7. Juni 1995

Vortrag anlässlich der Verleihung der Ehrendoktorwürde an der Ben-Gurion-Universität in Sede Boqer/Negev

 

Herr Außenminister,
Herr Rektor der Universität,
Magnifizenzen,
meine Herren Professoren, Studenten, Schülerinnen und Schüler,
meine sehr verehrten Damen und Herren,

ich danke Ihnen für die große Ehrung, die mir heute zuteil wird. Es ist für mich ein bewegender Augenblick, dass wir uns hier gemeinsam am Grab David Ben Gurions versammeln und ich hier die Ehrendoktorwürde entgegennehmen darf. David Ben Gurion gehört zu den großen Staatsmännern, den prägenden Gestalten dieses Jahrhunderts. Sein Name steht weltweit für eine großartige Generation von Männern und Frauen, die den Staat Israel aufgebaut haben. Für uns Deutsche verbindet sich mit seinem Namen nicht zuletzt die Erinnerung an die entscheidenden Schritte der Annäherung zwischen dem Staat Israel und der Bundesrepublik Deutschland.

Vor 50 Jahren ging der vom nationalsozialistischen Regime in Deutschland entfesselte Zweite Weltkrieg zu Ende. Zugleich endete die Shoah - ein Verbrechen, das in der Geschichte ohne Beispiel ist. Nur noch ganz wenige können sich heute wirklich vorstellen, welch menschliche Größe, welcher Mut dazu gehörte, schon wenige Jahre später von jüdischer Seite wieder auf Deutschland zuzugehen. Ich weiß, dass in diesen Tagen - 50 Jahre danach - bei vielen Menschen Wunden wieder zu schmerzen beginnen, die längst verheilt schienen. Es gibt Wunden, die nie verheilen. Deshalb gilt unsere besondere Achtung den Überlebenden der Shoah. Ihr Zeugnis ist für uns alle und vor allem für uns Deutsche eine bleibende Mahnung.

Ich erinnere an die historischen Begegnungen Nahum Goldmanns 1951 in London und David Ben Gurions 1960 in New York mit Konrad Adenauer. Nahum Goldmann und David Ben Gurion waren bereit, nur zu verständliche Gefühle der Bitterkeit und Ablehnung mit Menschlichkeit zu überwinden. Wie Konrad Adenauer waren sie von dem Willen beseelt, über die Abgründe der Vergangenheit Brücken zu bauen, um gemeinsame Wege in die Zukunft zu finden.

Ben Gurion hat dies vor 35 Jahren so formuliert: „Ich gehöre einem Volk an, das die Vergangenheit nicht vergessen kann. Wir denken an die Vergangenheit nicht, um darüber zu brüten, sondern um sicher zu gehen, dass sie sich nicht wiederholt." Dieser Grundsalz hat seither all jene Männer und Frauen geleitet, die sich für den Ausbau der deutsch-israelischen Beziehungen eingesetzt haben. Dieser Grundsatz bleibt weiterhin gültig.

In seiner Erklärung vom 27. September 1951 vor dem Deutschen Bundestag bezeichnete es Konrad Adenauer in feierlicher Form als „vornehmste Pflicht des deutschen Volkes", im Verhältnis zum Staate Israel und zum jüdischen Volk den „Geist wahrer Menschlichkeit, wieder lebendig und fruchtbar" werden zu lassen. Damit drückte er nicht nur seine persönliche Meinung aus. Diese Überzeugung und dieser Grundsatz werden vielmehr von allen demokratischen Kräften in der Bundesrepublik Deutschland geteilt.

In diesem Jahr des Gedenkens können wir auch auf 30 Jahre diplomatischer Beziehungen zwischen Israel und der Bundesrepublik Deutschland zurückschauen. In diesen drei Jahrzehnten hat Israel nicht nur schwerste Bedrohungen seiner Existenz überstanden, sondern auch in seinem inneren Aufbau eine beispiellose Entwicklung genommen.

Im Bereich der Hochtechnologie oder bei Forschung und Entwicklung hat Ihr Land einen großen Sprung nach vorn gemacht. Zugleich stand Israel vor der Herausforderung, die Integration von Hunderttausenden jüdischer Zuwanderer, vor allem aus der ehemaligen Sowjetunion, zu meistern. Israels mutige Friedenspolitik eröffnet heute neue Chancen für die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit seinen Nachbarn und macht es zu einem attraktiven Platz für ausländische und, wie ich hoffe, auch für deutsche Investoren.

Als Konrad Adenauer 1966-damals bereits im Ruhestand und in biblischem Alter - David Ben Gurion hier am Rande der Wüste erstmals besuchte, konnten beide von einer derartigen Entwicklung nur träumen. Der eine war 90. der andere 79 Jahre alt, aber sie dachten trotz - vielleicht gerade wegen - ihres Alters über den Tag weit hinaus. Ich bin ganz sicher, beide würden mit großer Genugtuung heute auf das Erreichte blicken, könnten sie nur unter uns sein. Mit Stolz und Freude könnten sie die späten Früchte ihrer Arbeit betrachten. Nach den Vereinigten Staaten von Amerika ist Deutschland für Israel heute der zweitwichtigste Wirtschaftspartner.

David Ben Gurion würde feststellen, dass seine Vision von einem starken, von einem fruchtbaren Israel Wirklichkeit wurde. Konrad Adenauer könnte mit Freude auf den heutigen Stand der Beziehungen zwischen Israel und dem mittlerweile wiedervereinigten Deutschland blicken. Die Visionäre von einst - und das sage ich vor allem den jungen Menschen, die hier sind - haben sich als Realisten von heute erwiesen.

„Dankbarkeit", so hat es der deutsche Theologe Romano Guardini einmal formuliert, „ist die Erinnerung des Herzens." Wir haben Grund, in diesem Sinne viel Dankbarkeit zu empfinden. Dankbarkeit für das, was uns durch diese beiden Männer geschenkt wurde und was so viele in unseren Völkern, Bekannte und Unbekannte, daraus zum Guten haben wachsen fassen.

In der Europäischen Union sind wir stets mit besonderem Nachdruck für die vitalen Interessen des Staates Israel eingetreten. Ich selbst halte es für entscheidend, dass die Europäische Union die Assoziierung mit Israel weiter vertieft. Ich denke dabei eben nicht nur an die ökonomischen Fragen. Ich bin vielmehr davon überzeugt, dass die politischen und vor allem auch die kulturellen Beziehungen und Bindungen zwischen Europa und Israel eine immer wichtigere Rolle spielen werden. Die europäische Kultur hat geistige Wurzeln im Judentum, genauso wie der Staat Israel historische Wurzeln in Europa hat. Dabei ist die Begegnung zwischen den Menschen von entscheidender Bedeutung. So wichtig gute offizielle Beziehungen sind, sie können auf keinen Fall die persönlichen Begegnungen zwischen den Menschen, vor allen Dingen zwischen jungen Leuten, ersetzen.

Viele Deutsche nehmen sehr engagiert Anteil am Schicksal Israels. Sie tun dies mit der Bereitschaft, sich ehrlich mit den düsteren Kapiteln in der Geschichte unseres Volkes auseinanderzusetzen, aber auch voller Bewunderung für Ihr Land, das soviel Dynamik und Vitalität ausstrahlt. Tausende deutscher Pilger, Urlauber, freiwilliger Hilfskräfte und junge Leute suchen Jahr für Jahr die Begegnung mit den hier lebenden Menschen in Israel. So ist ein dichtes Netz von persönlichen Beziehungen entstanden, das, da bin ich sicher, der eigentliche Schatz des deutsch-israelischen Verhältnisses ist und auch für die Zukunft sein wird.

Sede Boqer, dieser herrliche grüne Ort am Rande der Wüste, ist nicht immer so fruchtbar gewesen. Das, was hier entstanden ist, ist das Ergebnis von Kampf und harter Arbeit und vor allem von einem Glauben an die Zukunft und unbeirrbarem Optimismus. David Ben Gurion hatte den Traum, „die Wüste zum Blühen zu bringen". Sein Traum - und wir alle spüren es in dieser Stunde - ist hier in Erfüllung gegangen. Wenn ich von Optimismus spreche, wende ich mich besonders an Sie, liebe Studentinnen und Studenten. Sie wachsen jetzt hinein in eine Welt voll neuer Chancen und neuer Horizonte.

Natürlich weiß ich, dass wir wachsam bleiben müssen, um Rückfälle in vergangene Zeiten zu verhindern. Zugleich plädiere ich mit Leidenschaft für einen realistischen Optimismus, für eine Überzeugung, wie sie David Ben Gurion und Konrad Adenauer geprägt hat. Sie gab ihnen die Kraft, scheinbar Unmögliches Wirklichkeit werden zu lassen.

Lassen Sie uns gemeinsam, Deutsche wie Israelis, unseren Garten bebauen und ergrünen lassen: zum Wohl unserer Völker, für den Frieden, für die Freiheit, den Wohlstand und eine glückliche Zukunft in der Welt. Dazu wünsche ich uns allen Gottes Segen.

Quelle: Bulletin des Presse- und Informationsamts der Bundesregierung Nr. 50 (20. Juni 1995).