Liebe Traudel, liebe Familie Herrhausen,
Exzellenzen,
meine sehr verehrten Damen und Herren!
Wir haben uns hier im Dom zu Frankfurt versammelt, um Abschied zu nehmen von Alfred Herrhausen. Es ist die Stunde des Abschieds und die Stunde des Dankes - des Dankes an den Freund, den Weggefährten, den Kollegen, den Partner in vielen Begegnungen. Alfred Herrhausen gehörte - wie viele von uns - einer Generation an, die das Leid des Krieges und die Schrecken der Gewaltherrschaft noch miterlebt hat: Im Kindesalter zwar, aber doch schon sehr bewusst. Wir alle haben uns damals geschworen: "Nie wieder" - in diesem Geist wurde unsere Republik aufgebaut - der freieste und friedlichste Staat, den die Deutschen je hatten. Die Väter und Mütter unseres Grundgesetzes wollten eine wehrhafte Demokratie: Eine Demokratie, die sich ihren Feinden nicht schutzlos ausliefert. Aber ich frage mich immer häufiger, und ich frage uns alle: Begreifen wir eigentlich noch, was das heisst: Freiheit, Demokratie, Herrschaft des Rechts? Sind wir wirklich fähig zu ermessen, wie unendlich kostbar diese Güter sind? Es sind Güter, für die viele Menschen - bekannte und unbekannte - ihre persönliche Existenz eingesetzt haben. In unserer jüngeren Geschichte waren es die mutigen Männer und Frauen des 20. Juli 1944. Heute sind es tapfere Menschen in Polen und in Ungarn, in der CSSR und in der DDR. Die erste deutsche Demokratie wurde zerrieben zwischen den Extremen von links und rechts. Die zweite deutsche Demokratie darf nicht ersticken an Sattheit, geistiger Trägheit und moralischer Gleichgültigkeit.
Alfred Herrhausen war einer von denen, die diese Gefahr erkannt haben. Er, der erfolgreiche Unternehmer, wusste, dass der Mensch eben nicht vom Brot allein lebt und dass sich - jenseits von Angebot und Nachfrage - für jeden von uns die Frage nach einem sinnerfüllten Leben und unserer Verantwortung in der Welt stellt. Er war ein Bürger dieser Republik - und er war stolz darauf. In diesem Sinne hat er bekannt: "Ich bin stolz auf das, was hier in der Bundesrepublik Deutschland geschehen ist." Für ihn war die Bezeichnung "Bürger" ein Ehrentitel - kein Freibrief für den Rückzug ins Private. Er wusste, dass die Republik vom Engagement ihrer Bürger lebt. Er war ein überaus erfolgreicher Bankier - aber keiner von denen, die nur ihren Vorteil im Auge haben. Er wollte - nach seinen eigenen Worten - "Die Möglichkeit haben zu gestalten, und dazu braucht man natürlich ein gewisses Mass an Einfluss. Sonst geht das nicht. Mein Motiv ist das Bemühen, einen optimalen Sachbeitrag zu leisten." Das war Alfred Herrhausen - so dachte er. Die wirklichen Ausbeuter unserer Tage sind jene, die mit der Angst, mit dem Neid, mit dem Ressentiment ihre Geschäfte machen. Es stimmt etwas nicht in unserer Gesellschaft, wenn führende Repräsentanten von Wirtschaft, Politik und anderen Bereichen systematisch zur Zielscheibe gemacht werden - zunächst im übertragenen, und dann im wörtlichen Sinne.
Ich frage mich, und ich frage uns alle: Was ist los mit den Deutschen hier in der Bundesrepublik? Wir geniessen in nie gekanntem Maße Freiheit, Frieden und Wohlstand - und dennoch stehen wir immer wieder an den Särgen von Menschen, die von den Feinden unserer Republik brutal ermordet wurden. Auch das haben wir ja schon zu Zeiten der ersten deutschen Demokratie erlebt: Dem Mord geht der Rufmord voraus - die Verhöhnung, die Verächtlichmachung, die Diffamierung. Hervorragende Menschen werden zu "Symbolfiguren" erniedrigt. Sie werden zum Objekt eines gnadenlosen
Hasses gemacht. Aus dem Blickwinkel ihrer Mörder verschwindet ihr menschliches Antlitz hinter einer Wand von Diffamierung und Wahnvorstellungen. Jene, die für diese Barbarei verantwortlich sind, geben dabei vor, im Namen der Humanität zu handeln. In Wahrheit ist ihr Denken zutiefst anti-human. Es ist Ausfluss eines schrankenlosen Zynismus, eines trostlosen Nihilismus. Ihnen fehlt der Mut und das Stehvermögen, mit offenem Visier für ihre Überzeugung einzutreten. Ihre Waffe ist nicht das friedliche Wort, sondern der heimtückische Hinterhalt. Sie sprechen vom "Widerstand" - und missbrauchen damit ein Wort, das durch das Blut von Märtyrern geheiligt ist. Ich erinnere in dieser Stunde bewusst an die vielen Opfer terroristischer Gewalt, die wir seit 1974 zu beklagen hatten: Günter von Drenkmann, Heinz Hillegaart und Andreas von Mirbach, Siegfried Buback, Jürgen Ponto, Hanns Martin Schleyer, Ernst Zimmermann, Karl Heinz Beckurts, Gerold von Braunmühl. Zusammen mit ihnen mussten viele ihr Leben lassen, die sie zu ihrem Schutz oder aus anderen Gründen begleiteten: Sicherheitsbeamte, Polizeibeamte und Fahrer.
Jetzt ist auch Alfred Herrhausen ein Opfer der Unmenschlichkeit geworden. Die Wahrheit ist: Gerade eine freiheitliche Demokratie braucht Leistungseliten: Männer und Frauen, denen die Pflicht über den eigenen Vorteil geht, Männer und Frauen, die den Mut zur Verantwortung haben. Die Mörder von Alfred Herrhausen wussten, dass Persönlichkeiten wie er das Rückgrat unserer Republik bilden. Solche Persönlichkeiten gibt es bei uns glücklicherweise in grosser Zahl - namhafte und namenlose. Hier, in diesem Dom, haben Worte wie Gnade, Versöhnung und Barmherzigkeit besonderes Gewicht. Aber ich sage ebenso klar: Es ist die Pflicht eines jeden Christen, seinen Nächsten zu schützen. Und das bedeutet auch: Terroristische Gewalttäter dürfen nicht den Eindruck gewinnen, dass unserem Rechtsstaat die innere Kraft zur Selbstbehauptung fehlt. Machen wir uns keine illusionen: Sie missverstehen Gesten der Großmut als Zeichen der Schwäche. Wir alle müssen energisch jedem widersprechen, der unsere Republik verächtlich macht. Wir beugen uns nicht dem Hass und der Gewalt! Ich fordere sie alle auf: Erfüllen wir mutig und mit Überzeugung unsere Pflicht als Staatsbürger und als Christen - auch wenn wir wissen, dass wir deshalb leicht zur Zielscheibe des Hasses werden. Das schulden wir Alfred Herrhausen, und wir schulden es den vielen anderen, die vor ihm ermordet wurden.
Dies ist die Stunde des Abschieds von Alfred Herrhausen. Und viele von denen, die hier sind, erinnern sich an ihre Begegnungen mit ihm, an Begegnungen mit einer ungewöhnlichen Persönlichkeit. Sein Bild in der Öffentlichkeit - es war immer bestimmt vom Erfolg, vom steilen Aufstieg in wichtigste Funktionen unserer Gesellschaft, unserer Wirtschaft im nationalen und im internationalen Feld. Was oft nicht gesehen wurde: Dieser Erfolg war ein Ergebnis harter, zäher Arbeit. Ja: Alfred Herrhausen hatte auch Fortune, aber kannte auch die Begleiterscheinungen jeden Erfolgs: Neid, Missgunst und Ablehnung. Er kam von der Ruhr. Die Menschen, die unverwechselbare Atmosphäre dieser Landschaft blieben ihm immer vertraut. Wer ihn je einmal erlebte - etwa im Gespräch mit dem Ruhrbischof Kardinal Hengsbach, wo es um die Frage ging: "Was können wir tun, um dieser Region und den dort lebenden Menschen zu helfen?" -, der weiss: Dies war seine Heimat. So war denn auch eine seiner Initiativen, der er besonders viel Kraft widmete, dem Ruhrgebiet gewidmet. Unternehmer zu sein, das hieß für ihn: Wissen um die Pflicht zu verantwortlichem Handeln. Der Satz "Wer Rechte hat, der hat auch Pflichten" war für ihn ganz selbstverständlich. Blosses "Job-Denken" war seine Sache nicht. Er war erfolgreich im Beruf, und das erschien vielen selbstverständlich. Aber die Verantwortung für das Ganze, für das Vaterland, gehörte bei ihm immer dazu. Vaterland, das war für ihn nicht Enge oder gar Beschränktheit. Vaterland, das bedeutete ihm sowohl Heimat als auch Weltoffenheit. So war er denn ein deutscher Patriot und Weltbürger zugleich.
Er war ein kundiger Mann der Wirtschaft - ein überzeugter Verfechter, ja Kämpfer für die großartige Idee der Sozialen Marktwirtschaft. Marktwirtschaft, das hieß für ihn: Offenheit, keine Grenzen, gelebte Freiheit. Und das Soziale war für ihn ebenso selbstverständlich - aus seiner Herkunft, aus seiner Lebenserfahrung, aus den ethischen Grundlagen seines Denkens heraus. Verpflichtung für den Nächsten, das meinte bei ihm nicht nur den Nachbarn, das eigene Land, es meinte immer auch die weite Welt. Wer ihn in den letzten Jahren auf Kongressen und Tagungen erlebt hat in seinem Kampf für die armen und ärmsten Länder dieser Erde, für die Dritte Welt, wenn es darum ging, Schulden zu erlassen, Umschuldungsprobleme zu lösen, der weiß: Sein Denken war nicht auf das rein Ökonomische beschränkt. Es war immer auch geprägt von sozialer Überzeugung. Er hat die ihm gestellten Aufgaben mit Sachverstand, mit einer ungewöhnlichen intellektuellen Brillanz angepackt. Er hatte eine Vision, für die er kämpfte - manchen Zeitgenossen weit voraus. Seine ständige Warnung an sich und andere lautete: Wir müssen fehlerhaftes Denken vermeiden, damit verantwortliches Handeln möglich wird. Er hatte große Erfolge, und er wusste dies. Aber er war überhaupt kein "Erfolgsmensch". Er litt unter Angriffen. Er war im Inneren verletzbar. Er kannte und suchte die eigenen Grenzen. Und die Frage "Wie kann ich es schaffen?" stellte er, der so erfolgreiche, sich oft. Mit ungewöhnlicher Selbstdisziplin meisterte er seine Aufgaben. Sicherlich gehen heute nicht nur meine Gedanken zurück zu der Zeit vor etwas über einem Jahr, als er sich einer schweren Operation unterziehen musste. Wer es erlebt hat, wie er darum kämpfte, so schnell wie möglich das alles zu überwinden, der hat auch eine Vorstellung davon, mit welch einer Willenskraft Alfred Herrhausen auch sein persönliches Schicksal zu meistern vermochte.
Sein heimliches Fach war die Philosophie. Philosophieren, philosophierend sprechen, das mochte er. Er war auch ein musischer Mensch. Die Welt der Musik und der bildenden Künste - sie gehörte zu seinem geistigen Zuhause. Und er war ein treuer Freund, ein guter Kamerad. Er liebte das Leben, das ganze Leben. Er konnte herzlich lachen, sich mit einem jungenhaften Charme freuen. Viele von uns erinnern sich mit Dankbarkeit an solche Stunden. Wir haben ihm viel zu danken - ich selbst für viele Jahre der Freundschaft, für Rat und Hilfe.
Liebe Traudel, Dir und den Deinen gehört in dieser Stunde unsere herzliche Sympathie. Ich weiss, dass Worte in diesem Augenblick und vor diesem Sarg wenig vermögen. Aber vielleicht hilft es Dir und den Deinen, diese Welle der Zuneigung und Sympathie zu spüren. Wir wünschen Dir von Herzen Kraft und Gottes Beistand in diesen Abschiedsstunden. Wir nehmen Abschied von einem guten Freund, von einer der großen Gestalten unserer Zeit in unserem Lande.
Alfred Herrhausen hat sich um das Vaterland verdient gemacht.
Quelle: Bulletin des Presse- und Informationsamtes der Bundesregierung (Nr. 139-89)