich der Sicherheitspolitik, in Wirtschaft, Wissenschaft und Technologie, im kulturellen Austausch, im Bereich der humanitären Fragen und nicht zuletzt bei der Begegnung der Menschen, vor allem der jungen Generation.

Wir knüpfen für die Zukunft ein dichtes Netz der politischen Konsultationen. Dazu gehört, dass sich die Regierungschefs jährlich treffen und im übrigen in unmittelbarem persönlichen Kontakt stehen. Diese Verabredung hat sich gerade angesichts der jüngsten Ereignisse in der Sowjetunion in den letzten Wochen bereits sehr bewährt.

Mit dem deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrag stellen wir unsere Beziehungen, die Beziehungen zwischen Deutschland und Polen, bewusst in den größeren europäischen Rahmen, der durch die „Charta von Paris" für ein neues Europa gestaltet wird. Polen hat die „Rückkehr nach Europa" in enger Partnerschaft mit Deutschland zum Kernanliegen seiner Reformpolitik gemacht. Ziel ist insbesondere die rasche Annäherung Polens an die Europäische Gemeinschaft. Diese mutige Reformpolitik Polens erfordert die Öffnung zur Gemeinschaft hin, erfordert aber auch die Abstützung durch die Gemeinschaft.

Die Bundesrepublik Deutschland hat die polnische Wirtschaftsreform von Anfang an mit bedeutenden finanziellen Leistungen unterstützt. Insbesondere leisten wir den größten Beitrag zur Lösung des Problems der polnischen Auslandsverschuldung. Natürlich können wir Deutsche - zusätzlich zu den Aufgaben, die sich uns durch die deutsche Einheit stellen - Polen nicht allein helfen, die Folgen von über 40 Jahren kommunistischer Misswirtschaft zu überwinden. Gefordert sind die Hilfe und die Unterstützung seitens aller westlichen Industrieländer, vor allem auch der Europäischen Gemeinschaft.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD)

Aber wir Deutschen stehen als größter Handels- und Wirtschaftspartner in einer besonderen Verantwortung, Polen den Weg zur Europäischen Gemeinschaft zu erleichtern; genau dies sagen wir auch im Nachbarschaftsvertrag zu.

Ich freue mich, feststellen zu können, dass wir dabei mit unseren Partnern in der Europäischen Gemeinschaft übereinstimmen. Der Europäische Rat in Luxemburg und die kürzlich gefassten Beschlüsse beim EG-Außenministertreffen haben dieses Ziel noch einmal unterstrichen. Dabei wurde einmütig gefordert, die Assoziierungsverträge mit Polen wie auch mit Ungarn und der CSFR bald, d.h. in den nächsten Monaten, fertig zu verhandeln. Diese Reformstaaten erwarten zu Recht, dass die Staaten der Gemeinschaft ihnen rasch und wirksam entgegenkommen. Angesichts mancher banger Erwartungen für die nächsten Monate, insbesondere für den kommenden Winter, kann ich nur unterstreichen: Wer jetzt schnell hilft, hilft in der Tat doppelt.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD)

Ich begrüße ganz besonders, dass die geplanten Assoziierungsabkommen auch den politischen Dialog der Europäischen Gemeinschaft mit den Reformstaaten verankern. Mit den Assoziierungsverträgen wollen wir ihnen zugleich die Perspektive eröffnen, dann, wenn die Voraussetzungen gegeben sind, der Europäischen Gemeinschaft beizutreten. Auch mit diesen Ländern wollen wir dann in einer größeren Europäischen Union zusammenleben. Es muss Ziel vernünftiger deutscher Politik sein, dass die zukünftige wirtschaftliche und politische Union Europas nicht an den Ostgrenzen Deutschlands endet, sondern dass wir darüber hinaus unsere östlichen und südöstlichen Nachbarn einbeziehen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Auch auf dem Gebiet der Sicherheitspolitik will Polen Teil des neuen, ungeteilten Europas sein. Wir wollen dieses Bestreben unterstützen. Polen sieht, wie auch andere Staaten Mittel-, Ost- und Südosteuropas, im Nordatlantischen Bündnis einen unverzichtbaren Stützpfeiler der europäischen Sicherheitsarchitektur. Präsident Walesa hat dies vor kurzem bei seinem Besuch bei der NATO sehr deutlich gemacht. Er hat sich zur Wertegemeinschaft der Demokraten bekannt. Er hat den Sicherheitsverbund zwischen Europa und Nordamerika als unerlässlich bezeichnet, um auch Polens Sicherheit zu gewährleisten. Ich begrüße diese Aussage. Wir wollen Polen wie auch die anderen mittel-, ost- und südosteuropäischen Staaten dabei unterstützen, enge und vertrauensvolle Beziehungen zu unserem Bündnis zu entwickeln.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie vereinzelt bei der SPD)

Einen weiteren Meilenstein auf dem Weg nach Europa wird Polen hinter sich gelassen haben, wenn es nach den ersten vollständig demokratischen Sejm-Wahlen im Herbst dem Europarat beitritt. Diese erste freiheitliche europäische Organisation verkörpert in besonderem Maße das kulturelle und rechtsstaatliche Erbe unseres Kontinents. Mit der Ratifikation der Europäischen Menschenrechtskonvention wird Polen sich zu dieser Tradition bekennen.

Im Geiste des neuen Europas regelt der Nachbarschaftsvertrag auch eine Frage, die die deutsch-polnischen Beziehungen lange Zeit belastet hat: die Frage der Minderheiten. Dieses für uns, die Bundesregierung, bei den Verhandlungen zentrale Anliegen ist im Nachbarschaftsvertrag zukunftsweisend und vorbildlich geregelt. Wer sich an die Zwischenkriegszeit oder aber an die Zeit seit 1945 erinnert, kann ermessen, was es bedeutet, dass die deutsche Minderheit in Polen jetzt förmlich anerkannt und dass ihre Entfaltung in der angestammten Heimat nach europäischem und internationalem Rechtsstandard gewährleistet und gefördert wird. Gleiche Rechte gelten selbstverständlich für die bei uns wohnenden polnischen Bürger.


Zukunftsweisende Regelung nach europäischem Standard bedeutet:

Erstens: Wichtige KSZE-Dokumente, vor allem das Abschlussdokument der Kopenhagener Menschenrechtskonferenz, die ihrer Natur nach politisch verbindliche Erklärungen sind, werden im deutschpolnischen Verhältnis in den Rang völkerrechtlicher Verpflichtungen erhoben.

Zweitens: Die Standards aller wichtigen internationalen und europäischen Menschenrechtskonventionen sind vom Vertrag mit umfasst. Und der Vertrag berücksichtigt auch schon weitere europäische Entwicklungen, die zu erwarten sind. Ich denke an die künftigen KSZE-Dokumente, die dabei von großer Bedeutung sein werden.

Drittens: Deutsche und Polen entwickeln mit ihrem Nachbarschaftsvertrag den europäischen Standard weiter, etwa mit dem Recht der Minderheit auf gleichberechtigten Zugang zu den Medien ihrer Region und mit der Verpflichtung der Staaten, Fördermaßnahmen der jeweils anderen Seite zu ermöglichen und zu erleichtern.

Viertens: Mit dem Nachbarschaftsvertrag geben wir der gesamteuropäischen Entwicklung der Menschen- und Minderheitenrechte einen deutlichen Impuls. [...]

Lassen Sie mich in diesem Zusammenhang noch feststellen, dass der Nachbarschaftsvertrag auf polnischer Seite wie bei uns unmittelbar - ich unterstreiche dies: unmittelbar - in innerstaatliches Recht umgewandelt wird. Jedermann kann sich wirksamer Rechtsmittel zur Durchsetzung seiner Rechte bedienen.

Nicht zuletzt ist die Minderheitenfrage Gegenstand der vereinbarten politischen und diplomatischen Konsultationen. Sie steht damit -wann immer es notwendig ist - auf der Tagesordnung der jährlichen Treffen der Regierungschefs.

Weitere Verbesserungen des Status der Minderheiten sind aus unserer Sicht wünschenswert. Einige werden sich im weiteren Fortgang des KSZE-Prozesses herausbilden. Andere sind im Briefwechsel der Außenminister konkret angesprochen: offizielle topographische Bezeichnungen in deutscher Sprache, Mitwirkung von Vertretern der Minderheiten an sie betreffenden Entscheidungen und Niederlassungsmöglichkeiten für Deutsche in Polen; hier werden sich im Zuge der Annäherung Polens an die Europäische Gemeinschaft Lösungen abzeichnen, die hilfreich sind für eine gute gemeinsame Zukunft.

Im Briefwechsel der Außenminister ist auch festgehalten, dass sich der Vertrag nicht mit Fragen der Staatsangehörigkeit und nicht mit Vermögensfragen befasst. Ich bin überzeugt, dass die in Polen lebenden Deutschen - wie längst die bei uns lebenden Polen - bereits auf der Grundlage des Vertrags umfassende Möglichkeiten zur Wahrung ihrer Identität haben, Möglichkeiten, an die sie selbst noch vor kurzer Zeit kaum glauben konnten.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie des Abg. Markus Meckel [SPD])

Jetzt gilt es, diese Chancen ganz konkret zu nutzen.

Auch über diesen Vertrag hinaus beobachten wir positive Entwicklungen: So gibt es inzwischen in Polen deutschsprachige Radiosendungen, so ist die Nachfrage nach Deutschunterricht in Polen sprunghaft gestiegen. Für die deutsche Minderheit - wie auch für Polen allgemein - werden sehr viel mehr Deutschlehrer benötigt, als wir zur Verfügung stellen können.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie des Abg. Markus Meckel [FDP])

[...] Nicht zuletzt ist in dieser Aufzählung positiver Entwicklungen zu nennen: Die deutsche Minderheit wird bei den ersten vollständig demokratischen Sejm-Wahlen im Oktober mit eigenen Kandidaten antreten können und auch antreten. Dies alles fügt sich zu einem Gesamtbild: Der Nachbarschaftsvertrag schließt in der Frage der Minderheiten ein leidvolles Kapitel der Geschichte ab und spiegelt einen neuen Geist in den Beziehungen unserer Länder und Völker wider.

In neuem Geiste haben wir auch die Türen für die Begegnung der Menschen, insbesondere der jungen Generation, weit geöffnet. Zusammen mit dem Nachbarschaftsvertrag wurde das Abkommen über die Errichtung des deutsch-polnischen Jugendwerks unterzeichnet. Wir wollen damit an die hervorragenden Erfahrungen mit dem deutschfranzösischen Jugendwerk anknüpfen. Wir wollen durch vielfältige Begegnung und gemeinsame Erfahrungen der Jugend unserer Völker die deutsch-polnische Aussöhnung fest in der jungen Generation verankern und damit - das ist entscheidend - unumkehrbar machen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Der Nachbarschaftsvertrag setzt im übrigen auf breitgefächerten Austausch: in Kultur und Wissenschaft, in der Wirtschaft und auf dem Gebiet der beruflichen Aus- und Fortbildung und nicht zuletzt auch bei den Streitkräften. Wer hätte sich vor wenigen Jahren vorstellen können, dass deutsche und polnische Soldaten gemeinsam nach Lourdes pilgern und gemeinsam am Jugendtreffen in Tschenstochau teilnehmen?

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Ich begrüße gerade auch in diesem Zusammenhang die enorme Zunahme der Städtepartnerschaften, insbesondere in den neuen Bundesländern. Ich nenne als ein besonders gutes Beispiel den kürzlich unterzeichneten Partnerschaftsvertrag der beiden Hauptstädte Berlin und Warschau.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Deutsche und Polen haben ihren unverwechselbaren Beitrag zum kulturellen Erbe Europas geleistet. Mit einem umfassenden Kulturaustausch ohne die Fesseln des vergangenen Systems, mit der Eröffnung von Kulturinstituten, der Verstärkung des Sprachunterrichts und vielem anderen mehr öffnen wir die Tore für mehr Verständnis untereinander. Wir wissen, dass dies auch eine grundlegende politische Bedeutung hat, die wir gerade angesichts der leidvollen deutsch-polnischen Geschichte gar nicht hoch genug einschätzen können. Wer die geistigen und kulturellen Leistungen anderer Völker, vor allem auch der Nachbarn, kennt und achtet, ist gegen Rückfälle in ideologische Verblendung und nationale Überheblichkeit gefeit.

Der Nachbarschaftsvertrag regelt ein humanitäres Anliegen, das uns viele Jahrzehnte schmerzhaft bewusst gewesen ist, jetzt in einem versöhnenden Geist: Er stellt die Gräber, insbesondere auch alle Opfer der Kriege und Gewaltherrschaft, unter den Schutz der Gesetze. Er ermöglicht, dass sie gepflegt und erhalten werden können. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass gerade dann, wenn sich Deutsche und Polen im Gedenken an ihre Toten zusammenfinden, Versöhnung gestiftet werden kann.

Der Bundesregierung ist bewusst, dass seit Jahren im Deutschen Bundestag und in der Öffentlichkeit beider Länder über ein menschliches und moralisches Anliegen nachgedacht wird, das in der schrecklichen Kriegszeit wurzelt. Es geht darum, polnischen Bürgern, die unter nationalsozialistischen Verfolgungsmaßnahmen besonders schlimm zu leiden hatten, wenigstens eine gewisse materielle Entschädigung zu bieten. So ist die Errichtung einer eigenen Stiftung vorgeschlagen. Die Bundesregierung steht hierzu mit der polnischen Regierung in Verbindung und wird dem Deutschen Bundestag sehr bald Lösungsmöglichkeiten vorschlagen. Schon jetzt möchte ich aber betonen, dass es dabei nur um eine Entschädigung in ausgesprochenen Härtefallen gehen kann.

Ferner verweise ich darauf, dass in den Gesamtzusammenhang des deutsch-polnischen Vertragswerks, über das wir heute beraten, auch das Abkommen über soziale Sicherheit gehört. Auch dieses Abkommen schlägt auf dem wichtigen Gebiet der Renten und sonstigen Sozialversicherungsleistungen den in Europa üblichen Weg ein: jeder erhält Rente von dort, wo er seine Rechte erworben hat. Das Abkommen wird noch in diesem Jahr in Kraft treten.

Die Bundesregierung ist sich bewusst, dass das deutsch-polnische Vertragswerk, das wir heute beraten, von nicht wenigen unserer Landsleute nicht leichten Herzens akzeptiert wird. Dies gilt insbesondere für diejenigen, die durch Flucht und durch Vertreibung ihre Heimat jenseits von Oder und Neiße verloren haben.

Jeder, der sich die jahrhundertelange Geschichte des deutschen Ostens vor Augen hält, weiß um die schmerzvollen Gefühle, die in der tiefen Verbundenheit mit der alten Heimat - in Schlesien, in Ost- und Westpreußen, in Pommern und Danzig - wurzeln. Gerade in dieser Stunde gilt diesen Mitbürgern unsere besondere Achtung und herzliche Verbundenheit.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und der SPD)

Auch in den Präambeln der beiden Verträge ist ihrer im Geist der Versöhnung gedacht.

Ich nehme erneut die Gelegenheit wahr, in dieser Stunde die große moralische Kraft, mit der die Heimatvertriebenen bereits 1950 in ihrer „Charta von Stuttgart" auf Rache und Vergeltung verzichtet haben, zu würdigen. Sie sind damit schon frühzeitig einen ersten großen Schritt zur Versöhnung mit unseren östlichen Nachbarn vorangegangen. Sie haben sich in dieser Charta auch zur Einigung Europas bekannt. Es ist heute für uns eine beglückende Erfahrung dass sich gerade auf dem Weg beider Völker zum vereinten Europa Lösungen abzeichnen, die ein wichtiges Anliegen dieser Mitbürger der Erfüllung näherbringt: beim Wiederaufbau ihrer alten Heimat mitwirken zu können.

Dank dem Nachbarschaftsvertrag sind wir zudem mehr als bisher in der Lage, uns für die dort verbliebenen Deutschen einzusetzen. Diese Menschen haben in der Kriegs- und Nachkriegszeit großes Leid erdulden müssen. Sie können zu Recht unsere Solidarität erwarten. Die von mir geführte Bundesregierung ist deshalb entschlossen, alles in ihren Kräften Stehende zu tun, dass diesen Menschen ihr Los erleichtert wird, damit sie für sich, für ihre Kinder, für ihre eigenen Familien in der angestammten Heimat eine lohnende Zukunft sehen.

Der Nachbarschaftsvertrag ermöglicht es auch, Orte und Kulturgüter in den Heimatgebieten, die von deutschen geschichtlichen Ereignissen, von kulturellen und wissenschaftlichen Leistungen zeugen, zu erhalten. Ja, der Vertrag ruft geradezu dazu auf, auf diesem Gebiet gemeinsame deutsch-polnische Initiativen zu ergreifen. Wir sollten uns auch dieser Aufgabe in Solidarität intensiv widmen. Insbesondere zähle ich dabei auf das Engagement der Heimatvertriebenen, sowohl bei der Pflege des gemeinsamen kulturellen Erbes als auch bei den vielfältigen Aufgaben auf humanitärem und sozialem Gebiet.

Lassen Sie mich auch in dieser Stunde und an dieser Stelle den vielen Persönlichkeiten, Gruppen und Organisationen danken, die sich in schwierigen Jahren angesichts zunächst unüberwindlich scheinender politischer und psychologischer Barrieren dafür eingesetzt haben, den Teufelskreis von Unrecht, Rache und Gewalt zu durchbrechen und die deutsch-polnische Verständigung und Versöhnung auf einen guten Weg zu bringen.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD)

Ich stehe nicht an und möchte die Gelegenheit nutzen, Ihnen, Herr Kollege Brandt, dabei meinen besonderen Respekt zu bezeugen.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP, der SPD und dem Bündnis 90/GRÜNE)

Unser besonderer Dank gehört auch dem Beitrag, den die Kirchen beider Länder zur Versöhnung geleistet haben. Unvergessen bleibt das bewegende Schreiben, das die katholischen Bischöfe Polens beim II. Vatikanischen Konzil 1965 an ihre deutschen Amtsbrüder gerichtet haben: „Im alterchristlichsten und zugleich sehr menschlichen Geist strecken wir unsere Hände zu Ihnen hin: Wir gewähren Vergebung und bitten um Vergebung." Und die deutschen Bischöfe antworteten: „Eine Aufrechnung von Leid und Unrecht kann uns freilich nicht weiterhelfen . . . Wir bitten um Verzeihung."

In demselben Jahr erleichterte die Evangelische Kirche mit ihrer Denkschrift den Weg zur Versöhnung der Menschen und zur politischen Verständigung der Staaten. [...] Ich danke auch den vielen Bürgern, die in den schwierigen Jahren des Kriegsrechts bis heute ganz praktisch tätige Nächstenliebe bewiesen haben.

Deutsch-polnische Versöhnung kann nicht durch Regierungen verordnet oder durch Vertragspflichten begründet werden. Im Gegenteil, das Werk der Versöhnung kann nur gelingen, wenn unsere beiden Volker sich dazu bekennen, wenn jeder Deutsche und jeder Pole es auch als seine persönliche Aufgabe annimmt. Mit dem Vertragswerk haben die Regierungen das Feld bereitet für gute Nachbarschaft, enge Partnerschaft, freundschaftliche Zusammenarbeit.

Selten zuvor hat eine Bundesregierung ein Vertragswerk ins parlamentarische Verfahren eingebracht, zu dessen Inhalt sich der Deutsche Bundestag bereits zuvor so umfassend und zustimmend geäußert hat: Ich erinnere an die überwältigende Mehrheit, mit der der Deutsche Bundestag am 21. Juni 1990 seine Entschließungen über die endgültige Bestätigung der deutsch-polnischen Grenze verabschiedet hat, und ich erinnere an das einstimmige Votum, mit dem sich der Deutsche Bundestag am 16. November 1989 die deutsch-polnische Gemeinsame Erklärung zu eigen gemacht hat. Ich bitte Sie, aus dem Geist dieser Gemeinsamkeit heraus zu einem möglichst einmütigen Votum über das vorliegende Vertragswerk zu kommen. Eine solche Entscheidung würde weit über den Tag hinaus unseren parteiübergreifenden Konsens in einer Grundsatzfrage bekunden, an der hierzulande und auch weltweit der politische Wille und die moralische Statur des vereinten Deutschlands gemessen wird: an unserem Verhältnis zum Nachbarn Polen.

(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP, der SPD und dem Bündnis 90/GRÜNE)

 

Quelle: Deutscher Bundestag. Plenarprotokoll 12/39, 6. September 1991.